Männer als Opfer von Gewalt
Gewalt gegen Männer (durch Männer) ist eine weit verbreitete und eine zugleich weitgehend nicht wahrgenommene Realität. Sie wird von vielen Betroffenen verleugnet und nicht als soziales und schon gar nicht als politisches Problem erkannt.Gewalt und Männer
Auf der Ebene der deutschen Kriminalstatistik[1] bildet sich seit langem ab, dass zwei von drei Tatverdächtigen Männer sind. So waren beispielsweise in der neuesten verfügbaren Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) aus dem Jahre 2003 85,5 Prozent aller Tatverdächtigen von leichten, gefährlichen und schweren Körperverletzungen Männer.[2] Weil die Gewaltbereitschaft von Männern zum Standardrepertoire der herrschenden Männlichkeitsvorstellungen gehört, erscheint männliche Gewalttätigkeit als "normal". In einer Analyse der männlichen Sozialisation arbeiten Lothar Böhnisch und Reinhard Winter[3] acht Bewältigungsprinzipien des Mannseins heraus: Externalisierung, Gewalt, Benutzung, Stummheit, Alleinsein, Körperferne, Rationalität, Kontrolle. In diesen Prinzipien drückt sich aus, dass die männliche Form der Weltaneignung auf Herrschaft und Kontrolle beruht und sich in einem verhängnisvollen patriarchalen Kulturbegriff vermittelt. In immer neuen Variationen dreht sich dieser um Unterwerfung, Aneignung, Sicherheben über ein Gegebenes oder um gewaltsame Veränderung eines Gegebenen.[4]
Dies ist alles bekannt und gilt weithin als "normal". Weniger bekannt hingegen ist, dass sich die mehrheitlich von Männern ausgeübte Gewalt auch überwiegend gegen Männer selbst richtet. Mit der Ausnahme von Sexualstraftaten[5] sind Männer als Opfer bei allen Delikten in der Überzahl. "Bei Mord und Totschlag, Raub und insbesondere bei gefährlicher und schwerer Körperverletzung überwiegen männliche Opfer."[6]
Insbesondere für Jungen und junge Männer besteht ein höheres Risiko als für Mädchen und junge Frauen, Opfer von anderen Jungen oder Männern zu werden. "Die Opferziffer der männlichen 14- bis unter 18-Jährigen hat seit Mitte der achtziger Jahre um etwa das Zehnfache zugenommen, die der Mädchen um etwa das Fünffache."[7] Der Anteil ist in den Altersgruppen der 14- bis 18-jährigen und der 18- bis 21-jährigen Jungen bzw. jungen Männer am größten, wie aus der Grafik ersichtlich wird.
Auffallend an diesem Schaubild ist der Anstieg der Opferziffern bei den 14- bis 21-Jährigen im Zeitraum von 1985 bis 1999. Dies ist ein Zeichen der gesunkenen Toleranzschwelle gegenüber Gewalt und einer zunehmend bedrängten Männlichkeit. Die Erfahrung des Verletztwerdens gehört zu jedem Männerleben, insbesondere aber in und nach der Pubertät. Niederlage, Erniedrigung oder Demütigung sind tägliche Unterwerfungserfahrungen unter die Übermacht vor allem anderer Männer. Die verschiedenen Lebensbereiche, in welchen Männer vorwiegend Verletzungserfahrungen machen bzw. gemacht haben, verlaufen entlang der für ihre Entwicklung relevantenSozialisationsinstanzen wie Herkunftsfamilie, Gleichaltrigengruppe, Schule, Bundeswehr, Partnerschaft und Beruf. Deren offener Lehrplan lautet: "Männer werden systematisch dazu konditioniert, Schmerzen zu ertragen ... "[8] Sie lernen so, ihre Empfindungen von Verletzungen und das Leiden daran zu verbergen. Der Satz "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" scheint noch immer aktuell zu sein.
Gesundheitliche Folgen der Gewalt
Männer verdrängen häufig gesundheitliche Probleme. Sie gehen erst zum Arzt, wenn es nicht mehr anders geht, und sie betreiben kaum Vorsorge.[9] Die Folge dieser gesundheitlichen Vernachlässigung von Männlichkeit ist - gekoppelt mit dem Wirken von tradierten Geschlechterklischees, an denen sich das medizinische Personal orientiert -, dass die Gewalt, der Männer ausgesetzt sind, in dem seit einigen Jahren aufkommenden Diskurs um Männergesundheit ausgeklammert bleibt.[10] Sie stellt den größten Risikokomplex für die Männergesundheit dar. Der Mann wird weniger als bio-psycho-soziale Einheit auf der Basis seiner "Verletzungsoffenheit" (Heinrich Popitz) gesehen, sondern - dank urologischer und Potenzprobleme sowie Schwierigkeiten mit dem Altern[11] - als profitabel vermarktbares Wesen.
Gewalt als Geschlechterfrage
Ohne die Frauenbewegung und deren langen Kampf um die gesellschaftliche Wahrnehmung der gegen Frauen gerichteten Gewalt und die parallel verlaufende Kinderschutzbewegung gäbe es die öffentliche Beschäftigung mit der Gewalt gegen Männer nicht. Mehr als dreißig Jahre der Skandalisierung dieses Problems haben nicht nur Frauen, sondern die gesamte Gesellschaft sensibler für das Geschlechterverhältnis gemacht, speziell auch für geschlechtsbezogenes Herrschaftsgebaren, Machtmissbräuche sowie Übergriffe - und langsam nun auch für die Gewalt, der Männer ausgesetzt sind. Die Frauenbewegung ist die Initiatorin dieses Gewaltdiskurses, den sie zugleich einengt.
Selbst wenn frühe Studien zur geschlechtsbezogenen Gewalt sich nicht auf Frauen und Mädchen als Betroffene beschränkten, setzte sich im Kontext der Frauenbewegung ein Diskurs um Männergewalt an Frauen durch.[12] Insbesondere die feministische Variante der Frauenbewegung griff dabei sowohl auf universalisierende ("Alle Männer sind gewalttätig") als auch auf naturalistisch-biologisierende Denkmuster ("Frauen sind gut" und "Männer sind böse") zurück, was von einzelnen Geschlechterforscherinnen immer kritisiert worden war und noch wird.[13] Die sich vormals gesellschaftspolitisch verstehende Frauenbewegung ist inzwischen zu einer Projektebewegung[14] mutiert, deren berufspolitische Interessen um den Erhalt des Arbeitsplatzes zunehmende Bedeutung erhält. Dabei wird auf geschlechterdualistische Vorurteile zurückgegriffen, die eine vehemente Beharrungskraft zeigen und sich inzwischen auch auf der politischen Ebene finden. Das Opfer-Täter-Schema gehört "zum selbstverständlichen Grundmuster der Wahrnehmung des Geschlechterverhältnisses und seiner regierungsamtlichen Bearbeitung"[15]. So wird durch den "Aktionsplan der Bundesregierung zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen" vom Dezember 1999[16] nur der weibliche Teil der Gesellschaft für schützenswürdig gehalten. Der Teil des Planes, der Männer in den Blick nimmt, bezieht sich auf deren Täterschaft.
An dieser Ungleichbehandlung der Geschlechter zeigt sich, wie im Rahmen des kulturellen "Systems der Zweigeschlechtlichkeit"[17] mit dem Ziel, ein Geschlecht zu schützen, neuerlich alte Geschlechterzuschreibungen (der "schützenswerten Frau") konstruiert und stabilisiert werden, weil männlich und Tätersein gleichgesetzt werden. Gewalt tritt zwar empirisch überwiegend als eine männliche auf. Im Diskurs um Gewalt und Geschlecht wird aus dieser Erkenntnis jedoch die Unterstellung abgeleitet, dass alle Männer potenziell gewalttätig seien. Dieses Potenzial erhält einen Wirklichkeitsstatus: Im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird die männliche Gewalttätigkeit erwartet.
In der Perspektive der Gleichstellung der Geschlechter ergibt sich aus dem zugrunde liegenden Denk- und Handlungsmuster, das - trotz des sehr erfolgreichen frauenpolitischen Engagements während der vergangenen 35 Jahren[18] - zunehmend sexistische Züge annimmt,[19] eine verhängnisvolle Konsequenz. Im öffentlichen Diskurs um Gewalt und Geschlecht verhindern blinde Flecken, dass die Verletzbarkeit von Männern eine Chance erhält, erkannt zu werden; zudem bleiben Frauen als Täterinnen (noch) weitgehend ausgeblendet.[20]
Die soziale und politische Verleugnung der männlichen Verletzbarkeit
Gesellschaftsstrukturelle Mechanismen bewirken, dass männliche Opfer hinter der vermeintlichen Normalität verschwinden. Der Mann als Individuum steht in Konkurrenz zu anderen Männern. Innerhalb der "Siegerkultur" geht es um wenige Sieger und viele Verlierer.[21] Schamhaft verbirgt sich der Verlierer. Das Schweigen vieler Männer über die ihnen widerfahrenen Gewaltübergriffe korrespondiert mit der Schwere der Tat und dem Grad des Ausgeliefertseins. Je schlechter die soziale Position des Mannes ist, der in diesen Verhältnissen agiert, desto größer sind die Risiken, Übergriffen und Verletzungen ausgesetzt zu werden. Die "Unterlegenen" werden ihrem Schicksal überlassen und stigmatisiert.[22]
In dieser Logik stellt der Begriff des "männlichen Opfers"[23] ein kulturelles Paradox dar: Entweder gilt jemand als Opfer oder er ist ein Mann.[24] Beide Begriffe werden als unvereinbar gedacht. In einer patriarchalischen Gesellschaft scheint es strukturell widersinnig, von Männern als Opfer zu reden. Wie am Beispiel des Krieges deutlich wird, werden Männer gesellschaftlich dafür belohnt, wenn sie Gewalt anwenden, und bestraft, wenn sie sich dem entziehen.[25] "Im Kriege sprach und spricht man von 'Verlusten', wenn von gefallen Männern die Rede ist, die 'Opfer' sucht man bei den Frauen, Kindern und Alten in der Zivilbevölkerung."[26]
Obwohl Männer in der Männerkultur sich in Strukturen bewegen, die ihr Geschlecht privilegieren, sind sie - im Unterschied zur Frauenbewegung - von einer Anteilnahme am Los viktimisierter Mitmänner - Männer, die das Opfer von Gewalt wurden - weit entfernt. Es scheint vielen leichter zu fallen, sich für die Gleichberechtigung von Frauen oder die Bekämpfung der gegen Frauen gerichteten Gewalt einzusetzen als für das eigene Geschlecht.[27] Die Konfrontation mit der Erfahrung von Ohnmacht, Passivität und Opfersein von anderen Männern würde ein radikales Infragestellen des eigenen Mannseins bedeuten, was abgewehrt wird.
An der Verleugnung der Problematik beteiligen sich auch Professionelle aus dem psycho-sozialen Feld (Berater, Ärzte, Pädagogen, Sozialarbeiter und Psychotherapeuten), aber auch aus Männerprojekten.[28] "Das Tätertrauma, das der radikale
Zur Forschungslage: Männer haben alles erforscht, nur nicht sich selbst
Obwohl sich seit Jahrzehnten in der Kriminalstatistik eindeutige Hinweise darauf finden, dass in den meisten Deliktgruppen mehr Männer als Opfer vertreten sind, liegen im deutschsprachigen Raum bislang weder empirisch-repräsentative noch theoretische Studien zur Gewalt gegen Männer vor. Die Datenlage ist völlig unzureichend. Zwar fanden einzelne Aspekte von Gewaltübergriffen gegen Jungen und Männer in der Vergangenheit hin und wieder eine gewisse Aufmerksamkeit - beispielsweise in der Schulgewaltforschung.[30] Aber bei den wenigen vorliegenden Ergebnissen ist auffallend, dass der zugrunde liegende Gewaltbegriff überwiegend auf die Täter orientiert bleibt bzw. durch die potenzielle Täterschaft von Männern überlagert wird. Zudem kommt durch die Fixierung auf ein strafrechtlich relevantes Phänomen nur ein Bruchteil der gegen Männer gerichteten Gewalt in den Blick.[31] Auch ist die Scham, die über vielen Verletzungen von Männern liegt, im Rahmen der Forschung bislang kein Thema.[32]
Das Beispiel Viktimologie
Selbst in Disziplinen wie der Viktimologie, deren Forschungsgegenstand das Opferwerden bei Gewalttaten ist, erhielten männliche Opfer in der Vergangenheit keine weitere Aufmerksamkeit. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass es eine Zeit gab, in der die Viktimologie "auf der Suche war nach allen möglichen Gruppen, die 'mit ins Boot genommen werden' mussten"[33]. Inzwischen liegen entsprechende Forschungsstudien zu speziellen Opfergruppen wie z.B. Kindern und Frauen vor. Männer hingegen sind bislang keine untersuchte Opfergruppe. Diese Gruppe verkommt "zur vergessenen Figur, zum forgotten man"[34].
Die Viktimologie als eine mehrheitlich von Männern betriebene Wissenschaft bediente - wenn das Geschlecht überhaupt als Variable in Betracht gezogen wurde - bislang das Klischee, dass Opfer weiblich seien. In der kriminologisch-viktimologischen Forschung besteht hinsichtlich der Viktimisierung von Männern eine vorsätzliche Wahrnehmungslücke,[35] was sich anhand der gängigen kriminologischen Lehrbücher leicht überprüfen lässt: Die Viktimisierung von Männern ist bislang keine eigenständige Erkenntnisdimension.[36] Auch hier gilt: "Das Opfer wird instrumentalisiert. Es wird eingebaut in den Kampf gegen den Täter. Selbstverständlich wird das Opfer nicht gefragt, was es will."[37]
Die Pilotstudie "Gewalt gegen Männer"
Ein positives Zeichen dafür, dass seit kurzem das Interesse für die Viktimisierung von Männern auf einer politischen Ebene geweckt ist und die zuvor benannten verhindernden Strukturen und Mechanismen offen für langsame Veränderung zu sein scheinen, ist die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Jugend und Frauen (BMFSFJ) institutionell betreute Pilotstudie Gewalt gegen Männer.
Pilotstudie - warum jetzt?
Die Gründe dafür, dass die Studie vor drei Jahren ausgeschrieben und dann von November 2002 bis März 2004 durchgeführt wurde, sind vielschichtig und miteinander verwoben:
- Zentraler Beweggrund ist die Öffnung des bis dahin verschlossenen feministischen Blicks.[38] Die "Veränderungen der feministischen Gewaltdebatte in den letzten 30 Jahren"[39] ist eine dramatische und konflikthafte Denkgeschichte.[40] Diese hat den Boden dafür bereitet, alle Klassifizierungen, die auf biologischen Definitionen des Menschen beruhen, als Gewaltakte zu diagnostizieren, "als eine Gewalt, mit der das der jeweiligen Norm nicht zugehörige ,Andere` aussortiert wird"[41]. Damit wurde ideologisch der Boden bereitet, das "Opfermonopol" von Frauen aufzulösen und genauer auf das andere Geschlecht zu schauen.
- Eine Folge der Ausdifferenzierung der Lebenslagen und Orientierungen von Frauen und Männern und der veränderten ideologischen Überzeugungen ist ein Perspektivenwechsel, "der Männer als Zielgruppe und Verantwortliche in die Geschlechterpolitik miteinbezieht - auch, aber nicht nur, als 'Neue Väter' "[42]. Der Begriff "Gender Mainstreaming" wurde in die Politik eingebracht[43] und dient als neue Leitlinie zur Realisierung der Gleichstellung der Geschlechter.[44]
- Das vor zwei Jahren eingeführte Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt hat insbesondere bei Männern, die in häuslichen Konflikten leben oder lebten, zu einem starken Aufmerksamkeitsschub für die Perspektive auf männliche Opfer geführt.[45] Die dadurch ausgelöste wichtige Diskussion über Gewalt von Frauen gegen Männer im Rahmen von Partnerschaften greift allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der Gewalt auf, der Männer ausgesetzt sind, und überinterpretiert diesen. So entsteht der Eindruck, dass es eher um einen antifeministischen Impuls zu gehen scheint als um wirkliche Anteilnahme an der Viktimisierung von Männern.
- Ein weiterer wichtiger zeitgeschichtlicher Anstoß ist darin zu sehen, dass es hinsichtlich der NS-Zeit lange eine kollektive Verdrängung der Auseinandersetzung mit den Opfern dieser Zeit gab. Zugleich war die Beschäftigung mit der Perspektive auf Deutsche als Opfer obsolet, da viele als Täter im Faschismus agierende Personen sich hinter einer Opferrolle versteckten und keine Verantwortung für ihr eigenes Tun übernehmen wollten. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Geschehen und dem Lautwerden nichtdeutscher Opfer kam es zu einer Ausdifferenzierung der Perspektive.[46] Inzwischen sind auch die Opfer des Zweiten Weltkrieges sowohl in der Zivilbevölkerung (Luftangriffe und Vertreibung) als auch beim Militär (Kriegsgefangenschaft und Desertion) ein Thema, dem Aufmerksamkeit zukommt.[47]
- In den neunziger Jahren nahm in den Medien (insbesondere im Fernsehen) die Berichterstattung über verdeckte und verborgene Seiten der menschlichen Existenz zu. Teilweise mit voyeuristischem Beigeschmack (z.B. in Talkshows) fand eine mehr oder weniger seriöse Auseinandersetzung über deren Schattenseiten statt. Das dadurch entstandene Klima, in dem Verdrängtes ausgesprochen werden kann und das Interesse anderer Menschen geweckt wird, begünstigte die Veröffentlichung der gegen Männer gerichteten Verletzungen.
- Bildungseinrichtungen wie die Heinrich-Böll-Stiftung[48] und die Evangelische Akademie Tutzing[49] nahmen sich in den vergangenen drei Jahren der Thematik der männlichen Verletzbarkeit an und zeigten, dass in einer seriösen Weise damit umgegangen werden kann.
- Bei allem ideologischen Wandel ist eine im Durchschnitt höhere Sensibilität von Frauen gegenüber der männlichen Opferperspektive geblieben. Daran zeigt sich, dass der Abbau von patriarchalen Strukturen und Mechanismen ein zivilisatorischer Fortschritt ist und Männern die Möglichkeit bietet, mit ihrer verletzlichen Seite ernst genommen zu werden.
- Traditionelle Männlichkeit entleert sich zunehmend ihres Sinnes und wird durch gesellschaftliche Entwicklungen überholt. Männlichkeit (z.B. in der Rolle als Ernährer und Erzeuger) wird immer weniger gebraucht. Der damit einhergehende Bedeutungsverlust führt zu Verunsicherungen, ohne dass sich Männer bislang in breitem Umfang damit auseinander setzten. Die damit assoziierte Schwäche wird schamhaft abgewehrt. Eine Folge davon ist, dass bislang erst wenige Männer bereit sind, sich der gegen das eigene Geschlecht gerichteten Gewalt zu stellen. Einige wenige selbst verantwortete Angebote bieten Ansätze für Orientierung wie z.B. Projekte der Selbsthilfe.[50]
Ziel der Pilotstudie
Das Ziel der Pilotstudie besteht darin, Daten über die Gewalterfahrungen von Männern im häuslichen wie im außerhäuslichen Bereich durch die Befragung von in Deutschland ansässigen Männern zu gewinnen. Es wurde in mehreren Schritten realisiert:
Nach einer Phase der Literaturauswertung fanden bundesweit 23 qualitative Interviews mit Experten und Expertinnen aus Beratungs- und Hilfsangeboten statt. In leitfadengestützten mehrstündigen Interviews wurden 32 Männer befragt, die zur Hälfte zufällig und zur anderen Hälfte gezielt ausgewählt waren. Den Abschluss bildeten 266 quantitative Interviews mit zufällig ausgewählten Männern. Die quantitative Befragung wurde mündlich durchgeführt. In einem schriftlichen Zusatzbogen, den 190 Befragte ausfüllten, wurde spezifisch häusliche Gewalt erhoben.
Die Durchführung der Studie wurde einem außeruniversitären Forschungsverbund "Gewalt gegen Männer" übertragen.[51] Seit kurzem liegen nun die Ergebnisse unter dem Titel Personale Gewaltwiderfahrnisse von Männern in Deutschland - Abschlussbericht der Pilotstudie vor.[52]
Einblicke in die Ergebnisse der Pilotstudie
Allgemein lässt sich sagen, dass sich in der Normalität des Alltags von Männern vielfältige Zwänge finden, deren Übergänge zur Gewalt fließend sind. Das Verständnis von Gewalt[53] umfasst die Bereiche physischer, psychischer und sexualisierter Gewalt, wobei die Grenzen zwischen den einzelnen Ebenen nicht eindeutig zu ziehen sind.
Im Rahmen der Studie wurden durch die Kombination der beiden Dimensionen Lebensphasen und Kontexte die in der Tabelle aufgeführten Gewaltfelder identifiziert.
Einige Detailergebnisse:
- Männer sind vor allem in der Öffentlichkeit gefährdet, Opfer von körperlicher Gewalt, vorrangig durch andere Männer, zu werden.
- In der Arbeitswelt ergaben sich auffällig hohe Zahlen bei psychischer Gewalt durch Vorgesetzte und Kollegen. Auch hier sind vorrangig Männer die Täter.
- Innerhalb der Paarbeziehung ergab sich ein zwiespältiges Bild: Ein Viertel der Männer hat körperliche Gewalt in irgendeiner Form innerhalb der (heterosexuellen) Partnerschaft erfahren, wenige häufiger als zweimal. Dagegen ist der Bereich der sozialen Kontrolle durch die Partnerin vergleichsweise hoch.
- Deutlich wurde, dass viele Übergriffe verborgen bleiben und nicht aufgedeckt werden, weil sie entweder als "normal" gelten oder sich der Betreffende schämt. So hat keiner der Männer, die angaben, von ihrer Partnerin häusliche Gewalt erfahren zu haben, die Polizei gerufen. Es besteht die Vermutung, dass Männer über die ihnen widerfahrene Gewalt überwiegend schweigen.
- Auch über die im Kontext des Militärs erlittenen Übergriffe reden viele junge Männer nicht. Beim Militär sind im Vergleich zum zivilen Leben zahlreiche Mechanismen, die vor Gewalt schützen, eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt. Über spezielle Erziehungsprogramme wird die Tötungshemmung der Rekruten überwunden und ihre Bereitschaft geschaffen, sich in das System von Befehl und Gehorsamkeit einzufügen. Häufig ist diese Desensibilisierung eingebunden in Männlichkeitsrituale mit persönlichkeitsverändernder Wirkung.[54] "Fast ein Drittel der Befragten, die Wehrdienst geleistet haben, geben an, gezwungen worden zu sein, etwas zu sagen oder zu tun, was sie absolut nicht wollten."[55] Von vielen Soldaten wurden Gewaltübergriffe als "normal" erlebt.[56]
- Eines der für die Durchführenden der Studie bemerkenswerten Ergebnisse war die Häufigkeit und teilweise auch Intensität, mit der der Zweite Weltkrieg Spuren bei den Befragten hinterlassen hat.[57]
- Aus der Studie ergibt sich diesbezüglich eine weitere wichtige Erkenntnis: Männer sagen erst etwas zu ihren Gewalterfahrungen, wenn sie danach gefragt werden und wenn jemand bereit ist zuzuhören. Damit wird deutlich, wie wichtig private und professionelle Zuhörer sind.
Mit der Pilotstudie wurde weitgehend öffentliches Neuland betreten, indem die "andere" - verletzliche - Seite von Männern in den Blick gerät. Damit besteht eine Chance, das vorherrschende öffentlich gehandelte Klischee von Männlichkeit in Frage zu stellen und durch die gewonnenen Erkenntnisse eine vorurteilsfreiere Sicht auf Männer zu ermöglichen.
Für die Hauptstudie einer repräsentativen Stichprobe der männlichen Bevölkerung hinsichtlich ihrer Viktimisierung bedarf es nun eines politischen Willens, diese unter Bedingungen durchzuführen, die es ermöglichen, die Forschungsperspektiven angemessen und geschlechtergerecht weiterzuentwickeln.
Die Notwendigkeit der gesellschaftlich-politischen Sensibilisierung für die Verletzbarkeit von Männern
Im Zentrum der notwendigen Sensibilisierung stehen eine Auseinandersetzung mit den traditionellen Vorstellungen von Männlichkeit und eine selbstkritische Überprüfung von deren Tauglichkeit für gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen. Dies könnte Männern eine Chance bieten, über sich selbst und ihr Selbstverständnis nachzudenken und die Kultivierung der Schweigsamkeit zu überwinden. Daneben ist ein Wechsel der Perspektive auf Männer in der Öffentlichkeit - insbesondere auch in Forschung, Politik und in den Medien - notwendig. Statt über Männer als Klischeebilder im öffentlichen Raum zu verhandeln, gilt es, sie als verletzbare Menschen ernst zu nehmen.[58] Nicht die geschlechterstereotype Schuldzuweisung, sondern erst das vorurteilsfreie, selbstreflexive Hinterfragen, was jedes Geschlecht zum Entstehen und zur Aufrechterhaltung der herrschenden Gewaltverhältnisse beiträgt, kann den Raum für weiterführende Perspektiven öffnen.
Unter den gegenwärtig sich verschärfenden existenziellen Lebensbedingungen deutete sich bereits ein Konflikt an: Das Sichtbarwerden und der Kampf um die politische Anerkennung der lange Zeit verborgenen und verschwiegenen Gewalt gegen Männer wird unter den knapper werdenden öffentlichen Ressourcen schwieriger. Um der Konkurrenz mit Frauenprojekten hinsichtlich entsprechender Mittel zu entgehen und Lösungen aus der Verstrickung in Geschlechterklischees zu finden, ist der Dialog[59] zwischen beiden Geschlechtern unabdingbar. Er könnte jenseits herkömmlicher Geschlechtermythen und hegemonialer Maskulinitäten und Feminitäten dazu beitragen, eine Perspektive auf die Gewalt, der Frauen und Männer ausgesetzt sind, zu ermöglichen. In einer gemeinsamen Anstrengung über die herkömmlichen Geschlechtergrenzen hinweg ließe sich ein zukunftsweisender Beitrag zur Fortführung des Prozesses der Zivilisation leisten, ohne ein Geschlecht gegen das andere auszuspielen.[60]
Internetverweise:
http://www.bmfsj.de
http://www.die-frankfurt.de/esprid/dokumente/
doc-2000/lenz00_02.doc
http://www.europrofem.org/02.info/22contri/2.02.de/
4de.viol/04de_vio.htm
http://www.boell.de/downloads/gd/MannoderOpfer.pdf
http://home.t-online.de/home/efbsazgitter/aktuell/
mag125d.htm