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Hintergründe des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa | Gewalt im Geschlechterverhältnis | bpb.de

Gewalt im Geschlechterverhältnis Editorial Kooperation zum Schutz vor Gewalt in Ehe und Beziehungen Männer als Opfer von Gewalt Gewaltprävention durch Arbeit mit Minderjährigen in der Prostitution Hintergründe des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa Milliardengeschäft illegale Prostitution

Hintergründe des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa

Alexandra Geisler

/ 15 Minuten zu lesen

Am Beispiel des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa werden Bedeutung und Ursachen des Menschenhandels im Kontext der sich verschlechternden Lebensbedingungen sowie den Veränderungen der Geschlechterrollen aufgezeigt.

Einleitung

Das Phänomen des internationalen Menschenhandels mit Frauen wurde bereits seit der Jahrhundertwende öffentlich diskutiert, damals insbesondere nach den internationalen Kampagnen gegen White Slavery und White Slave Trade. Es lassen sich seit dieser Zeit in Bezug auf Prostitution verschiedene Positionen identifizieren: der Puritanismus, die Reglementierung und der Abolitionismus.

Diese sich zum Teil überschneidenden Diskurse hatten Regelungsversuche auf internationaler Ebene zur Folge, die auch auf die nationalen Gesetzgebungen ausstrahlten. Bis zum Menschenhandelsprotokoll diente die "Konvention zur Unterbindung des Menschenhandels und der Ausnutzung der Prostitution anderer" der Generalversammlung der Vereinten Nationen aus dem Jahre 1949, welche die Position des Abolitionismus widerspiegelte, als Modell für nationale Gesetzgebungen. Der neue Ansatz verabschiedet sich ingewisser Weise von diesem Standpunkt. Die Anwendung von Zwang wurde als grundlegendes Element von Menschenhandel in das Protokoll aufgenommen, wodurch eine Unterscheidung zwischen erzwungener und freiwilliger Migration zum Zweck der Prostitution gemacht wird.

Blick auf die Opfer

Das Phänomen des Menschenhandels in die Prostitution mit Frauen aus Osteuropa ist lange Zeit vernachlässigt worden und erfuhr erst in den letzten Jahren - im Zuge der Beitrittsverhandlungen zur Europäischen Union - verstärkte Beachtung. Dass dies eine Menschenrechtsverletzung darstellt, ist gemeinhin politischer Konsens. International steigt die Zahl der Resolutionen, Gremien, Konferenzen und Absprachen. Doch ganz offensichtlich hat dies alles bisher nicht dazu beigetragen, den Menschenhandel mit Frauen zu stoppen oder einzudämmen. Ein Grund dafür ist, dass die Hauptursachen des Menschenhandels, wie die Perspektivlosigkeit bzw. die Armut der Frauen in den Herkunftsländern, durch behördliche oder juristische Maßnahmen kaum tangiert werden. Ferner besteht Dissens über die zu ergreifenden Maßnahmen. Sobald es um die Strategien zur Verhinderung und Bekämpfung des Menschenhandels geht, wird schnell deutlich, dass es verschiedene Interessengruppen gibt, die unterschiedliche und manchmal sich widersprechende Ziele verfolgen. Das Dilemma ist: Auch wenn eine Vielzahl von Konventionen die Nationalstaaten verpflichtet, gegen Menschenrechtsverletzungen vorzugehen, so gelten die Frauen doch in der Realität entweder als Kriminelle, die strafrechtlich verfolgt werden, oder als wehrlose Opfer, denen mit einer Rückführung geholfen werden soll.

In der Fachdiskussion wird immer wieder der Standpunkt vertreten, dass es notwendig sei, die betreffenden Frauen nicht als passive Wesen oder als Opfer zu begreifen. So wird z.B. davon ausgegangen, dass Migrantinnen auch Pionierinnen sind, die Grenzen überwinden und eine enorme Mobilitäts- und Risikobereitschaft besitzen. Insofern wird den Frauen, oftmals aufgrund von wirtschaftlicher Not in den Herkunftsländern, eine Migrationsbereitschaft unterstellt, und es wird davon ausgegangen, dass individuelle Migrationsprojekte nicht aufgrund verschärfter Grenzkontrollen und Zulassungsbeschränkungen aufgegeben werden. Doch selbst wenn Frauen bei der Anwerbung wirklich wissen, welcher Arbeit sie im Zielland nachgehen müssen, kann Zwang vorherrschen.

Im Gegensatz zu diesen Vorstellungen dominiert in den osteuropäischen Ländern die Einschätzung, dass gehandelte Frauen aufgrund der Annahme, dass sie "wussten", was sie erwartete, und somit verdienten, was sie "bekamen", ihrer Rechte beraubt werden dürfen. Demgegenüber werden die Frauen von staatlichen Instanzen und auch einigen Nichtregierungsorganisationen in den westlichen Zielländern als verletzliche und passive Objekte behandelt, die nicht zu abgewogenen Beurteilungen in der Lage sind und konsequenterweise gerettet und zurückgeführt werden müssen. Der Dreh- und Angelpunkt ist die einseitige Viktimisierung von Frauen, die nicht mehr als Subjekte, sondern nur als Opfer ohne eigenen Willen dargestellt werden.

Menschenhandel und Migration sind separate, aber miteinander verbundene Themen. Die Ansicht, dass gehandelte Frauen starke, risikofreudige Charaktere sind, die eine rationale Wahl getroffen und sich entschieden haben, zu emigrieren, ist jedoch genauso insuffizient wie die Opferrethorik, welche die komplexe Entscheidungsfindung vieler Frauen auf einen zentralen Beweggrund minimiert und den Frauen geringfügige Handlungskompetenzen unterstellt.

Geschlechterdimensionen

Die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen die in den ehemals staatssozialistischen Ländern des Ostblocks in den späten achtziger und frühen neunziger Jahren auftraten, hatten insbesondere für Frauen einschneidende Konsequenzen. Die gesellschaftliche Transformation hin zur neoliberalen Marktwirtschaft manifestierte sich in einem Anstieg der Arbeitslosigkeit - in den neunziger Jahren gingen ungefähr 14 Millionen Arbeitsplätze für Frauen verloren -, der Verarmung großer Teile der Bevölkerung - Ende der neunziger Jahre lebten 50 Millionen Menschen von weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag - und dem Verlust zahlreicher sozialer Leistungen. Der Übergang zum Neoliberalismus wurde auch von einem Wiederaufleben traditioneller Geschlechterrollen in Bezug auf die Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und verschiedenen Formen der Gewalt begleitet. Auch wenn Frauen vor 1989 auf formaler und politischer Ebene gleichgestellt und zu einem großen Teil als Arbeiterinnen in der Wirtschaft vertreten waren - allerdings in den unteren Hierarchieebenen und nur mit 70 bis 90 Prozent des Jahreseinkommens eines Mannes -, konnte die "Frauenfrage" keinesfalls als gelöst gelten. Der Staatssozialismus gewährte den Frauen zwar gewisse legale und ökonomische Vorteile, stärkte jedoch den "Thermidor in der Familie" und damit die Basis ihrer Unterdrückung. Auch herrschte aufgrund der offiziellen Rethorik der Geschlechtergleichheit Schweigen in Bezug auf Gewalt gegen Frauen. Wenngleich es bisher kaum repräsentative Statistiken gibt, machen die vorhandenen Daten doch deutlich, dass heute in vielen Ländern der Region Gewalt gegen Frauen stark verbreitet ist. Im Jahr 1997 wurden in Russland beispielsweise ungefähr die Hälfte aller Morde durch häusliche Gewalt verursacht. Ferner ist ein erheblicher Anstieg allein erziehender Mütter zu verzeichnen, was mit einem Absinken familienpolitischer Leistungen zusammenfällt. Der geringere gesellschaftliche und wirtschaftliche Status, physische und sexuelle Gewalt, Doppelbelastung, Abhängigkeit, Arbeitslosigkeit und die Schwierigkeit, den Haushalt abzusichern, etc., stellen die gesellschaftlichen Ursachen für die Notlagen einer Mehrzahl von Frauen dar.

Lebenssituation und Entwicklung der Korruption

Zudem bestehen erhebliche Unterschiede zwischen und auch innerhalb der sechs Subregionen Mittel- und Osteuropas und der ehemaligen Sowjetunion. Das verdeutlicht der Human Development Index, dem zufolge sich die Länder von Slowenien auf dem 29. Platz bis zu Tajikistan auf dem 103. Platz - mit abnehmender Entwicklung von West nach Ost - erstrecken. So ist beispielsweise das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Mittel- und Osteuropa im Vergleich zu 1989 im Durchschnitt um ein Drittel gefallen, in der ehemaligen Sowjetunion um mehr als die Hälfte. Trotz Wachstum in den meisten Ländern in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre war das Pro-Kopf-Einkommen am Ende des Jahrzehnts in Mittel- und Osteuropa im Durchschnitt immer noch um 13 Prozent niedriger und in der ehemaligen Sowjetunion sogar um 45 Prozent. Der durchschnittliche Gini-Koeffizient für das Pro-Kopf-Haushaltseinkommen ist in den mittel- und osteuropäischen Ländern von 0.25 Ende der achtziger Jahre auf 0.30 in den späten neunziger Jahren gestiegen und von 0.26 auf 0.43 in der ehemaligen Sowjetunion. Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Ungleichheit in vielen Länder Osteuropas in der Tat stark zugenommen hat. Einhergehend mit diesen Entwicklungen zeigt der Korruptionsindex von Transparency International, dass auch im Jahr 2003 die Ursprungs- und Transitländer des Menschenhandels in Osteuropa nicht sehr rühmliche Plätze belegen.

Informeller Sektor

Der informelle Sektor - häufig als Ökonomie der Armen bezeichnet, die nur selten staatlich reguliert und statistisch erfasst wird, z. B. RentnerInnen, die als legale informelle Tätigkeit durch den Verkauf von selbst angebautem Gemüse ihr Überleben sichern - ist seit dem Systemwechsel von der Plan- zur Marktwirtschaft in den postsozialistischen Gesellschaften ein wichtiger Faktor der Überlebensstrategien geworden, da er einerseits Defizite der formalen sozialen Sicherungssysteme kompensiert und andererseits einen Versuch darstellt, die sozialen Kosten der Transformation in einem von Konkurrenzzwängen geprägten System auszugleichen. Er bildet oftmals das Auffangbecken für die VerliererInnen des Neoliberalismus. Der Menschenhandel mit Frauen kann als Beispiel für Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung gelten, die ein Systemwechsel mit sich bringt, worunter auch individuelle Abstiegs- und Aufstiegserfahrungen fallen. Insofern steht er zugleich für den Entwicklungsprozess einer Parallelökonomie und Kriminalität, sowie den geringen Institutionalisierungsgrad des Marktes, welcher sich z.B. auch in den Risiko- und Überlebensstrategien außerhalb staatlicher Absicherungen wie dem Waffen-, Drogen- und Menschenhandel, Schmuggel von Alkohol, Geldwäsche, Autoverschiebung oder der korrupten Aneignung von staatlichen Geldern vollzieht.

Migrationsmotive

Im Rahmen qualitativer Forschungen habe ich 2003 problemzentrierte Interviews mit ehemals gehandelten osteuropäischen Frauen geführt. Ziel war die Evaluation des Zusammenhangs von selbstbestimmter Migration bis hin zur Zwangsprostitution sowie die Einschätzung der Rolle der organisierten Kriminalität oder auch der Veränderung der Geschlechterverhältnisse.

Auch wenn die gesellschaftliche Transformation sich von Land zu Land mitunter erheblich unterscheidet, weshalb bei Verallgemeinerungen Vorsicht geboten ist, kann als das zentrale Motiv der interviewten Frauen zum Verlassen des Herkunftslandes die Überlebensstrategie bezeichnet werden. Die Sicherung der physischen Existenz, welche die Frauen durch absolute Armut akut bedroht sahen, ließ sie die Angebote der HändlerInnen in Erwägung ziehen. Im Mittelpunkt standen bei den gehandelten Frauen mit Kindern zudem die Haushaltsstrukturen. Ihnen wurde nicht nur die Verantwortung für die Familie im Bereich der unbezahlten Arbeit zugeschrieben, sondern es oblag ihnen auch noch der größte Teil der bezahlten Arbeit, um den Unterhalt für die Kinder zu sichern. In der Analyse wurde deutlich, dass diese Feminisierung der Verantwortung von großer Tragweite war.

Zu den genannten wirtschaftlichen Faktoren traten im Einzelfall noch weitere hinzu. Hierzu zählen die gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierung von Minderheiten, die Angst vor der wirtschaftlichen Abhängigkeit von einem gewalttätigen oder alkoholabhängigen Partner, der Verlust des Vertrauens in die Mitmenschen und staatlichen Funktionsträger aufgrund der Entwicklung des kriminellen informellen Sektors sowie der Korruption, die Abnahme der Solidarität sowie die Suche nach Unabhängigkeit und einem selbst bestimmten Leben, frei von familiären Zwängen und Rollenvorstellungen. Diese Faktoren wurden zwar als zusätzlich belastend wahrgenommen, jedoch von keiner Frau ursächlich als Motiv zum Verlassen des Herkunftslandes genannt.

Die aufgeführten Faktoren führten allerdings nicht automatisch zum Versuch der eigenständigen Migration. Die Motivbildung setzte erst mit der Anwerbung durch MenschenhändlerInnen ein und der durch diese erzeugten Illusionierung. Keine Frau hatte vorher selbst aktiv nach Möglichkeiten einer Migration gesucht beziehungsweise eigenständig legale oder illegale Migrationswege eingeschlagen. Die als belastend wahrgenommenen gesellschaftlichen Faktoren schufen somit erst die notwendigen Bedingungen für den Menschenhandel, aus denen kriminelle Elemente ihren Vorteil zogen. Das Zielland Deutschland wurde von den Frauen nicht mit Bedacht oder rational ausgewählt, sondern von den MenschenhändlerInnen.

Formen der Anwerbung

Bei allen interviewten Frauen fungierten Bekannte, FreundInnen und ArbeitskollegInnen als ein bedeutsamer migrationslenkender Faktor. Charakteristisch für die Frauen war, dass sie bereits vor ihrer Ausreise Kenntnisse über die Möglichkeit und Gefahren des Menschenhandels hatten. Dies führte zu einer verstärkten Vorsicht gegenüber betrügerischen Angeboten. Offerten in Zeitungen, Bars, Diskotheken oder von Agenturen wurden von den Frauen nicht angenommen. Doch die HändlerInnen bedienten sich privater und freundschaftlicher Netzwerke. Ferner wurden zur Anwerbung primär Frauen eingesetzt, die in einigen Fällen auch der second wave zuzuordnen sind. Insbesondere diesen privaten Netzwerken wurde von Seiten der Frauen Vertrauen entgegengebracht. Es stellt sich die Frage, ob zukünftig in dieser Form der Anwerbung, d.h. dem Missbrauch von freundschaftlichen Netzwerken, ein Anstieg zu verzeichnen sein wird und ob sie mit der steigenden Aufklärung und Vorsicht der Frauen korreliert.

Organisierte Kriminalität

Obwohl das Phänomen des Menschenhandels von staatlicher Seite hauptsächlich aus der Perspektive der Bekämpfung organisierter Kriminalität gesehen wird, dominierten bei den interviewten Frauen organisierte kriminelle HändlerInnenringe nicht. Besonders auffällig war die starke Involviertheit der Bevölkerung aus dem näheren Bekanntenkreis der Frauen in den Herkunftsländern, entweder als HändlerInnen oder als Opfer. Auch wenn die organisierten MenschenhändlerInnengruppen weiter existieren, scheint die Entwicklung eines reaktionären Frauenbildes die massenhafte Anwerbung von Frauen zur Ausbeutung in der Prostitution im Ausland als individuelle Überlebensstrategie forciert zu haben. Ferner muss eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz unterstellt werden, denn es ist wenig wahrscheinlich, dass sich diese Entwicklungen, insbesondere in ländlichen Gebieten, aus denen die Mehrheit der interviewten Frauen kam, unbemerkt von der Öffentlichkeit vollziehen. Da die tatsächlichen Aufwendungen und das Risiko einer Strafverfolgung gering sind, besteht ein ökonomischer Anreiz, mit Zwangsprostitution sein Einkommen zu sichern.

Zwang und Freiwilligkeit

Der Menschenhandel setzt gemäß Definition des Menschenhandelsprotokolls keinen "Handel" im eigentlichen Sinne voraus, sondern bezeichnet die Anwerbung, den Transport oder den Empfang einer Person, wobei das primäre Definitionsmerkmal nicht die Art der Tätigkeit der gehandelten Person, sondern die Art der Anwerbung ist: durch Androhung von Gewalt, durch Täuschung, Autoritätsmissbrauch oder Ausnutzung eines Abhängigkeitsverhältnisses, Das Ziel besteht darin, die betreffende Person auszubeuten.

Per Definition spielt es keine Rolle, welcher Tätigkeit die Frauen nachgehen müssen. In der Realität muss jedoch beachtet werden, welchen spezifischen Platz Prostitution und die weibliche Sexualität in verschiedenen Gesellschaften einnehmen, da dies einen Einfluss auf die tatsächliche Behandlung von gehandelten Frauen hat. Theoretisch ist die Zwangsprostitution von der Arbeit der Prostituierten klar zu differenzieren. In der Realität fällt diese Unterscheidung mitunter nicht leicht, wenn z.B. die offenkundigen Zwangsmechanismen wegfallen oder die gehandelte Frau sich in die Arbeit als Prostituierte fügt. Die Trennlinien verschwimmen und es kann zu Fehlbeurteilungen kommen.

Insbesondere Prostituiertenvereinigungen und einige Frauenorganisationen instrumentalisieren gehandelte Frauen oftmals für ihre eigenen Zwecke, d.h. für den Kampf um die Legalisierung der Prostitution als "normale" Dienstleistung und die Anerkennung als Beruf. So wird davon ausgegangen, dass die meisten Frauen sich selbstbestimmt für eine Arbeit in der Prostitution anwerben lassen.

Dem steht entgegen, dass den interviewten Frauen Arbeit in der Gastronomie, Kinderbetreuung etc. versprochen wurde und ihnen bei der Anwerbung nicht bewusst war, dass sie in der Prostitution arbeiten müssen. Den TäterInnen gelang es in jeweils unterschiedlichem Ausmaß, Besitz von den Frauen zu ergreifen, z.B. durch Betäubungsmittel, das Druckmittel der Schuldenrückzahlung, Schläge, Freiheitsberaubung, Vergewaltigung, Drohungen gegen die Familie im Herkunftsland, Wegnahme der Pässe und Verdienste sowie permanenten Ortswechsel. So erlebten einige den totalen Verlust persönlicher Kontrolle, während anderen noch Handlungschancen blieben, wenn auch minimiert aufgrund der Desorientierung, der unbekannten Kultur und Sprache sowie der kontrollierten Außenkontakte.

Gesellschaftliche Positionen zurProstitution

Die gesellschaftliche Haltung gegenüber Frauen in der Prostitution und die mangelnde Einsicht in die Zwänge des Menschenhandels mit Frauen führt dazu, dass Frauen oftmals für die Taten verantwortlich gemacht werden, die gegen sie begangen wurden. So übertrugen die Frauen die in den Herkunftsländern vorherrschenden gesellschaftlichen Ansichten soweit auf sich selbst, dass sie der eigenen Person letztendlich die Schuld an der Situation zuschrieben, weil sie sich ursprünglich dazu entschieden hatten, ihr Land zu verlassen. Keine der Frauen konnte sich vorstellen, bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland jemandem von ihren Erlebnissen zu berichten, da sie weitere Diskriminierungen, Schuldzuweisungen und sexuelle Gewalt befürchteten. Damit wird deutlich, dass die gesellschaftlichen Ansichten und Positionen zur Prostitution einen bedeutenden Faktor im TäterInnenschutz einnehmen können.

Menschenrechte gehandelter Frauen

Da gehandelte Frauen oftmals zugestimmt haben, im Ausland zu arbeiten, in manchen Fällen sogar als Prostituierte, werden sie derselben Kategorie wie illegalisierte MigrantInnen zugeordnet und als Mittäterinnen verantwortlich gemacht. Dadurch gelten sie in den Ziel- und Herkunftsländern unter Umständen als mitschuldig an ihrer eigenen Ausbeutung. Dies kann als politisches Kalkül interpretiert werden, müssen gehandelte Frauen - um bestimmte Rechte und Privilegien zu erhalten - doch als Opfer wahrgenommen werden. Dies bleibt vielen Frauen jedoch verwehrt, was meist zu einer direkten Abschiebung führt.

Die Zuerkennung des individuellen Opferstatus - als Resultat eines kriminellen Verbrechens - ist jedoch nur so lange wünschenswert, wie dieser Rechte und praktische Unterstützungsleistungen bietet und nicht eindimensional von staatlicher Seite konstruiert wird, so dass gehandelte Frauen als machtlos wahrgenommen werden.

Es ist notwendig, eine Unterscheidung zwischen dem rechtlichen Status der gehandelten Frauen als Opfer und ihrer eigenen Identität sowie ihren Bedürfnissen zu treffen. Da zur erfolgreichen Bekämpfung der organisierten Kriminalität, dem Hauptanliegen nationaler Regierungen, die Inanspruchnahme von Opfern des Menschenhandels als Zeuginnen vonnöten ist, stellt sich die Frage, was nach Beendigung der Strafprozesse geschieht - bzw. dann, wenn sich die Frauen nicht bereit erklären, als Zeuginnen auszusagen. Das "Lagebild Menschenhandel" des Bundeskriminalamtes aus dem Jahre 2002 gibt an, dass von den Frauen, deren Verbleib bekannt ist, 44,3 Prozent der Opfer von Menschenhandel abgeschoben oder ausgewiesen wurden; 23,9 Prozent kehrten freiwillig zurück, 5,5 Prozent der Opfer kamen in ZeugInnenschutzprogramme, 16,3 Prozent bekamen eine Duldung; bei 21,1 Prozent ist das Schicksal unbekannt.

Ohne die Berücksichtigung der individuellen Wünsche der gehandelten Frauen werden die Anliegen des staatlichen Systems immer Priorität haben und die Frauen als Opfer "zweiter Klasse" behandelt. Auch wenn es in Deutschland verschiedene Formen des Schutzes und der sozialen Unterstützung gibt, so stehen diese hauptsächlich für gehandelte Frauen zur Verfügung, die mit den Behörden kooperieren, und sind meist bis zum Ende des Prozesses limitiert. Im Herkunftsland müssen die Frauen nach ihrer Rückkehr in materieller, psychischer und gesellschaftlicher Hinsicht oftmals mit einer schlechteren Situation als vorher fertig werden. Hinzu kommt die mögliche Verfolgung durch die HändlerInnen. Außerdem gibt es in den osteuropäischen Herkunftsländern kaum soziale Programme, und die geringen finanziellen Mittel der Projekte reichen bei weitem nicht für eine adäquate Hilfe aus. Die tatsächliche Hilfe für Opfer rangiert derzeit nicht an oberster Stelle, auch wenn das Menschenhandelsprotokoll die Unterzeichnerstaaten zu einem umfassenden Ansatz verpflichtet, der alle so genannten "3 P's" gleichermaßen umfasst. Zwischen der Verantwortung von Seiten des Staates und dem, was dieser dafür im Gegenzug von den Gewaltopfern wirklich erwarten darf, muss eine Balance gefunden werden. Außerdem gilt es, den Druck auf die Vertragsstaaten zu verstärken, ihr Handeln den Menschenrechten anzupassen.

Ferner bedarf es in den westlichen Staaten einer gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung über die im Menschenhandel mit Frauen auftretenden Rassismen und Sexismen. Die "Nachfrage" nach Frauen aus dem früheren Ostblock besteht real. Aufgrund von Klischees wie "weniger emanzipiert als deutsche Frauen" werden diese schon allein aufgrund ihrer Staatsangehörigkeit diskriminiert und stigmatisiert. Frauen aus den Rromaminderheiten, deren größte Gemeinschaften sich in Osteuropa befinden, sollten zudem aufgrund der multiplen Problematik, geprägt durch Ausschluss und Diskriminierung von Seiten der Mehrheitsgesellschaften, als eine zentrale Risikogruppe für den Menschenhandel wahrgenommen werden. Bisher gibt es dafür jedoch kaum eine Öffentlichkeit.

Zwar kann den Freiern nicht unterstellt werden, ihr wesentliches Motiv, eine Prostituierte aufzusuchen, sei der Wunsch, Macht auszuüben; es ist aber doch davon auszugehen, dass die prekäre Lage von Zwangsprostituierten oft nicht zu übersehen ist. Dessen ungeachtet konnte nur eine einzige der interviewten Frau darüber berichten, dass ihr ein Freier seine Hilfe zur Flucht angeboten hat. Mehrheitlich wurden die Notlagen ignoriert oder sogar für eigene materielle bzw. persönliche Profite der Freier ausgenutzt. Männer, welche die Dienste einer Zwangsprostituierten in Anspruch nehmen, tragen nicht nur zum Profit der TäterInnen bei, sondern auch zum Schaden der Opfer.

Letztendlich herrschen strukturelle Zwänge, die Frauen gesellschaftlich und individuell erst dazu veranlassen, sich zu prostituieren. Diskriminierende gesellschaftliche Verhältnisse werden festgeschrieben und normalisiert, wenn die Prostitution als von den gehandelten Frauen selbst bestimmt und selbst gewählt interpretiert wird. Das Phänomen des Menschenhandels mit Frauen steht somit in enger Verbindung zu Frauenrechten und dem ungleichen Status von Frauen - weltweit. Es ist schwer vorstellbar, dass ohne patriarchale Strukturen der Handel mit Frauen und ohne imperialistische Ausbeutungsmechanismen der Handel mit Menschen existieren würde.

Weiterführende Internetverweise:

Trafficking in Persons Annual Report 2004:
Externer Link:

Lagebild Menschenhandel 2004:
Externer Link:

International Helsinki Federation for Human Rights:
Externer Link: https://www.ihr-hr.org

Nichtregierungsorganisation La Strada:
Externer Link:

Protection Project der John Hopkins University:
Externer Link: https://www.protectionproject.com

Anti-Slavery International:
Externer Link: https://www.antislavery.org

Fussnoten

Fußnoten

  1. Prostitution wird als sittenwidrig betrachtet (Edwin W. Sims 1910).

  2. Das "notwendige Übel" der Prostitution soll durch staatliche Regelungen geordnet und kontrolliert werden (Alexandre-Jean-Baptiste Parent-Duchatelet 1835).

  3. Die AnhängerInnen dieser Position treten für die Abschaffung ein (Josephine Butler 1875).

  4. Zusatzprotokoll zur Konvention der Vereinten Nationen zum organisierten Verbrechen, die am 15.11. 2000 angenommen wurde. Vgl. zur Konvention: Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Kevelaer 20044, S.154 ff.

  5. Vgl. Mirjana Morokvasic, Fortress Europe and Migrant Women, in: Feminist Review, No. 39, Hampshire 1991, S. 69 - 84.

  6. Vgl. Mike Kaye, The migration-trafficking nexus - combating trafficking through the protection of migrants human rights, London 2003, S. 3.

  7. Vgl. UNICEF, Women in Transition, The MONEE Project CEE/CIS/Baltics, Regional Monitoring Report, No. 6, Florenz 1999, S. 27.

  8. Vgl. Jeni Klugman/John Micklewright/Gerry Redmond, Poverty in the transition, social expenditures and the working-age poor, UNICEF Innocenti Research Centre, Innocenti Working Papers, No.91, Florenz 2002, S. 8.

  9. Vgl. UNICEF (Anm. 7), S. 33.

  10. Das autoritäre Regime Stalins schob den Frauen wieder die alleinige Verantwortung für die Arbeit in der Familie zu, was im Gegensatz zur bolschewistischen Propagierung der Vergesellschaftung der Hausarbeit stand.

  11. Vgl. UNICEF (Anm. 7), S. 82.

  12. Vgl. ebd., S. 57.

  13. Vgl. UNDP, Human Development Report 2001, making new technologies work for human development, New York 2001, S. 141 - 144.

  14. Vgl. J. Klugman/J. Micklewright/G. Redmond (Anm. 8), S. 8.

  15. Wenn alle Haushalte eines Landes das gleiche Einkommen haben, wird der Gini-Koeffizient gleich "0". Und falls das ganze Einkommen eines Landes sich in nur einem Haushalt befindet wird der Gini-Koeffizient gleich "1". Das heißt, ein höherer Gini-Wert bedeutet mehr Ungleichheit.

  16. Vgl. Sarah Tyler, Transparency International Corruption Perception Index 2003, Berlin 2003, S. 1 - 8.

  17. Vgl. Alexandra Geisler, Gehandelte Frauen - Menschenhandel zum Zweck der Prostitution mit Frauen aus Osteuropa, Berlin 2004, S. 84 f.

  18. Vgl. ebd., S. 85 - 87.

  19. Vgl. ebd., S. 88 - 90.

  20. Vgl. ebd., S. 91 - 96.

  21. Die "second wave" wird durch Frauen gebildet, die zuvor selbst ins Ausland gehandelt wurden und nun in ihr Herkunftsland zurückgekehrt sind, oftmals mit ihrem früheren Zuhälter, um weitere Frauen anzuwerben.

  22. Vgl. A. Geisler (Anm. 17), S. 96 - 98.

  23. Vgl. ebd., S. 99 f.

  24. Vgl. Global Alliance Against Traffic in Women u.a., Menschenrechtsnormen für den Umgang mit Betroffenen des Menschenhandels, Bangkok 1999, S. 2.

  25. Vgl. A. Geisler (Anm. 17), S. 103 - 109.

  26. Vgl. ebd., S. 109 - 111.

  27. Vgl. Bundeskriminalamt, Lagebild Menschenhandel 2002, Wiesbaden 2003, S. 16.

  28. Die drei Aspekte prevention, prosecution und protection werden als integraler Bestandteil beschrieben.

  29. Vgl. A. Geisler (Anm. 17), S. 113.

M. A. Sozialwissenschaften; Diplomsozialarbeiterin, geb. 1974; Mitarbeiterin des Kontaktladens für Straßenkinder; Geschäftsführerin der deutschen Sektion der Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit (IFFF).
Anschrift: Weinbergsweg 24, 10119 Berlin.
E-Mail: E-Mail Link: alexandra.geisler@gmx.net

Veröffentlichungen u.a.: Gehandelte Frauen - Menschenhandel zum Zweck der Prostitution mit Frauen aus Osteuropa, Berlin 2004; Gehandelte Frauen, in: Jürgen Bellers/Frank Nitzsche (Hrsg.), Niedergangsstadium? Die Imperialismustheorie im interdisziplinären Diskurs, Hamburg 2004.