Afghanistan nach den Taliban
Sicherheits- und Menschenrechtssituation
Unabdingbar für die Wiederherstellung von Sicherheit und Ordnung sowie von nationaler Einheit und für Entwicklung ist der Aufbau einer Nationalarmee. Ohne die auf dem Petersberg beschlossene Entwaffnung der Milizen sind freie Wahlen nicht möglich. Der von Karsai am 2. Dezember 2002 verkündete Aufbau einer 75 000 Mann starken Truppe ist nicht annähernd erreicht. Trotz US- und französischer Hilfe hat die ATA nach offiziellen Angaben ca. 25 000 Soldaten aufgestellt. Tatsächlich waren es Anfang 2003 erst 1700[52] und im Oktober 2004 mit 8 300 Mann nur unwesentlich mehr. Angesichts der vom Armeechef Bismillah Chan geschätzten 100 000 Privatmilizionären der Warlords ist das ein Verhältnis "wie Maus und Elefant"[53]. Da die ATA den Rekruten ihren Sold nicht zahlen kann, gehen diese nach ihrer Ausbildung in Kabul zu ihren Warlords zurück. Die Entwaffnung der Privatmilizionäre wird von den Warlords torpediert. Allein Verteidigungsminister Fahim verfügt über eine Privatarmee von 30 000 Mann.[54] Wenn hier und da eine Entwaffnungsshow veranstaltet wird, bei der zum größten Teil alte Waffen abgegeben werden, ist das ein gutes Geschäft. Für jede alte abgegebene Kalaschnikow erhalten die Söldner 100 US-Dollar; auf dem Markt kann sich jeder für 70 US-Dollar eine neue kaufen. "Seit Juni sollten die Kriegsfürsten und ihre privaten Milizen entwaffnet werden, doch nichts ist bisher passiert. Ein entsprechendes 50-Mio.-US-Dollar-Programm liegt auf Eis, weil sich das afghanische Verteidigungsministerium sträubt, Reformen durchzuführen"[55], die neben der Entwaffnung die Berücksichtigung der Multiethnizität bei der Vergabe hoher Armeeposten beinhalten.
In einem Bericht des Auswärtigen Amtes vom August 2003 heißt es, dass der "praktisch landesweit bestehende Zustand weitgehender Rechtlosigkeit des Einzelnen (...) noch nicht überwunden"[56] ist. Im Süden und Osten des Landes herrschen wieder Bedingungen, die einst den Siegeszug der Taliban begünstigt haben. Die Taliban nutzen die Unzufriedenheit der Bevölkerung, um ihren Einfluss zu erweitern.[57] Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen gründeten sie mit Hekmatjar und anderen, die von den Wahlen ausgeschlossen sind bzw. diese bekämpfen, eine politische Sammlungsbewegung.[58]
Selbst in Kabul werden Familien, bevorzugt Rückkehrer, überfallen, ausgeraubt und getötet. "Raubüberfälle und Vergewaltigungen, Mord oder Folter gehören zum Alltag. Täter tragen oft Uniform, sie stehen im Dienst der Polizei"[59], aber auch der Armee.[60] Mitglieder der Menschenrechtskommission, die auf die Verletzung von Frauen- und Menschenrechten hinweisen, sind Gefahren ausgesetzt.[61] Sexuelle Gewalt gegen Frauen ist sehr weit verbreitet.[62] "US-Präsident Bush und Außenminister Powell hatten versprochen, daß der Krieg in Afghanistan den Frauen die Befreiung bringt. Doch noch immer sind Gewalt, Diskriminierung und Unsicherheit im Leben der Frauen an der Tagesordnung."[63] Zarmina Tookhi beklagt: "Die Supermacht USA läßt die Frauen im Stich."[64] Außerhalb Kabuls werden NGOs überfallen, ihre Mitarbeiter ermordet. Ärzte ohne Grenzen stellte nach der Ermordung von Mitarbeitern die Arbeit in Afghanistan ganz ein.[65] Die Kriegsfürsten sind eher Teil des Problems als Teil der Lösung des Konfliktes, stellte Brahimi fest.[66] Die Gewaltanwendung wird u.a. von den Ministern Fahim und Kanuni, den Milizenführern der östlichen Region, Hazrat Ali, Rabani und dem Ultra-Islamisten Rasul Sayaf befohlen.[67] Personen, die sich für den Aufbau eines säkular orientierten Staates einsetzen, sind bei einer Rückkehr nach Afghanistan gefährdet.[68] Auch Karsai ist nicht sicher; ohne seine amerikanischen Leibwächter kann er keinen Schritt tun.[69] Mindestens drei Attentatsversuche sind mittlerweile auf ihn verübt worden. Über 35 Prozent des Landes im Osten und Süden werden für Angehörige der ATA als "No-Go-Area" eingestuft. Im Sommer 2004 stufte die UNO gar "die Hälfte des Landes als riskantes Gebiet ein"[70]. Nur die US-Marines führen von Zeit zu Zeit Operationen durch, ansonsten herrschen dort Al Qaida, die Taliban und die Milizen von Hekmatjar.