Leben in Zusammenhängen. Behinderung erfassen und Teilhabe messen
Dem Themenkomplex "Beeinträchtigung und Behinderung in der Gesellschaft" wird zu Recht wachsende Aufmerksamkeit geschenkt. In Deutschland deuten etwa die neue Teilhabeberichterstattung, die sich entwickelnde Teilhabegesetzgebung und zahlreiche Inklusions-Aktionspläne auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene auf einen vermehrten Umgang mit Behinderungsfragen hin. Diese Entwicklungen werden kaum mehr als Umgang mit dem Personenkreis der "Behinderten" bezeichnet, sondern firmieren unter Teilhabe- oder Inklusionsprogrammatiken. Hier deutet sich ein Umdenken an.In den Teilhabeberichten der Bundesregierung gilt die Aufmerksamkeit zwar weiterhin auch der Personengruppe mit amtlich anerkannter (Schwer-)Behinderung, aber ebenso weiteren Personen mit chronischen Beschwerden und Beeinträchtigungen, deren Chance auf Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft eingeschränkt ist und die daher benachteiligt sind. Nach diesen Maßgaben leben in der Bundesrepublik etwa 25 Prozent der erwachsenen Wohnbevölkerung mit mindestens einer Beeinträchtigung.[1]
Dass zunehmend beachtet wird, ob und inwieweit diesen Personen in ihrer Lebensführung gleiche Chancen eröffnet sind und ob sie im Zugang zu Ressourcen beziehungsweise bei der gesellschaftlichen Teilhabe benachteiligt werden, gilt allerdings zunächst nur konzeptionell. Im öffentlichen Diskurs hingegen wird die Bezeichnung "Behinderung" oft leicht-fertig mit der Erwartung von (genereller) Unfähigkeit verbunden, festgehalten über Diagnosen, Rollenklischees und Behandlungsmethoden oder Unterbringungen.[2] Auch wissenschaftliche Studien zeigen dieses Phänomen weiterhin. Insbesondere in der traditionellen (Sonder-)Förderpädagogik und Rehabilitation werden häufig defizitorientierte und problemzentrierte Fragen formuliert und entsprechende Erkenntnisse generiert, die Problemlösungen vor allem in den als behindert benannten Personen suchen.
Angesichts dieser Diskrepanzen stellt sich zunächst die Frage, inwiefern ein Richtungswechsel und Anschluss an die Debatten der Ungleichheitsforschung sinnvoll wäre. Mit entsprechend lebenslagenbezogenen Fragestellungen könnte es nämlich gelingen, weniger die vermeintlichen Unfähigkeiten als vielmehr die Verwirklichungschancen aller Menschen im Sinne von Teilhabe und Selbstbestimmung zu entdecken und damit Maßstäbe dafür zu gewinnen, wie bei Personen oder Personengruppen Behinderung entsteht. Zugleich würden Exklusionsrisiken und -entwicklungen abseits inzwischen üblicher allgemeiner Inklusionsversprechen sichtbar.
Teilhabeansprüche, Exklusionsrisiken, Inklusionschancen
Mit Blick auf die Entdeckung von Teilhabeansprüchen ist allein die vor allem aufgrund des demografischen Wandels wachsende Gruppe beeinträchtigter Personen hinreichend Anlass und Aufforderung zur Aufmerksamkeit. Entsprechend hat sich der sozialrechtliche Zugang zu Behinderung und Benachteiligung in Deutschland verändert: Das 2001 dem Bundessozialhilfegesetz folgende Sozialgesetzbuch IX ist programmatisch mit "Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen" überschrieben; explizit werden mit ihm Ziele wie Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und Selbstbestimmung behinderter Menschen benannt. Ein Abschied vom Fürsorgedenken zugunsten wachsender Aufmerksamkeit für Chancengerechtigkeit und selbstbestimmte Lebensführung lässt sich am Behindertengleichstellungsgesetz von 2002, am Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz von 2006 sowie insbesondere an dem 2009 in Deutschland in Kraft getretenen Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) erkennen. Gleiche Rechte und gerechte Chancen sollen garantiert und einklagbar werden.Die dafür nötige Aufmerksamkeit für explizite und implizite Benachteiligungen ist allerdings noch ausbaufähig. Daher sind tiefer gehende politische Diskurse sowie an Zuschnitt und Wirkungen orientierte wissenschaftliche Untersuchungen erforderlich, um ein neues Verständnis von Beeinträchtigungen und Behinderung in der Zivilgesellschaft ebenso wie in den Fachwelten zu festigen.
Ein Problem entsteht dabei aus unklaren Definitionen und Bemessungsgrundlagen für "Behinderung". In Verbindung mit der mangelhaften Reflexion dieses Umstandes ergibt sich eine vielfach unpassende Sozialdatenlage. Davon zeugen etwa die ersten beiden Teilhabeberichte der Bundesregierung.[3] Sie offenbaren sich unter der Maßgabe einer neuen Sicht auf Behinderung explizit als Lückenberichte und spiegeln zugleich die neuen Erfordernisse wider, die sich aus der UN-BRK ergeben: Zum einen sind Indikatoren zur Messung der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen beziehungsweise Behinderung notwendig, um dem in Artikel 31 UN-BRK festgelegten Auftrag zu entsprechen, statistische und empirische Daten zur Lebenslage bei Behinderung zu gewinnen; zum anderen gilt es, politische Konzepte zur Umsetzung der UN-BRK auszuarbeiten und zu realisieren, die auch wissenschaftlichen Kriterien und Prüfungen standhalten können.
Parallel geht es sozialpolitisch um die Reform der Hilfeleistungen und Leistungsansprüche zugunsten einer partizipationsorientierten Steuerungspolitik sowie um einen dynamischen Kostenanstieg in der Eingliederungshilfe. Unter diesen Umständen sollen institutionelle Abhängigkeiten vermindert und die Handlungskompetenzen der jeweiligen Personen erhöht werden.[4] Dazu werden auch etablierte Grundsätze wie "ambulant vor stationär" aufgehoben und Grundregeln wie das Sachleistungsprinzip erschüttert.[5]
Flankiert werden diese Entwicklungen durch vermehrt aufkommende positiv besetzte Vielfaltsdiskurse auch in Deutschland und Europa. Heterogenität erscheint weniger als Störung eines erstrebenswerten Zustands von Homogenität einer Gesellschaft, sondern zunehmend sogar als gesellschaftliche Notwendigkeit und Ressource. Damit gewinnen die vielfach in Gruppen mit Diversitätsmerkmalen geäußerten, aber oft wenig im Zusammenhang wahrgenommenen Teilhabeansprüche zusätzliche Legitimation.[6]
Mit Blick auf die Identifizierung von Exklusionsrisiken und Inklusionschancen ist zunächst festzustellen, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen nach wie vor besonders von sozialer Ungleichheit betroffen sind: Charakteristische Faktoren, die das Risiko sozialer Exklusion signifikant verringern oder erhöhen, sind vor allem Einkommen, Erwerbsstatus und -umfang, Bildungsabschluss, berufliche Qualifikation, soziale Herkunft, familiäre Situation, Gesundheitszustand, Migrationshintergrund, Geschlecht und Alter.[7] Nach Berechnungen im Bundesteilhabebericht nimmt von den Menschen, bei denen schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen vorliegen, zwar knapp ein Viertel weitgehend unbehindert am gesellschaftlichen Leben teil. Gleichzeitig berichten aber fast genauso viele Menschen von teilweise massiven Teilhabeeinschränkungen aufgrund ihrer Beeinträchtigung. Die meisten von ihnen haben einen geringen Bildungsstand und vielfach keinen Berufsabschluss.[8] Auffällig ist zudem, dass genau dieser besonders vulnerable Personenkreis trotz chronischer Erkrankungen oft keine Anerkennung als "behindert" oder "schwerbehindert" beantragt hat. Sie werden somit auch nicht von den bestehenden Fördermaßnahmen erreicht und statistisch erfasst. Lösungen für wirksame Leistungen bei Unterstützungsbedarf müssen deshalb offensichtlich passgenauer gesucht werden, und auch die Auslagerung und Einbindung in besondere Orte etwa durch stationäre Unterbringung erscheint unter dem Aspekt von Teilhabegerechtigkeit fragwürdig.[9]
Mögliche Prüfsteine für Exklusionsrisiken und Inklusionschancen sind also die Einbindung in den Sozialraum oder der Zugang und der Verbleib im Arbeitsleben.[10] Aber ebenso stellt sich die generelle Frage nach Anerkennung als Gleichwertige und Gleichberechtigte bei bestehender Verschiedenheit und den möglichen Folgen.[11]