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"Sonderpädagogisierung der Inklusion" | Menschen mit Behinderungen | bpb.de

Menschen mit Behinderungen Editorial Eine Dekade UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland Leben in Zusammenhängen. Behinderung erfassen und Teilhabe messen "Sonderpädagogisierung der Inklusion". Artikel 24 UN-BRK und die Diskurse über die Entwicklung inklusiver Schulsysteme in Nigeria und Deutschland 50 behindertenbewegte Jahre in Deutschland Leidvermutung. Pränataldiagnostik und das Bild von Behinderung Kritik des Hörens. Zwei Perspektiven Die politische Situation von Gebärdensprachgemeinschaften Deaf Studies neu denken

"Sonderpädagogisierung der Inklusion" Artikel 24 UN-BRK und die Diskurse über die Entwicklung inklusiver Schulsysteme in Nigeria und Deutschland

Julia Biermann

/ 11 Minuten zu lesen

Mit Verabschiedung der UN-BRK wurde inklusive Bildung zum Menschenrecht. Die Varianz der damit verbundenen Reformaufgabe zeigt ein Blick auf ihre diskursive Verhandlung in Nigeria und Deutschland. Diese spiegelt in beiden Ländern trotz aller Unterschiede dieselbe Auffassung.

Mit der Resolution 61/106 verabschiedete die UN-Generalversammlung 2006 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, dessen Artikel 24 inklusive Bildung als globale Menschenrechtsnorm verankert. Damit stellt die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) den vorläufigen Höhepunkt eines jahrzehntelangen Bemühens zur systematischen Stärkung des Rechts auf Bildung für Menschen mit Behinderungen dar: Inklusive Bildung ist seitdem nicht mehr "nur" eine Strategie, die dazu beitragen soll, dass das globale Entwicklungsziel "Bildung für alle" erreicht wird, wie dies etwa in der Salamanca-Erklärung von 1994 festgehalten wurde; inklusive Bildung ist fortan ein Menschenrecht.

Bis heute haben 177 Staaten die UN-BRK ratifiziert und sich gemäß Artikel 24 dazu verpflichtet, inklusive Bildungssysteme sicherzustellen. Das sind nach Definition des Allgemeinen Kommentars zu Artikel 24 des UN-Fachausschusses über die Rechte von Menschen mit Behinderungen Systeme, die Kinder und Jugendliche nicht auf Basis einer Behinderung diskriminieren, sondern gleiche Chancen für alle verwirklichen. Die Vertragsstaaten sind damit aufgefordert, dafür zu sorgen, dass Kinder und Jugendliche nicht aufgrund einer Behinderung von Bildung ausgeschlossen werden, sondern gemeinsam mit ihren Peers in wohnortnahen Schulen lernen können. Perspektivisch impliziert diese Verpflichtung die Überwindung sowohl von Exklusion im Sinne der Verweigerung jeglichen Zugangs zu Bildung als auch von Segregation im Sinne der Trennung von Lernumwelten von Kindern und Jugendlichen aufgrund von Behinderungen, also den kontinuierlichen Abbau von Barrieren, die den Zugang zu und die gleichberechtigte Teilhabe aller an Bildung verhindern.

Artikel 24 UN-BRK enthält also einen Reformauftrag – die Vorgabe der Entwicklung inklusiver Bildungssysteme – und eine Reformagenda – das angestrebte Ergebnis der Verfügbarkeit und Zugänglichkeit aller Schulen für alle Kinder und Jugendliche. Zusammen bilden Reformauftrag und Reformagenda eine "Programmatik des Wandels", die Zweck und Ziel der Menschenrechtsnorm festhält und Bildungswandel in den Vertragsstaaten anleiten soll. Diese "Programmatik des Wandels" stellt die Vertragsstaaten zwar vor die gleiche Reformaufgabe, aber vor unterschiedliche Probleme, je nachdem, welche Schulen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen verfügbar und zugänglich sind. Über Letzteres entscheiden jene Regeln, Normen und Überzeugungen, die Schulsysteme als Institutionen stabilisieren und somit die Bildungsrealitäten hervorbringen, die gleichberechtigte Teilhabe behindern oder ermöglichen. Ebendiese sind folglich die "Objekte des Wandels".

Die globale Varianz der mit der Umsetzung von Artikel 24 UN-BRK verbundenen Herausforderung lässt sich exemplarisch am Beispiel von Nigeria und Deutschland zeigen. Als UN-BRK-Vertragsstaaten sind beide Länder gleichermaßen herausgefordert, wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise: Nigeria ist das Land mit der weltweit höchsten Zahl von Kindern und Jugendlichen, die nicht zur Schule gehen. Die absoluten Zahlen schwanken zwischen neun und 10,5 Millionen, das entspricht fast 30 Prozent aller schulpflichtigen Kinder, Tendenz steigend. Kinder mit Behinderungen sind in Nigeria bis zu dreimal häufiger exkludiert als ihre nichtbehinderten Peers; für sie gibt es kaum Vorkehrungen im öffentlichen System. Deutschland hingegen ist das Land mit einem der differenziertesten sonderpädagogischen Fördersysteme weltweit, wo Kinder mit Behinderungen hauptsächlich in Sonderschulen und damit getrennt von ihren Peers lernen. Zwei Drittel aller als behindert geltenden Schüler_innen, also sieben Prozent der Gesamtschülerschaft, lernen in Sonderschulen – eine Zahl, die über die vergangenen Jahre relativ stabil geblieben ist, trotz eines steigenden Anteils von Schüler_innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die in Regelschulen lernen.

Welchen Einfluss haben nun die in Artikel 24 UN-BRK verankerten Menschenrechtsideen auf die institutionellen Kräfte, die bisher in beiden Schulsystemen für Ausgrenzungen von Kindern und Jugendlichen auf der Basis von Behinderungen sorgen?

Bildungswandel und Diskurse

Für diese Frage ist es zentral zu verstehen, wie die in Artikel 24 UN-BRK enthaltenen Menschenrechtsideen in den institutionellen Wandel von Schulsystemen übersetzt werden. Dafür ist es notwendig, die kontextspezifischen Diskurse um inklusive Bildung zu analysieren. Diese Annahme basiert auf einem wissenssoziologischen Zugang zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit. Demnach verleihen Akteure durch ihre kommunikativen (Inter-)Aktionen der Welt Sinn, der durch Sprache vermittelt in Wissen gespeichert wird, also in symbolischen Ordnungen, die vorgeben und bestätigen, was passende Beschreibungen und angemessene Wahrnehmungen der Welt sind. Im Laufe der Zeit verfestigt sich dieses Wissen zu Institutionen, es wird also objektiviert in Regeln, Normen und Überzeugungen. Die Objektivierung von Wissen in Institutionen geschieht in und durch Diskurse – die regulierten Praktiken der Wissensproduktion, durch welche die Welt gewusst werden kann.

Wenn das von den Vertragsstaaten der UN-BRK gegebene Versprechen, inklusive Bildungssysteme sicherzustellen, eingelöst werden soll, muss sich demnach Wissen ändern, das bisher behinderungsbasierte Exklusion oder Segregation im jeweiligen Schulsystem legitimiert hat. Einer der Orte, an dem Wissen über die Bildung behinderter Kinder und Jugendlicher (re)produziert wird, sind die Debatten bildungspolitischer Akteure, also die Gruppe staatlicher und zivilgesellschaftlicher Organisationen, die über die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems sprechen und mit Bezug darauf handeln. Ihr Wissen bestimmt sowohl die Bedeutung, die Artikel 24 UN-BRK für Bildungswandel im jeweiligen Landeskontext hat, als auch die Richtung, die dieser Wandel einschlägt.

Inwiefern die in Artikel 24 UN-BRK eingelassene "Programmatik des Wandels" dazu beiträgt, dass sich das Sprechen und Wissen bildungspolitischer Akteure über die Beschulung von Schüler_innen mit Behinderungen verändert oder aber beständig bleibt, ist eine empirische Frage. Meine Untersuchung setzt daher an den bildungspolitischen Debatten über inklusive Bildung an, die in Nigeria und Deutschland auf Bundesebene stattfinden – der Ebene, auf der die UN-BRK in Deutschland 2009 und in Nigeria 2010 ratifiziert wurde. Trotz weitreichender Zuständigkeit der Bundesstaaten in Nigeria und der Bundesländer in Deutschland für Bildungsgesetzgebung sind Verhandlungen über die damit verbundene Herausforderung gerade unter bundespolitischen Akteuren zu beobachten. Diese sind in Übereinstimmung mit Artikel 33 UN-BRK damit beauftragt, den internationalen Menschenrechtsvertrag in innerstaatliches Recht zu überführen, einen nationalen Aktionsplan zu entwickeln und den Vereinten Nationen den ersten Staatenbericht vorzulegen.

Um zu zeigen, wie die aus Artikel 24 UN-BRK resultierende Reformaufgabe in beiden Ländern kurz nach der Ratifizierung diskutiert wird und was das für den Wandel des jeweiligen Schulsystems bedeutet, vergleiche ich die Fallstudien also im Hinblick auf die diskursive Verhandlung des Verhältnisses zwischen "Programmatik" und "Objekt des Wandels" bis 2015. Ziel ist es, die Wissenskonfigurationen zu rekonstruieren, die die Diskurse um inklusive Bildung in beiden Ländern tragen. Damit gebe ich einen Einblick in aktuelle Verhandlungen, nicht jedoch in die materiellen Aspekte dieses Wandels. Denn in diesen Verhandlungen wird ein Wandlungsprozess für das gesamte Schulsystem entworfen, der zu weitreichenden Umsetzungsprozessen führen kann, aber nicht muss, deren Auswirkungen erst viel später beobachtet werden können.

Das Textkorpus besteht in beiden Fällen aus Dokumenten relevanter bildungspolitischer Akteure, mit denen ich auch Experteninterviews geführt habe, also staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen, die auf Bundesebene im Bereich Bildungs- und Behindertenpolitik arbeiten und damit an der Übersetzung menschenrechtlicher Ideen über Inklusion beteiligt sind: Bundesregierungen, Bildungsministerien, Professionsverbände, Behindertenrechtsorganisationen, Menschenrechtskommissionen. In Nigeria habe ich zudem die Gruppe der internationalen Organisationen wie UNESCO und UNICEF einbezogen, da diese aktiv an der Gestaltung des Bildungswesens beteiligt sind. Für Nigeria habe ich ein Korpus von 39 Dokumenten und zwölf Interviews im Detail ausgewertet, für Deutschland ein Korpus von 53 Dokumenten und sieben Interviews. Die Auswertungen erfolgten auf Basis einer Kombination von wissenssoziologischer Diskursanalyse und Grounded Theory. In diesem Prozess fand eine Abstraktion der Originaldaten statt, da ich nach dem Typischen gesucht habe, das die Vielzahl der Äußerungen der Akteure im jeweiligen Land verbindet.

Im Folgenden stelle ich zentrale Ergebnisse des Vergleichs der Diskurse um inklusive Bildung vor. Der Fokus liegt dabei erstens auf den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Diskursen und zweitens auf ihrem Verhältnis zu der in Artikel 24 UN-BRK enthaltenen "Programmatik des Wandels".

Artikel 24 UN-BRK als Bezugspunkt

Der deutlichste Unterschied zwischen beiden Diskursen zeigt sich in Bezug auf die Rolle von Artikel 24 UN-BRK als Dokument. Während in Deutschland die Ratifizierung des Abkommens Anlass und Rahmen des Diskurses um inklusive Bildung ist, liegt in Nigeria ein anderer Kontext der Diskursproduktion vor: Hier setzt die bildungspolitische Debatte über Inklusion auf Bundesebene bereits bei der Implementierung des 2004 erlassenen Grundbildungsgesetzes (Free Compulsory Universal Basic Education Act) an, das jedem Kind das Recht auf neun Jahre Grundbildung garantiert. Daher habe ich den Zeitrahmen der Fallstudie zu Nigeria erweitert – sie beginnt nicht wie für Deutschland mit dem Jahr der Ratifizierung der UN-BRK, sondern 2004 mit der Verabschiedung dieses Gesetzes.

Die Implementierung des Grundbildungsgesetzes in Nigeria zielt auf Bildungsexpansion, um so dem übergeordneten Ziel sozioökonomischer Entwicklung zu dienen. Um das zu erreichen, wird die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems vorgeschlagen, das Sonderbildungsprogramme für besonders marginalisierte Gruppen umfasst. Dazu zählen sowohl Alphabetisierungsprogramme als auch nomadische Bildung, integrierter Koranunterricht und, mit Blick auf Kinder mit Behinderungen besonders relevant, sonderpädagogische Förderung. Wenn es um diesen letzten Aspekt geht, stehen behinderte Kinder und ihr Recht auf Bildung zwar im Zentrum der Debatten. Allerdings unterscheiden sich die Akteure hinsichtlich ihres argumentativen Zugangs: Internationale Organisationen und staatliche Akteure nähern sich dem Thema inklusive Bildung aus einer entwicklungsbasierten Perspektive, da sie das Bestreben nach Bildungsexpansion in den Fokus stellen; zivilgesellschaftliche Akteure, allen voran Behindertenrechtsorganisationen, nähern sich hingegen aus einer behinderungsbasierten Perspektive und stellen den Bedarf an (sonderpädagogischen) Unterstützungssystemen ins Zentrum ihrer Argumente.

In Deutschland ist die von der Ratifizierung der UN-BRK 2009 ausgehende Debatte um inklusive Bildung auf Bundesebene gekennzeichnet von Kontroversen über das Ausmaß des mit dem Ausbau des gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne Behinderungen verbundenen Wandels. Während sich zivilgesellschaftliche Akteure und Behindertenrechtsorganisationen dem Thema aus einer strukturtransformativen Perspektive nähern und die Überwindung segregierender Schulstrukturen fordern, argumentieren staatliche Akteure und Professionsverbände strukturkonservativ.

In Nigeria, wo Inklusion durch das internationale Entwicklungsziel "Bildung für alle" gerahmt wird, handelt es sich also um eine indirekte Form der diskursiven Aneignung der in Artikel 24 UN-BRK enthaltenen Wandlungsprogrammatik. Denn diese setzt an historischen Vorläuferdokumenten zur UN-BRK an, allen voran der Salamanca-Erklärung von 1994 und den Millenniumsentwicklungszielen von 2000, in denen die "Programmatik des Wandels" zwar bereits angelegt ist, aber noch nicht als Menschenrecht formuliert wurde. In Deutschland, wo die bildungspolitischen Verhandlungen hingegen an die Implementierung der UN-BRK gebunden sind, handelt es sich um eine direkte Form diskursiver Aneignung der globalen Wandlungsprogrammatik der UN-BRK.

Anvisierte Wandlungsprozesse

In beiden Diskursen wird die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems als globaler Reformauftrag anerkannt, jedoch werden damit unterschiedliche Ergebnisse angestrebt: In Nigeria geht es darum, Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen überhaupt Zugang zum öffentlichen Schulsystem zu verschaffen, in Deutschland geht es um einen Ausbau des gemeinsamen Lernens behinderter und nichtbehinderter Schüler_innen. Vor diesem Hintergrund kommt es in beiden Ländern zu einer Modifizierung der Reformagenda: In Nigeria reflektieren die Akteure das globale mit Inklusion angestrebte Ergebnis – alle Schulen für alle verfügbar und zugänglich zu machen – und kommen zu dem Schluss, dass dies aufgrund der von Exklusion geprägten Bildungsrealitäten und des Fehlens eines Unterstützungssystems für behinderte Kinder aktuell nicht erreichbar sei. Aus diesem Grund treten sie für die Institutionalisierung eines sonderpädagogischen Fördersystems mit Sonderschulen und Sonderklassen für Kinder mit Behinderungen ein. Die Schaffung eines solchen Systems, das für die besonderen Bedürfnisse behinderter Schüler_innen Vorkehrungen trifft, gilt als wichtiger Schritt, um sowohl das Recht auf Bildung von Menschen mit Behinderungen als auch das Entwicklungsziel "Bildung für alle" zu realisieren.

Diskursiv anvisierte Wandlungsprozesse zur Entwicklung inklusiver Schulsysteme

In Deutschland bleibt die Reformagenda "alle Schulen für alle" an sich kontrovers. Denn angesichts des bestehenden Förderschulsystems für Kinder mit Behinderungen stellt sich die Frage, wie bei einem Ausbau des gemeinsamen Lernens von behinderten und nichtbehinderten Kindern mit den vorhandenen Sonderstrukturen umgegangen werden soll. Während Kritiker_innen diese als das Haupthindernis für die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems identifizieren, sehen ihre Verteidiger sie als Garant für die Realisierung des Rechts auf Bildung für alle Kinder mit Behinderungen. So besteht Uneinigkeit darüber, ob der Ausbau des gemeinsamen Lernens eine grundlegende Transformation der Schulstrukturen verlangt oder lediglich einige Reformen. Obwohl Sonderschulen als ausschließliche Schulform für Kinder mit Behinderungen an Legitimität verlieren, gewinnen die in ihnen konzentrierten sonderpädagogischen Expertisen und Ressourcen an Bedeutung, da diese als wesentliche Voraussetzung für die Realisierung des gemeinsamen Lernens von Kindern mit und ohne Behinderungen in Regelschulen angesehen werden. So geht es bei der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems in Deutschland letztlich darum, das sonderpädagogische Fördersystem zum Teil in Regelschulen zu transferieren, um zukünftig mehr, aber nicht alle Kinder mit Behinderungen in diesen unterrichten zu können.

Die kontextuelle Besonderheit, die in beiden Diskursen als wesentlich für die Entwicklung eines inklusiven Systems hervorgehoben und zugleich als Grund für die jeweilige Abwandlung der globalen Reformagenda angeführt wird, bezieht sich in Nigeria auf die sehr niedrige und in Deutschland auf die sehr hohe institutionelle Kapazität zur Bereitstellung sonderpädagogischer Förderung für Kinder, die aufgrund einer Behinderung keinen Zugang zu Bildung oder Regelschulen erhalten. In beiden Diskursen spiegelt sich also die Annahme wider, dass die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems von einem sonderpädagogischen Fördersystem abhängt – in Nigeria aufgrund seines Fehlens und in Deutschland aufgrund seines hohen Institutionalisierungsgrades.

Fazit

Um die kontextuelle Angemessenheit von Wandlungsprozessen zur Umsetzung des Artikels 24 UN-BRK sicherzustellen, kommt es in beiden Diskursen somit zu einer "Sonderpädagogisierung der Inklusion". Die Hauptverantwortung für die Bildung von Kindern mit Behinderungen wird dabei in die Hände der sonderpädagogischen Institutionen und Professionen gelegt. Diese sollen die Probleme bewältigen, die entstehen, wenn Kinder mit Behinderungen in Nigeria Zugang zum Schulsystem erhalten und in Deutschland zu Regelschulen. Mit der "Sonderpädagogisierung der Inklusion" wird folglich die Richtung des Wandels vorgegeben: In Nigeria ist dies der Aufbau eines sonderpädagogischen Fördersystems und impliziert die Überwindung der Bildungsexklusion von Kindern mit Behinderungen durch ihre Segregation in Sonderschulen und -klassen; in Deutschland ist dies der Erhalt eines sonderpädagogischen Fördersystems und impliziert eine Fortsetzung der Segregation von Kindern mit und ohne Behinderungen zwischen Schulen, ergänzt um die Separation in Schulen.

Zwar ist damit die Aneignung des in Artikel 24 UN-BRK enthaltenen Reformauftrags in beiden Diskursen erfolgreich. Diese unterstützt jedoch bislang (noch) nicht die Umsetzung der global angestrebten Reformagenda. Das Ergebnis ist ein Paradox: Auf die globale Herausforderung inklusiver Bildung wird sowohl in Nigeria als auch in Deutschland mit einem sonderpädagogischen Fördersystem reagiert, das Kinder und Jugendliche mit Behinderungen von ihren Mitschüler_innen trennt, anstatt ein solches selektives System auf Basis einer an den internationalen Menschenrechten orientierten Bildungspolitik grundsätzlich infrage stellen zu können.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Theresia Degener, Das Recht auf inklusive Bildung als Menschenrecht, in: Kritische Justiz 4/2012, S. 405–419.

  2. Vgl. Gauthier de Beco, The Right to Inclusive Education According to Article 24 of the UN Convention on the Rights of Persons with Disabilities, in: Netherlands Quarterly of Human Rights 3/2014, S. 263–287; Valentina Della Fina, Article 24, in: dies./Rachele Cera/Giuseppe Palmisano (Hrsg.), The United Nations Convention on the Rights of Persons with Disabilities. A Commentary, Cham 2017, S. 439–470.

  3. Vgl. UN Doc. CRPD/C/GC/4 2016, S. 2.

  4. Vgl. ebd., S. 3; UN Doc. A/HRC/25/29 2013, S. 3f.

  5. Vgl. National Bureau of Statistics/UNICEF, Multiple Indicator Cluster Survey 2016–17, Survey Findings Report, Abuja 2017, S. 201.

  6. Vgl. Carina Omoeva et al., Out of School Children. Data Challenges In Measuring Access to Education, Washington, D.C. 2013, S. 63, S. 66; National Population Commission Nigeria/RTI International, 2015 Nigeria Education Data Survey, Washington, D.C. 2016, S. 15, S. 28; Azeezat Adedigba, Nigeria Now Has 13.2 Million Out of School Children – UBEC, 4.10.2018, Externer Link: http://www.premiumtimesng.com/news/top-news/288344-ubec.html.

  7. Vgl. Suguru Mizunoya/Sopie Mitra/Izumi Yamasaki, Towards Inclusive Education, Innocenti Working Paper 3/2016, S. 6.

  8. Vgl. International Organization of Migration, Needs Assessment of the Nigerian Education Sector, Abuja 2014, S. 42.

  9. Vgl. Kultusministerkonferenz, Sonderpädagogische Förderung in Schulen 2005 bis 2014, Berlin 2016, S. XIV, S. XVIff.; Justin J.W. Powell/Lisa Pfahl, Sonderpädagogische Fördersysteme, in: Ullrich Bauer/Uwe H. Bittlingmayer/Albert Scherr (Hrsg.), Handbuch Bildungs- und Erziehungssoziologie, Wiesbaden 2012, S. 721–739, hier S. 723f.

  10. Siehe dazu im Folgenden Julia Biermann, Comparing Article 24 UN CRPD’s Influence on Inclusive Education in Nigeria and Germany: Institutional Change in Educational Discourses, Dissertation, Humboldt-Universität zu Berlin 2018, gefördert durch die Friedrich-Naumann-Stiftung.

  11. Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M. 1969; Reiner Keller et al., Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, in: ders. et al. (Hrsg.), Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, Konstanz 2005, S. 7–21.

  12. Vgl. ders., Wissenssoziologische Diskursanalyse, Wiesbaden 2008, S. 235.

  13. Vgl. Richard W. Scott, Institutions and Organizations, Thousand Oaks 2008, S. 48.

  14. Vgl. Michel Foucault, The Archaeology of Knowledge, London 2002 (1969), S. 49f., S. 201.

  15. Vgl. Vivien A. Schmidt, Taking Ideas and Discourse Seriously, in: European Political Science Review 1/2010, S. 1–25.

  16. Vgl. Reiner Keller, Zur Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, in: ders./Inga Truschkat (Hrsg.), Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse, Wiesbaden 2013, S. 27–68; Kathy Charmaz, Constructing Grounded Theory, London 2014.

  17. Vgl. Julia Biermann/Lisa Pfahl, Ein nigerianisch-deutscher Vergleich sonderpädagogischer Klassifikationssysteme und schulischer Inklusion, in: Bildung und Erziehung 4/2018, S. 432–448.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Julia Biermann für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Universitäts-Assistentin am Institut für Erziehungswissenschaften der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. E-Mail Link: julia.biermann@uibk.ac.at