Wie robust ist das Grundgesetz? Ein Gedankenexperiment
Wer an der geltenden deutschen Verfassung etwas verändern will, braucht eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Das ist die erste und effektivste Antwort des Grundgesetzes auf die Frage nach seiner Robustheit. Die Verfassung verleiht der demokratisch gewählten Regierung und der sie stützenden Parlamentsmehrheit die Legitimation, Recht und Gesetz nach ihrem Willen zu verändern, aber es entzieht ihr dieselbe im gleichen Atemzug dort, wo es um sie selber geht. Zum Ändern der Verfassung kann man sich nicht wählen lassen. Dafür braucht der Wahlsieger eine Zweidrittelmehrheit, sprich: normalerweise die Mithilfe der im politischen Wettbewerb unterlegenen und damit zur Machtausübung gerade nicht legitimierten Opposition.Mit dieser Differenzierung zwischen dem Regelfall des gewöhnlichen, der Macht der Mehrheit unterworfenen Rechts und dem Sonderfall des einer Supermajorität vorbehaltenen Verfassungsrechts bringt das Grundgesetz sich selbst in Sicherheit vor den Mühlsteinen der politischen Auseinandersetzung um Mehrheit oder Minderheit. Die Verfassung schützt sich damit davor, in einer Paradoxieschleife zu landen: Sie ermächtigt die Mehrheit, ohne sich ihr auszuliefern. Damit macht sie sich robust für den politischen Normalbetrieb. Das Paradoxieproblem wird in den Extrem- und Ausnahmefall eines Fundamentalangriffs auf die "freiheitliche demokratische Grundordnung" abgedrängt, für den das Grundgesetz Instrumente der sogenannten wehrhaften Demokratie wie Ewigkeitsklausel, Parteiverbot und Verwirkung von Grundrechten parat hält, die allesamt selten oder nie praktisch werden und daher in ihrer Paradoxie aushaltbar erscheinen. Die Robustheit des Grundgesetzes wird dann zuvörderst oder gar nur noch in der Begegnung mit seinen erklärten Feinden zum Problem, musterhaft verkörpert im Nationalsozialismus und im Kommunismus als dem Anderen, mit der Verfassungsordnung des Grundgesetzes existenziell Unvereinbaren. In diesem Spannungsfeld spielte sich, vom SRP- und KPD-Verbot[1] bis zu den Debatten um Notstandsgesetze, RAF-Terror und Radikalenerlass, ein nicht geringer Teil der bisherigen Verfassungsgeschichte der alten Bundesrepublik ab.[2]
Wahlsieg ist kein Verfassungsänderungsmandat
Im achten Jahrzehnt der Geltungsdauer des Grundgesetzes ist diese Lösung, zwischen politischer Gegnerschaft und Verfassungsfeindschaft zu differenzieren und das eine zu ermöglichen und das andere auszuschließen, indessen prekär geworden, und zwar auf beiden Seiten. Auf der Ebene des Verfassungsschutzes haben das gescheiterte Verbot der verfassungsfeindlichen, aber zur Verfassungswidrigkeit zu schwachen NPD[3] sowie das eklatante Versagen der Sicherheitsbehörden im Fall der Neonazi-Terrororganisation NSU offengelegt, wie wenig auf die Instrumente der wehrhaften Demokratie mitunter Verlass ist, wenn die an sie gerichtete Erwartung, die Robustheit der liberalen demokratischen Verfassung in der Konfrontation mit existenzieller Feindschaft sicherzustellen, tatsächlich einmal praktisch wird. Weniger offen zutage liegt dagegen der Befund, dass auch auf der Ebene der regulären politischen Auseinandersetzung Anlass zur Beunruhigung über die Robustheit des Grundgesetzes besteht. Er zeigt sich, wenn man den Blick über den Geltungsbereich des Grundgesetzes hinaus auf das europäische und außereuropäische Ausland ausweitet.Zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bieten sich hierbei als Studien- und Vergleichsobjekte besonders an: Ungarn und Polen. In Ungarn besitzt als Folge eines sehr speziellen Wahlsystems seit 2010 (mit Unterbrechung) die Fidesz-Partei von Ministerpräsident Viktor Orbán eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da es in Ungarn keine zweite Kammer gibt, ist die Regierungsmehrheit damit gleichermaßen legitimiert, einfache wie verfassungsändernde Gesetze zu erlassen, ohne dabei auf die Opposition irgendeine Rücksicht nehmen zu müssen. Die Regierungsmehrheit hat auf dieser Basis nicht nur zahlreiche Verfassungsänderungen, sondern eine komplett neue, nach ihrem Willen gestaltete Verfassung in Kraft gesetzt, die bis ins Detail auf das Ziel zugeschneidert ist, den Machtverlust der Fidesz-Partei durch eventuelle künftige Mehrheitsverschiebungen möglichst unwahrscheinlich zu machen. In Polen hat dagegen die Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwość, PiS) unter Jarosław Kaczyński mit 38 Prozent der Stimmen zwar 2015 die Wahl gewonnen und eine absolute Mehrheit im Parlament erreicht, aber keine Mehrheit, die zur Änderung der polnischen Verfassung ausgereicht hätte. Diese ist immer noch die gleiche wie vor 2015; kein Buchstabe hat sich geändert. Und trotzdem ist es der Regierungsmehrheit gelungen, die Verfassungsordnung seither in weiten Teilen umzukrempeln und dem Interesse ihres Machterhalts zu unterwerfen.
Die Fälle Ungarn und Polen haben gemeinsam, dass die Unterscheidung zwischen Gesetzes- und Verfassungsänderung systematisch und radikal unterlaufen wird: in Ungarn durch ihre faktische Auflösung, in Polen durch eine auf Dauer gestellte Verfassungskrise. Wie das geschieht und was das für die Robustheit der jeweiligen Verfassung für Folgen hat, lässt sich beispielhaft am Schicksal der Verfassungsinstitution zeigen, die auch im Gefüge des deutschen Grundgesetzes eine Schlüsselrolle einnimmt: das Verfassungsgericht.
Der Fall Ungarn
In Ungarn begann die Fidesz-Regierung nach ihrem Wahlsieg 2010 früh damit, das bis dahin mächtige und selbstbewusste ungarische Verfassungsgericht[4] zu neutralisieren.[5] Als das Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig erklärte, mit dem die Fidesz-Regierung Abfindungen für ausgeschiedene Beamtinnen und Beamte mit einer 98-prozentigen Besteuerung rückwirkend wieder einkassieren wollte, entzog sie ihm flugs per Verfassungsänderung weitestgehend die Kompetenz, Steuer- und Haushaltsgesetze überhaupt auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen. Zuvor schon hatte die Fidesz-Mehrheit die Besetzung der Richterbank ins Visier genommen: Um sie mit eigenen Leuten füllen zu können, änderte sie die Praxis der Richterwahl und erhöhte die Zahl der Richterinnen und Richter von elf auf 15, was Fidesz die Möglichkeit gab, auf einen Schlag sieben neue Richter zu wählen. Die Wahl des Gerichtspräsidiums wurde dem Richterplenum entzogen und ebenfalls einer Zweidrittelmehrheit des Parlaments und damit der Fidesz-Fraktion überantwortet. Nachdem 2011 die neue, von der Fidesz-Mehrheit allein erarbeitete und beschlossene Verfassung in Kraft getreten war, sorgte Fidesz obendrein dafür, dass die gesamte bisherige Rechtsprechung des Gerichts seit 1989 ihre Bindungswirkung verlor – alle Grundsatzurteile aus der Vor-Fidesz-Zeit waren damit hinfällig.[6]Das ungarische Verfassungsgericht existiert weiter. Es wurde nicht abgeschafft oder ausgeschaltet, wie es etwa dem österreichischen Verfassungsgerichtshof 1933 widerfahren war. Es verhandelt und urteilt bis auf den heutigen Tag still und fleißig vor sich hin und verhilft gelegentlich auch mal Bürgerinnen und Bürgern zu ihrem Recht, sofern es sich nicht um einen politisch heiklen Fall handelt. Aber es hütet sich, ähnlich wie das russische Verfassungsgericht, dem Willen der Regierungsmehrheit in die Quere zu kommen.[7] Im Gegenteil, bisweilen ist es der Regierung verfassungspolitisch regelrecht zu Diensten: Als Regierungschef Viktor Orbán 2016 versuchte, seinen Abwehrkampf gegen die Aufnahme von Flüchtlingen als Auseinandersetzung zwischen nationaler Selbst- und europäischer Fremdbestimmung zu stilisieren und zu diesem Zweck den Schutz der "Verfassungsidentität" Ungarns gegen die EU in der Verfassung zu verankern, war es das Verfassungsgericht, das ihm nach einem gescheiterten Referendum und einer gescheiterten Verfassungsänderung[8] diesen Wunsch schließlich erfüllte.[9] Im November 2016 urteilte es, dass die Staatsorgane Ungarns keine europarechtliche Verpflichtung anerkennen dürften, die der konstitutionellen Identität Ungarns entgegenstehe,[10] und verschaffte Orbán auf diese Weise die willkommene Möglichkeit, sagen zu können, er dürfe rechtlich nicht, was er politisch nicht wollte. Der Anschein juristischer Korrektheit bleibt gewahrt, und die Regierung kann trotzdem tun, was sie will.[11]