Digitale Bildungsmedien im Diskurs. Wertesysteme, Wirkkraft und alternative Konzepte
- Words are never "only words"; they matter because they define the contours of what we can do.
- Slavoj Žižek,
First as Tragedy, Then as Farce (2009)
In diesem Beitrag liegt der Schwerpunkt auf den Diskursen über digitale Medien. In einem ersten Schritt werden zentrale Begriffe diskutiert, die die Debatten dominieren und die, so meine These, unsere Möglichkeiten, eine gerechtere Bildung zu entwickeln, einschränken. Anschließend werden alternative Konzepte und Möglichkeiten identifiziert, Bildung und Schule mit digitalen Medien zu gestalten.
Diskurselemente und potenzielle Wirkkraft
Die Diskurse über digitale Medien in der schulischen Bildung werden vor allem durch mediale Berichterstattung und Beiträge in sozialen Netzwerken, durch Texte der Bildungsmedienindustrie sowie durch bildungspolitische Dokumente geprägt. Zentrale Elemente lassen sich dabei besonders gut anhand der Fragen herausarbeiten, was unter "Digitalisierung" verstanden wird, welche Kompetenzen fokussiert werden, und welcher Darstellungs- und Ausdrucksweisen man sich bedient.Digitalisierung
"Digitalisierung" bedeutet im engeren Sinne, dass etwas, das analog vorliegt, in digitale Form gebracht wird. Gedruckte Bücher werden "digitalisiert", indem sie eingescannt und im digitalen Format zur Verfügung gestellt werden. Das bildungspolitische Begriffsverständnis geht über diese Ebene hinaus. So stellte die Kultusministerkonferenz (KMK) in ihrem Strategiepapier "Bildung in der digitalen Welt" im Dezember 2016 einleitend fest, dass die "zunehmende Digitalisierung aller Lebensbereiche (…) zu einem stetigen Wandel des Alltags der Menschen" führe.[1]
In Feuilletons werden regelmäßig Sinn und Unsinn der Digitalisierung der Schule diskutiert.[2] Selbst wenn dabei hervorgehoben wird, dass es bei der Digitalisierung nicht nur um die Ablösung analoger Verfahren gehe, also nicht allein darum, dass "digitale Medien und digitale Werkzeuge (…) an die Stelle analoger Verfahren treten", sondern auch um die Erschließung neuer Perspektiven und die Entwicklung neuer Fragestellungen,[3] wird durch das Suffix "-ung" die Digitalisierung als etwas versprachlicht, das nicht durch, sondern mit uns geschieht.
Die Kausalität scheint dabei klar: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene müssen vorbereitet werden, "um künftigen Anforderungen der digitalen Welt zu genügen".[4] Die Wortwahl stellt die Digitalisierung als einen externen Prozess dar, auf den wir Menschen wenig Einfluss haben; als etwas, das, ähnlich einem Tsunami, auf uns zurollt, Anforderungen stellt und dem begegnet werden muss. In einer solchen Lesart reagieren wir auf die Digitalisierung, statt zu agieren.
Vertreter der alternativen Position, nach der wir auf den digitalen Wandel nicht nur reagieren, sondern diesen auch gestalten können und sollen, finden sich unter anderem bei Verlagen, die den Blick "auf die Chancen und Möglichkeiten von digitalen Bildungsmedien" richten.[5] Globale Technologiekonzerne bilden weltweit, auch in Deutschland, sogenannte Bildungspioniere aus – wahlweise als "Apple Distinguished Educators", "Microsoft Certified Educators" oder "Google Certified Educators" bezeichnet. Ziel ist dabei beispielsweise, "den Lehr- und Lernprozess mit Apple Technologien [zu] transformieren" und "die Welt [zu] verändern",[6] beziehungsweise anderen Lehrkräften zu zeigen, was mit den jeweiligen Konzernprodukten im Bildungsbereich möglich sei.[7]
In vielen Ländern sind kommerzielle Akteure im Bereich von Bildungsmedien zu wichtigen Beratern der Politik avanciert, auch weil sie scheinbar als einzige eine Gestaltungskompetenz im Bereich des digitalen Wandels besitzen.[8] Dieser Anschein entsteht unter anderem durch einen Diskurs, der sich allein schon durch die Begriffssetzung zwischen den Polen bewegt, man könne auf eine "Digitalisierung" nur reagieren, einen "digitalen Wandel" dagegen gestalten. Steuerungs- und Entscheidungsprozesse, die einer öffentlichen und demokratischen Diskussion unterzogen sein sollten, werden so zunehmend von Akteuren aus der Privatwirtschaft getroffen, da diese "Gestaltung" versprechen.
Kompetenzen
Um den postulierten Anforderungen der digitalen Welt zu genügen, benötigen – so der bildungspolitische Konsens – Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene Kompetenzen. Digitale Bildungsmedien sollen in der Schule eingesetzt werden, um individuelle "Kompetenzen für ein Leben in der digitalen Welt" zu fördern.[9] Ministerien wie das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geben Studien in Auftrag, die "Kompetenzen für eine digitale Souveränität" herausarbeiten.[10] In politischen Positionspapieren wird digitaler Kompetenzerwerb unmittelbar mit gesellschaftlicher Teilhabe verknüpft: So definierte beispielsweise 2018 die Bundestagsfraktion von CDU und CSU digitale Kenntnisse als unverzichtbare "Schlüsselkompetenz für die Teilhabe in allen Bereichen (…) im Sinne eines selbstständigen und mündigen Lebens in der digitalen Welt", und die SPD-Bundestagsfraktion machte 2014 den Grund für "eine digitale Spaltung" weniger im fehlenden Breitbandausbau aus, sondern vielmehr in Unterschieden bei der "Verteilung von Kompetenz im Umgang mit digitalen Medien".[11] Den Schwerpunkt auf Kompetenzen setzte 2016 auch die KMK und legte für diese in ihrer Strategie einen Rahmen fest, der derzeit in die Praxis übersetzt wird. Zwei Aspekte können daran kritisch betrachtet werden.
Die Strategie enthält insgesamt 61 einzelne Kompetenzen, eingeordnet in sechs teils zusammenhängende Bereiche. Obwohl in der Strategie ein "Primat des Pädagogischen" ausgerufen wird, lässt sich bei 41 dieser Kompetenzen ein Primat des Technischen feststellen, etwa in dem Anspruch, eine "Vielzahl von digitalen Werkzeugen [zu] kennen und kreativ anwenden" zu können. Digitale Technologien werden zu Werkzeugen reduziert und zum Selbstzweck eingesetzt: Sie sollen kreativ genutzt werden, um sie kreativ nutzen zu können. Nur 15 Kompetenzen heben umfassendere Ziele hervor, zum Beispiel, "als selbstbestimmter Bürger aktiv an der Gesellschaft" teilzuhaben.[12] Aufschlussreich scheint hierbei die Entstehung des KMK-Kompetenzrahmens. Er wurde auf Basis unterschiedlicher Impulse entwickelt, vor allem auf Grundlage des Europäischen Referenzrahmens für digitale Kompetenzen.[13] Dieser war seinerseits strukturell an einem standardisierten Kompetenzrahmen für den Arbeitsmarkt der Informations- und Kommunikationstechnologie angelehnt; bei seiner Weiterentwicklung wurde der Fokus zudem verstärkt auf Arbeitssuchende und politische Entscheidungsträger gelegt, die durch seine Anwendung "training opportunities" identifizieren beziehungsweise das "Human Capital" ihres Landes messen könnten.[14]
Neben dem technologischen Fokus ist zu kritisieren, dass vor allem individuelle Kompetenzen als der Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe hervorgehoben werden. Dies vernachlässigt unsere Einbettung in soziale, ökonomische, politische und technische Strukturen beziehungsweise Infrastrukturen, die eine Teilhabe ermöglichen oder beschränken. Alternativbegriffe, die diese Verwobenheit hervorheben, sind beispielsweise radical digital citizenship, mit der gesamtgesellschaftliche Relationen zu Technologien sichtbar gemacht und emanzipatorische Praktiken für soziale Gerechtigkeit entwickelt werden können, oder critical digital literacies, die eine kritische Reflexion der ethischen, sozioökonomischen und politischen Aspekte der Technologienutzung umfassen – beispielsweise die gesellschaftlichen Implikationen aktueller Geschäftsmodelle, die persönliche Daten überwachen und monetarisieren.[15]
Insgesamt wird mit einem Fokus auf Kompetenzen die Diskussion zum Einsatz digitaler Medien in der Schule auf das Individuum gelenkt. Die Verantwortung für eine gelingende Zukunft wird den einzelnen Schülerinnen und Schülern zugeschrieben, während die gesellschaftlichen Dimensionen des Kulturwandels in den Hintergrund rücken: neue Kommunikations- und soziale Interaktionsformen, Ausschlussmechanismen, Aufmerksamkeitsökonomien, Zeitvorstellungen, Prekarisierungen, auf Nutzerdaten basierende Geschäftsmodelle, das algorithmische Bias oder die Verschiebung gesellschaftlicher Machtstrukturen, indem Dateninfrastrukturen Entscheidungen präfigurieren und Gerechtigkeitsvorstellungen destabilisieren.[16]
Metaphorik
"Holland macht uns vor, wie digitales Lernen geht."[17] Unter anderem mit diesen Worten wurden 2015 die in den Niederlanden entstandenen, nach dem ehemaligen Apple-Chef benannten "Steve Jobs Schulen" hochgepriesen. Gelobt wurden das selbstbestimmte Lernen, die hohe Motivation, der Spaß am Lernen, die Projektarbeit und die positive Atmosphäre. Neben iPads wurden in den Schulen Elemente der Robotik, der Künstlichen Intelligenz (KI) sowie der Augmented (AR) und Virtual Reality (VR) eingesetzt. Die Bildung in Deutschland dagegen, so die damalige Schlussfolgerung, "hinkt der Entwicklung noch meilenweit hinterher".[18] Sowohl in der Schlussfolgerung als auch in der metaphorischen Ausdrucksweise lassen sich bis heute exemplarisch ähnliche Diskurselemente herausarbeiten. So wurde etwa in einem Artikel der Wochenzeitung "Die Zeit" 2018 davor gewarnt, dass die deutsche Bildungspolitik die digitale Zukunft verpasse und dass jemand, der "die vergangenen Jahrzehnte im Tiefschlaf verbracht" hätte und in einem deutschen Klassenzimmer wieder aufwachen würde, den Eindruck bekäme, "die Welt sei fast wie früher".[19] Im ZDF wurde 2019 ein vergleichbares Bild gezeichnet: "Während um den Digitalpakt für Schulen gestritten wird, sind Lernsysteme mit Künstlicher Intelligenz längst einsatzbereit. Doch die Bildungspolitik verschläft die Entwicklung."[20]
Metaphern wie "verschlafen", "meilenweit hinterherhinken" oder "verpassen" bilden einen kompetitiven Rahmen, der Druck auf Bildungspolitik und -praxis ausübt. Diese müssten sofort handeln, um "aufzuwecken", "aufzuholen" und nichts zu "verpassen". Es geht weniger darum, wie die Bildungspolitik und -praxis handelt, sondern dass sie handelt; weniger darum, wie digitale Bildungsmedien eingesetzt werden, sondern dass sie eingesetzt werden. Die langfristigen Folgen der Einführung früherer "neuer" Bildungsmedien spielen kaum eine Rolle im Diskurs.
Dabei lohnt sich genau an dieser Stelle ein genauerer Blick. Denn speziell historische und ethnografische Studien zur Einführung von sogenannten neuen Bildungsmedien zeigen ein Scheitern an hohen Erwartungen als wiederkehrendes Muster weltweit. Es trat nicht nur beim Lehrfilm der 1920er Jahre, bei den teaching machines der 1960er Jahre oder aktuell bei der Einführung von beispielsweise Robotik, KI oder Tablets auf,[21] sondern ebenso bei den "Steve Jobs Schulen", die 2018 in Medienberichten kaum mehr positiv beurteilt wurden: "Heute sind kaum mehr iPad-Schulen übrig, den Namen ‚Steve Jobs‘ tragen sie längst nicht mehr (…) Basiswissen und -fähigkeiten wurden vernachlässigt. Kinder, die an andere Schulen wechselten, waren ihrer Gruppe weit hinterher." [22] Die Gründe dafür liegen, so die soziologischen Analysen, außerhalb der Technik: Das Leistungsprinzip und die strukturelle Funktion von Schule als Reproduktionsmechanismus für sozioökonomische Ungleichheit verunmöglichen die Erfüllung des Versprechens, dass neue Technologien zu radikalen Transformationen führen können.[23]