Roter Kosmos. Kulturgeschichte des Raumfahrtfiebers in der Sowjetunion
Kulturhistorische Wurzeln der Sowjetraumfahrt
Charakteristisch für die Vereinigten Staaten war, die gesamte Raumfahrtgeschichte als ein erbittertes Rennen, einen Wettkampf zwischen zwei verfeindeten Kontrahenten zu sehen und sie damit vollständig und einseitig in den Kontext des Kalten Krieges einzubetten. In der Sowjetunion jedoch lag die Hinwendung zum Kosmos und zur Raumfahrt historisch viel weiter zurück und speiste sich aus einer Vielzahl faszinierender Quellen.Philosophisch verwurzelt im 19. Jahrhundert, erhielten Ideen zum menschlichen Ausgreifen ins All gerade in der Zeit der Russischen Revolution von 1917 ungekannten Auftrieb.[8] Die Revolution und die darauffolgenden Jahre markierten eine Hochzeit überschießender utopischer Projekte und deutlich "raumübergreifender" Visionen. Viele Revolutionärinnen und Revolutionäre waren überzeugt, dass die Revolution nicht auf Russland beschränkt bleiben, sondern dass der Aufruf "Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" einen "roten Weltsturm" auslösen und schließlich zu einer allumfassenden Weltrevolution führen werde, die den gesamten Planeten von Grund auf verändern würde.
In diesem Zusammenhang wurde der Planet Erde in seiner ganzen welträumlichen Dimension ein wichtiges Element in der Bildsprache der ersten bolschewistischen Propagandaplakate.[9] Man ging davon aus, dass der sozialistische Neue Mensch sich in der zu errichtenden Welt von jeglicher Unterdrückung und Eingrenzung befreien werde. Die Weltrevolution als grenzüberschreitendes, transnationales Moment von welthistorischer Bedeutung werde, so hoffte man, sämtliche nationalen, ethnischen, religiösen und sozialen Grenzen niederreißen, ferne Kontinente zusammenwachsen lassen und schließlich die gesamte Erde zu einem "roten Planeten" umgestalten.
Doch die visuelle Kultur jener frühen Revolutionsjahre brachte nicht nur Hunderte von Plakatvariationen des Globus in Rot, in Ketten, mit titanenhaften Arbeitern, mit Lenin und Besen hervor. Die welthistorische Semantik und Befreiungsmetaphorik der bolschewistischen Bildsprache schoss immer wieder weit über die Weltkugel hinaus und bediente sich des Repertoires des Kosmos. Denn die vollständige Befreiung und totale Entgrenzung des Neuen Menschen würde im Endeffekt bedeuten, dass er über kurz oder lang nicht mehr nur an sein irdisches Dasein gebunden sein, sondern den Himmel erstürmen und schließlich sogar das Weltall erobern werde. Für diesen spezifisch sowjetischen šturm neba – den titanenhaften Himmelssturm – lässt sich kein US-amerikanisches oder westeuropäisches Pendant finden. Es handelte sich um eine grundlegend neue Sichtweise auf die Welt und den Kosmos.
Im revolutionären Himmelssturm schlummerten auch atheistische Vorstellungen von der Entsakralisierung und Säkularisierung des Himmels. Mit vereinten Kräften würde es gelingen, den bislang unberührten, sakralen Himmelsraum zu erobern und sich so den Weg zur Selbstperfektion und Selbstvergöttlichung zu bahnen. Der schwärmerische Ausblick auf den Kosmos suggerierte, dass mit der bevorstehenden "letzten Entscheidungsschlacht" der endgültige Sieg über die Erde errungen sein werde und man bald schon – nach einer letzten gemeinsamen Anstrengung – weiter in neue galaktische Sphären fortschreiten könne. Der Blick in die vielverheißende kosmische Zukunft sollte die zeitgenössischen Entbehrungen, die durch Bürgerkrieg, Hunger und Versorgungsknappheit entstanden waren, erträglicher machen (Abbildung 1).[10]

Eine Begeisterung für den Kosmos und das Ausgreifen in bisher unbekannte und ungekannte Sphären erfasste nach der Revolution nicht nur die bolschewistische Plakatkunst, sondern ganz unterschiedliche Kreise der Bevölkerung. Werke der künstlerischen Avantgarde in Literatur, Film und Architektur kreisten häufig programmatisch um den Kosmos.[11] Besonders bekannt wurden die Schwerelosigkeit der fliegenden Objekte in Bildern von Kasimir Malewitsch, El Lissitzky und Alexander Rodtschenko oder die fliegenden Städte von Georgi Krutikow. Populär gemacht hatte das Raumfahrtthema bereits Alexander Bogdanow mit seinen Science-Fiction-Romanen "Der rote Stern" (1908) und "Ingenieur Menni" (1912). Die aufwendige Verfilmung des Marsromans "Aelita" (1922/23) von Alexei Tolstoi erlangte besondere Berühmtheit.