Phantasie, Projekt, Produkt
Astrokultur und der Weltraum des 20. Jahrhunderts
Alexander C.T. Geppert
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Der Weltraum war nicht immer da, sondern ist ein Produkt des 20. Jahrhunderts. Lange vor dem Kalten Krieg entstand im Wechselspiel von Astrokultur, Zukunftsdenken und Raumfahrttechnik ein Imaginationsraum, der bis heute als Projektionsfläche und Sehnsuchtsort fasziniert.
Wie jede oberflächlich erforschte Geschichte ist auch die des Weltraums, der Raumfahrt und des außerirdischen Lebens voller Kitsch, Klischees und Halbwahrheiten. Seit jeher, lautet die Meistererzählung, habe der Mensch von den Weiten des Weltalls und einer Zukunft in den Sternen geträumt, am Lagerfeuer sitzend über mögliche Bewohner fremder Planeten sinniert und sich später aufgemacht, die ihm von der Natur gesetzten Grenzen mit Mitteln der Technik zu überwinden. Schriftsteller wie Jules Verne, H. G. Wells und Kurd Laßwitz hätten gegen Ende des 19. Jahrhunderts erste konkrete Visionen zur Überwindung der "final frontier" entwickelt und der Umsetzung dieser jahrhundertealten Phantasien den Weg in die Moderne gewiesen. Effektiv eingesetzt habe die "Eroberung" des Weltraums aber erst zwei Weltkriege später, am 4. Oktober 1957, als der sogenannte Sputnikschock die Welt erschüttert, den Auftakt zu einem "Wettlauf" der beiden im Kalten Krieg verhakten Supermächte gebildet und im Osten wie im Westen das vielbeschworene space age eingeläutet habe. Nur zwölf Jahre darauf, am 20. Juli 1969, sei der uralte Menschheitstraum mit der Mondlandung endlich in Erfüllung gegangen, allerdings nur ansatzweise, denn anschließend seien die kosmischen Kolonisierungsbemühungen wieder eingeschlafen.
Grundsätzlich sei ein derartiges Vordringen in den unsere Welt umgebenden Raum – den Weltraum, wie er nur im Deutschen heißt – Ausdruck und Folge eines angeborenen Forschungsdrangs und der conditio humana, argumentieren Raumfahrtenthusiasten und Weltraumgläubige gerne, und wenn die weitergehende Exploration oder gar Kolonisierung unbekannter Planetenwelten behindert statt befördert werde, hätte das über kurz oder lang fatale Folgen für unsere irdische Zivilisation. Mit unterschiedlichen Varianten dieses Arguments versuchen etwa die drei superreichen "Astropreneurs" der Gegenwart – Jeff Bezos (Amazon/Blue Origin), Richard Branson (Virgin Galactic) und Elon Musk (Tesla/SpaceX) – seit wenigen Jahren, alte Eskapismusphantasmen neu zu beleben, um ihre privaten Expansionsträume als Weltrettungsprojekte zum Wohle der Menschheit zu verkaufen, auch angesichts der Klimakatastrophe.
Es liegt in der Natur abgeschliffener Meistererzählungen wie dieser, nicht komplett falsch, aber eben auch nicht wirklich richtig zu sein. In diesem Fall verstellt das Narrativ einer ebenso konsekutiven wie linearen, dann auf dem Höhepunkt plötzlich umkippenden, wenn nicht gar abbrechenden "Eroberung" des Weltraums den Blick auf die Unwägbarkeiten und Kontingenzen, vor allem aber die Grenzen eines ohnehin nur sehr partiell und ungleichmäßig vollzogenen Erschließungsprozesses. Zutreffend ist, dass der Weltraum das 20. Jahrhundert tief greifend geprägt hat – und das 20. Jahrhundert den Weltraum. Er war und ist Objekt von Faszination, Staunen und Sehnsucht, Projekt wie Produkt, und das sowohl vor dem 4. Oktober 1957 als auch in anderen Weltregionen als den USA und der (ehemaligen) Sowjetunion.
"Space is there", proklamierte John F. Kennedy in seiner vielzitierten "We choose to go to the moon"-Rede im September 1962 – und irrte. Anders als von Kennedy behauptet, war der Weltraum nicht einfach immer schon da und harrte Anfang der 1960er Jahre seiner Eroberung. Vielmehr war er trotz – oder gerade wegen – seiner physischen Unzugänglichkeit lange vor Beginn des Kalten Krieges erfunden, erdacht und konzipiert, zugleich militarisiert und politisiert worden. Von einer reinen Projektionsfläche und einem ursprünglich toten Ort – dem religiös konnotierten Jenseits – entwickelte er sich zu einem tief gestaffelten, die Erde umgebenden räumlichen Gebilde inklusive spezifischer Ortsmarkierungen. Indem der Mensch in den Weltraum ausgriff, eignete er sich seine kosmische Umwelt an und gestaltete sie nach eigenen Vorstellungen neu. Der Weltraum entstand damit im Verlauf des 20. Jahrhunderts als gedachter, vielgestaltiger Raum und wurde geschichtsmächtig. Deutlich präziser wäre es daher, nicht nur zwischen auch geografisch unterschiedlich gelagerten Konjunkturen des Weltraumdenkens, sondern einer Vielzahl verschieden ausstaffierter Welträume zu unterscheiden, von denen die hier bewusst überspitzt skizzierte Spielart nur eine neben möglichen anderen darstellt.
Phantasie
1942, im selben Jahr, als eine im deutschen Peenemünde gestartete V-2/A4-Rakete zum ersten Mal die Höhe von 84,5 Kilometern erreichte und damit an die 100-Kilometer-Grenze zum Weltraum stieß, diagnostizierte Carl Schmitt eine "planetarische Raumrevolution", die den gesamten Globus erfasst und die dritte Dimension als gänzlich "neuen Elementarbereich menschlicher Existenz" erschlossen habe. 1945 beantwortete Pierre Teilhard de Chardin in einem "Leben und Planeten" überschriebenen Aufsatz die Frage, was auf der Erde vor sich gehe, mit einem Ausblick darauf, was er als "Planetarisierung" der Menschheit bezeichnete. Und Helmuth Plessner erklärte in einem im Oktober 1949 im Bayerischen Rundfunk gehaltenen Radiovortrag die "Weltraumschiffahrt" der Zukunft zu einer Provokation, von der ein "Schock für unser Weltgefühl" ausgehen und die Relativierung der bestehenden Umweltbezüge des Menschen zu erwarten sei, da nur aus einer extraterrestrischen Position die Einheit der Erde erfahrbar werde. Entzauberung des Himmels und Säkularisierung der Erde seien der für die neu vermenschlichten Räumlichkeiten um den Heimatplaneten herum zu entrichtende Preis: Die Eroberung des Weltraums "nimmt uns den Himmel, aber sie schenkt uns dafür den Raum einer grenzenlosen Freiheit."
Bei allen offenkundigen, nicht zuletzt politischen Unterschieden war den drei Philosophen gemeinsam, dass sie bereits in den 1940er Jahren die Rück- und Auswirkungen von Weltraum und Raumfahrt auf Gesellschaft und Kultur, insbesondere den zu erwartenden Blick von außen, erkannten und durchdachten, und das lange vor dem Start des Sputnik 1957, nach konventioneller Zeitrechnung der Beginn des space age. Was in der Rückschau ungewöhnlich weitsichtig und vorausschauend anmuten mag, erklärt sich aus der großen Popularität der Astrokultur während der unmittelbaren Nachkriegszeit, dem sprichwörtlichen "golden age of space travel". Mit Beginn des Weltraumzeitalters schienen sich die Visionen einer Zukunft in den Sternen Schritt für Schritt zu realisieren, die die etwa hundert space personae, die westeuropäischen Weltraum-Experten um Hermann Oberth, Willy Ley, Arthur C. Clarke, Wernher von Braun und viele andere auf Grundlage älterer, utopisch-literarischer Szenarien seit den späten 1920er Jahren im transnationalen Austausch entwickelt, mediengerecht aufbereitet und unermüdlich propagiert hatten.
Jetzt, nach Ende des Zweiten Weltkrieges, fanden astrokulturelle Phantasien räumlicher Expansion den Weg in eine breite Öffentlichkeit. Nicht nur in der Philosophie, sondern auch in Publikumsmedien war das für die nahe Zukunft erwartete "Ende der Unendlichkeit" großes Thema. "Der Weltenraum ist nicht mehr unerreichbar", erklärte ein Kolumnist der Zeitschrift "Kristall" 1948: "Ich glaube, daß der erste Weltraum-Fahrer schon unter uns lebt. Er weiß nur noch nicht, daß er eines Tages als erster Mensch die Erde verlassen und sein Raumschiff auf den Mond oder den Mars lenken wird." Andere kritisierten solche Prophezeiungen als unrealistische Träume moderner "Utopisten", die "das ganze Planetensystem zu Kolonien der Erdmenschen machen" wollten. Und eine dritte, kaum weniger transnational vernetzte Gruppe deutete das plötzliche Auftauchen der seit Mitte 1947 weltweit beobachteten "Fliegenden Untertassen" als Zeichen, dass vor allen menschlichen Kolonisierungsmissionen ohnehin erst einmal mit Gegenbesuch aus dem All zu rechnen sei.
Als zentrales Medium der Eroberung des Weltraums und des Durchspielens aller denkbaren Kontaktszenarien erwies sich neben dem gedruckten Wort und einem von Zeichnern wie Chesley Bonestell, Ralph Andrew Smith, Klaus Bürgle, Erik Theodor Lässig und Andrei Sokolow geschaffenen neuen Genre technofuturistischer Weltraumgebrauchsgrafik vor allem der abendfüllende Spielfilm. Auf frühen Science-Fiction-Klassikern wie "Die Reise zum Mond" (1902), "Die Entdeckung Deutschlands" (1916), "Das Himmelsschiff" (1918), "Aelita" (1924), "Wunder der Schöpfung" (1925), "Kosmische Reise" (1936) und vor allem Fritz Langs "Frau im Mond" (1929) aufbauend, war der Weltraum als Spielplatz wissenschaftlicher Phantasien fest im internationalen Nachkriegskino etabliert. Zahlreiche Autobiografien späterer Ingenieure, Wissenschaftler und Raumfahrer vermitteln einen Eindruck von der Faszination, die diese entrückten Bildwelten ausübten.
Der Kalte Krieg ließ diese alten Träume immer wirklicher wirken, nicht zuletzt in der Propaganda der Systemkonkurrenten. Ein Werbeaufmarsch von acht "Mondmenschen" auf dem Berliner Kurfürstendamm anlässlich der Vorführung des US-amerikanischen Science-Fiction-Films "Endstation Mond" auf den ersten internationalen Filmfestspielen 1951 verdeutlicht den ebenso zukunftsweisenden wie eskapistischen Reiz solcher frühen space operas, gerade im Kontrast zu den drei mitlaufenden Jungen in kurzen Hosen auf der rechten Bildseite und der zerstörten Gedächtniskirche im Hintergrund (Abbildung 1). Der auf den phantastisch-realistischen Bildwelten des Grafikers Chesley Bonestell beruhende und von George Pal produzierte Farbfilm wurde nicht nur mit einem Oscar für Spezialeffekte, sondern auch mit einem Bronzenen Bären ausgezeichnet. Ähnlich wie bei Langs internationalem Zwischenkriegserfolg "Frau im Mond" waren technische Präzision und größtmögliche Plausibilität erklärtes Ziel, und in der Tat sind gerade die Mondlandungsszenen erstaunlich nahe an den Fernsehbildern, die man vom Juli 1969 kennt. "Das Ergebnis ist eine Art Dokumentarfilm, der dem gut informierten Raumfahrt-Freund ein anregendes Porträt des bemannten Raketenflugs in das Weltall zeigt, dem Publikum aber zum erstenmal den unvergeßlichen Eindruck von der Weite des Raumes und der nüchternen Realistik der Raumfahrt vermittelt", zeigte sich der Publizist Heinz Gartmann vom erzielten Realismus beeindruckt, und die Londoner British Interplanetary Society organisierte eigene Filmvorführungen, um in der Öffentlichkeit für ihre Zwecke zu werben. "This is the end … of the beginning", versprach der Abspann.
Während die Technikexperten die silbrig glitzernde Rakete bewunderten, wurden dem breiten Publikum die unermesslichen Weiten des Weltalls als sich in Kürze öffnender Handlungsraum vor Augen geführt. Die Mischung aus anti-sowjetischen Drohgebärden ("The first country that can use the moon for the launching of missiles will control the earth") und in unverhohlen imperialer Rhetorik vorgetragenen Zukunftsversprechungen auf ein Leben jenseits der Erde fand breite Resonanz in einer Öffentlichkeit, die im Krieg schmerzhaft die Leistungsfähigkeit neuer Großtechnologien hatte erfahren müssen und für die jetzt, nach Kriegsende, eine Neujustierung des gesellschaftlichen Konsensmodells überlebensnotwendig war. Der Kalte Krieg war auch ein Krieg um die Zukunft, und diese fand im Weltraum statt.
Grundlage der interstellaren Expansionsphantasien und kosmischen Kolonisierungsträume der westlichen Nachkriegsgesellschaften waren die beiden wichtigsten technischen Innovationen, die noch während des Zweiten Weltkrieges entwickelt worden waren und binnen Kurzem als Signen des neuen Zeitalters fungierten: die Atombombe und die Rakete. Obgleich ursprünglich demselben militärischen Entstehungszusammenhang entstammend, lösten sich die Versprechungen des Atom- wie des Weltraumzeitalters in der öffentlichen Debatte schnell voneinander ab. Es gab immer wieder Auseinandersetzungen um Sinnhaftigkeit und Modalitäten der Raumfahrt, insbesondere über Fragen der Finanzierung, gleichwohl war deren gesellschaftliches Konfliktpotenzial anders als im Falle von Atombombe und Kernkraft gering und blieb auf einzelne Kritiker wie den Physiker und Nobelpreisträger Max Born beschränkt. Selbst gegen die als Folge des Kalten Krieges fortwährend bedrohlichere Militarisierung des Weltraums formierten sich bis zum NATO-Doppelbeschluss und Ronald Reagans phantastischen "Star Wars"-Plänen im Rahmen seiner Strategic Defense Initiaitve (SDI) Anfang der 1980er Jahre kein überindividueller Protest oder transnational organisierte Anti-Raumfahrtbewegungen. In den Ostermärschen stand die Aufrüstung, nicht so sehr der Erdorbit im Zentrum, und wenn doch, stellte der Weltraum keine Bedrohung, sondern ein zu schützendes Sanktum dar ("Den Himmel von Raketen frei/Christen gegen SDI!").
Lange waren sich Experten wie Laien einig, dass es sich beim kollektiven Ausgreifen in die räumliche Unendlichkeit um eine Frage der Zeit handelte, waren die technischen Möglichkeiten doch gegeben und galten als ebenso unbegrenzt wie das in Wissenschaft, Technik und den zivilisatorischen Fortschritt gesetzte Vertrauen. "Der Mensch hat seine Nase bereits in den Raum hinausgesteckt", verkündete der deutsch-amerikanische Staringenieur Wernher von Braun: "Er wird sie nicht wieder zurückziehen."
Projekt
Zur Historisierung des Weltraums ist es notwendig, aber nicht hinreichend, diesen als unbegrenzten Imaginationsraum zu begreifen. Um die Furcht vor kosmischer Leere und menschlichem Alleinsein im Universum zu überwinden, stehen den unendlichen Weiten des Alls unzählige Versuche seiner technischen Erschließung gegenüber, in der Vorstellung genauso wie in Gestalt einer wachsenden Anzahl nationaler und internationaler Raumfahrtprogramme. Dass Weltraumdenken und Astrokultur beständig zwischen dem oszillieren, was gemeinhin mit den Antonymen science beziehungsweise fiction bezeichnet und ebenso in unmittelbarer Nähe verortet wird wie zugleich in weiter Ferne liegt, erklärt ihre ungeheure und anhaltende Faszinationskraft. Indes ist der Weltraum nicht nur Gegenstand kollektiver Phantasie, sondern auch technoszientistisches Menschheitsprojekt des 20. Jahrhunderts.
"Was geschieht im Weltall?", fragte die Zeitschrift "Scala International" im Februar 1961, dreieinhalb Jahre nach der Stationierung des ersten künstlichen Satelliten im Erdorbit und zwei Monate vor dem ersten bemannten Raumflug (Abbildung 2). Wie Elektronen einen Atomkern umkreisten auf dem Titelbild des Grafikers Erik Theodor Lässig vier kurz zuvor im Erdorbit stationierte Satellitensysteme die Erde und versinnbildlichten die von der Zukunft erwartete Entwicklung hin zu einem gleichmäßig erschlossenen und verflochtenen Planeten sowie die Verschränkung des Atom- und des Weltraumzeitalters, mit Europa als Mittelpunkt. "Mag dem Menschen irgendwo eine Grenze im Weltall gesetzt sein – wir wissen es nicht", erklärte der dazugehörige Bericht: "Ganz sicher gehört jedoch schon morgen ein Teil davon zu seinem Lebensraum und erschließt ihm vollkommen neue Möglichkeiten, die heute schon nicht mehr in den Bereich utopischer Phantasie gehören, sondern jeden einzelnen von uns in seiner privatesten Sphäre treffen werden." Im Frühjahr 1961 noch fiktional, konstituierte die auf dem Höhepunkt des Weltraumzeitalters erfolgte Perspektivenumkehrung die Einheit des Planeten Erde.
Was im Weltall "wirklich" geschah, war nicht nur die Erschließung der erdnahen Um-Welt durch Wissenschaft und Technik, sondern die Erschaffung des Weltraums selbst. Während Filmkritiker und Cineasten in den frühen 1950er Jahren stritten, ob das Weltraumkino alle Möglichkeiten extraterrestrischen Er- und Überlebens nicht längst erschöpfend durchgespielt und seinen Zenit überschritten habe, zumal erste Parodien in den Lichtspielhäusern zu sehen waren ("Abbott and Costello Go to Mars", 1953), verfestigte sich auf der Erde der Eindruck einer ungeheuer beschleunigten und zielgerichteten Entwicklung. "Satelliten, Weltraumstationen, Flug nach dem Mond – das sind die aktuellen, jetzt schon fast ‚offiziellen‘ Schritte zur Weltraumfahrt", beschrieb Gartmann 1956 eine solche Extrapolation in die Zukunft, während das Technikmagazin "Hobby" die vermeintliche Pfadabhängigkeit des Schritt für Schritt abzuhakenden "Weltraumfahrplans" als "Abenteuer nach Kursbuch" pries.
Die schnelle Abfolge ingenieurtechnischer Marksteine konnte in der Tat als atemberaubend empfunden werden. Ein space first jagte das nächste: der erste künstliche Satellit (4. Oktober 1957), das erste Lebewesen (3. November 1957) und der erste Mensch im Erdorbit (12. April 1961), der erste "Spaziergang" außerhalb der schützenden Kapsel (28. März 1965), das erste Andockmanöver zweier Raumschiffe (16. März 1966), die erste Mondumkreisung (24. Dezember 1968) und, als Krönung, der erste Mensch auf dem Mond (20. Juli 1969). Diese konsekutiven Schritte eines "Vorstoßes in die Unendlichkeit" schienen sowohl die Validität der früheren Expansionsszenarien zu bestätigen als auch die unentrinnbare Logik der dem space age inhärenten linearen Entwicklung zu belegen. Dass je eine Hälfte der technischen Errungenschaften dem sowjetischen, die andere dem US-amerikanischen Raumfahrtprogramm gutgeschrieben wurde, hielt das Rennen bis etwa Mitte der 1960er Jahre offen und verstärkte das Gefühl planbaren, fast zwangsläufigen Voranschreitens. Vom Sputnik-Start bis zur Mondlandung vergingen nicht einmal zwölf Jahre, von Juri Gagarins Raumflug bis zu Neil Armstrongs Ausstieg aus der Landefähre acht. Währenddessen verhundertfachte sich die jenseits der Erdatmosphäre verbrachte Zeit von 108 Minuten auf 195 Stunden.
Für etwa ein halbes Jahrhundert, von der Zwischenkriegszeit bis zum Ende des Apollo-Programms 1972, fungierte der Weltraum so als Fluchtpunkt extraterrestrischer Zukünfte. Die Mondlandung erwies sich als spektakulärer Wendepunkt, nicht jedoch im zuvor prophezeiten Sinne. Was von einem Fernsehsender als "the end of the beginning" angekündigt und von US-Präsident Richard Nixon als "the most significant week in the history of the world since Creation" gefeiert wurde, markierte effektiv den Anfang vom Ende des Weltraumzeitalters. Nachdem mit der ersten der insgesamt sechs Landungen die technische Machbarkeit nachgewiesen war, sank das Interesse der Öffentlichkeit rapide. Mond-Fieber wie Apollo-Rausch verflogen. Die astrokulturellen Phantasien und die allen Expansionsszenarien inhärenten Versprechungen des space age wurden im Post-Apollo-Zeitalter zum Problem. In der Imagination war der Weltraum längst so umfassend erobert, dass das bloße Erreichen des Mondes ohne realistische Pläne für eine dauerhafte Besiedlung die geplante Zwischenetappe zur Endstation machte.
Aus einer dezidiert europäischen Perspektive mutet es fast schon ironisch an, dass das europäische Raumfahrtprogramm – Gründung der European Space Agency (ESA) im Mai 1975, erster erfolgreicher Start einer Ariane-Trägerrakete im Dezember 1979, erster Einsatz des europäischen Spacelab-Moduls an Bord eines US-amerikanischen Space Shuttle im November 1983 – nach organisatorisch komplizierten und wenig glücklichen Anfängen gerade zu dem Zeitpunkt an Fahrt aufzunehmen begann, als die jahrzehntelange Begeisterung für eine Zukunft in den Sternen abgeebbt und einer "allgemeinen Weltraummüdigkeit" Platz gemacht hatte.
Produkt
Mit der unerwarteten Ziellosigkeit der Raumfahrt der 1970er Jahre ging im Westen weitreichende Ernüchterung, wenn auch keine komplette Entzauberung einher. Weltraum- und Zukunftsdenken lösten sich voneinander, und der Weltraum büßte an gesellschaftlicher Popularität wie kultureller Prägekraft ein. Selbst wenn sowohl interessierte Kreise aus dem diffusen Umfeld der verschiedenen Weltraumagenturen als auch neu gegründete Lobbygruppierungen wie die L5 Society ihre Propagandabemühungen forcierten, war die zuvor weit verbreitete Hoffnung einer bevorstehenden Besiedlung der Sterne nicht länger gesellschaftlicher common sense. "Ist vielleicht auch das Ende der eben erst mit so großem Optimismus anhebenden Raumfahrt schon in Sicht? (…) Wird darum, wer heute 10 Jahre alt ist, noch erleben, wie die Astronautik in Ermangelung weiterer erreichbarer Ziele einfach wieder einschläft?", kritisierte der Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth 1970 die "kosmische Quarantäne", in die sich die Menschheit wieder zurückgezogen habe, als Rückkehr zu einem bereits überwunden geglaubten Zustand selbstverschuldeter Unmündigkeit.
Und in der Tat hat sich seit Dezember 1972 kein Mensch weiter als wenige Hundert Kilometer vom Planeten Erde entfernt und ist schon gar nicht zum Mond zurückgekehrt. Immer wieder ist zu lesen, dass ohnehin nicht die Landungen selbst, sondern die bei dieser Gelegenheit eher ungeplant entstandenen Schnappschüsse des Heimatplaneten ihr eigentlicher Ertrag gewesen seien, Souvenir und Vermächtnis zugleich. Als Gewährsmann wird gewöhnlich ein weiterer Philosoph angeführt, Günther Anders. Das entscheidende Ereignis der Raumflüge, formulierte Anders 1970, bestand "nicht in der Erreichung der fernen Regionen des Weltalls oder des fernen Mondgeländes (…), sondern darin, daß die Erde zum ersten Mal die Chance hat, sich selbst zu sehen, sich selbst so zu begegnen, wie sich bisher nur der im Spiegel sich reflektierende Mensch hatte begegnen können." Verkürzt gesprochen, habe die Perspektivumkehrung eine Rückbesinnung auf den Planeten Erde zur Folge gehabt, ein neues Bewusstsein für dessen Fragilität geschaffen und damit zur Genese der Ökologie- und Umweltbewegung der 1970er Jahre beigetragen.
So zutreffend diese etwas abgedroschene Beobachtung auch sein mag, so sehr steht sie doch nur für eine Seite des sogenannten Post-Apollo-Paradoxes. In der Tat lässt sich in den Nach-Apollo-Jahren eine regelrechte Blickumdrehung nachweisen, von einer expansionsorientierten Mond- und Weltraum- zurück zu einer konzentrierenden, miniaturisierenden Erdperspektive. In Filmen wie "Earth II" (1971), "Lautlos im Weltraum" (1972), "Der wilde Planet" (1973), "Dark Star" (1974), "Der Mann, der vom Himmel fiel" (1976) oder "Operation Ganymed" (1977) wurden expansive Kolonisierungsphantasien durch dystopische Katastrophenszenarien ersetzt. Kaum mehr die Schlüsseltechnologie zur Lösung aller irdischen Probleme der Zukunft, kehrte die bemannte Raumfahrt in Ost wie West nach einem Jahrzehnt totaler Mondfokussierung zum deutlich älteren Vorhaben der Etablierung einer Raumstation zurück. Die erste Salyut-Station wurde 1971 im erdnahen Orbit platziert, das US-amerikanische Gegenstück Skylab folgte 1973.
Gleichzeitig setzte eine Entwicklung ein, die das eigentliche, globale wie genuin globalisierende Vermächtnis des Weltraumzeitalters darstellt und mit den beiden komplementären Stichworten "Satellitisierung" und "Planetarisierung" der Erde hier nur angedeutet werden kann. Während 1957 zwei Satelliten stationiert wurden, waren es sieben Jahre später bereits 87 und 1976 ganze 128, die zu diesem Zeitpunkt von insgesamt sechs Nationen betrieben wurden. Bis 1986, das heißt innerhalb von 30 Jahren, waren insgesamt 2869 Satelliten im All platziert worden, zu etwa 60 Prozent für militärische Zwecke. Trotz ausgebliebener Kolonisierung des Alls ist die technische Abhängigkeit von einer omnipräsenten, wenngleich unsichtbaren Infrastruktur im Weltraum seitdem genauso gewachsen wie ein planetarisches Bewusstsein. Was landläufig als Globalisierung bezeichnet wird, wäre ohne weltraumbasierte Kommunikations-, Navigations- und Aufklärungsapparaturen einerseits, eine extraterrestrische Beobachterperspektive andererseits nicht denkbar. Dies aber ist genau das Post-Apollo-Paradox: Trotz nachlassender Begeisterung in breiten Teilen der westlichen Welt war die Bedeutung des Weltraums niemals größer als nach Ende des klassischen Weltraumzeitalters. Vorgedacht oder prophezeit wurden die kommende Satellitisierung und Planetarisierung der Erde in der weltweit florierenden Astrokultur des 20. Jahrhunderts freilich nicht, ebenso wenig wie die enormen Wissensgewinne durch Astronomie und unbemannte Raumfahrt.
Schluss
Ob Phantasie, Projekt oder Produkt, der Blick zurück anlässlich des 50. Jahrestages der ersten Mondlandung sollte weder zu nostalgischer Verklärung vergangener technischer Meisterleistungen à la "If we can put a man on the moon, why can’t we … ?" noch zum feierlichen Wiedererzählen der immer gleichen verheißungsvollen Geschichten von einem unmittelbar bevorstehenden "Aufbruch ins All" führen, damals wie heute. Allen Aneignungsbemühungen zum Trotz bleibt der Weltraum eine lebensfeindliche, zutiefst fremde und inhumane Umwelt – und damit Sehnsuchtsort, Imaginationsraum wie Projektionsfläche par excellence.