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Standards in der Raumordnung auf dem Prüfstand? | Gleichwertige Lebensverhältnisse | bpb.de

Gleichwertige Lebensverhältnisse Editorial Gleichwertige Lebensverhältnisse – für eine Politik des Zusammenhalts Gleichwertig, nicht gleich. Zur Debatte um die "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" Zwei Perspektiven aus Raumplanung und Raumbeobachtung Standards in der Raumordnung auf dem Prüfstand? Wie misst man "Gleichwertige Lebensverhältnisse"? Aufschwung, Abbau, Anpassung? Eine kleine Geschichte des "Aufbau Ost" Demokratische Integration. Strukturbedingungen von Regionen und ihr Einfluss auf Wahlbeteiligung und freiwilliges Engagement Politische und soziale Orientierungen in Ost und West. Empirische Befunde in generationaler Perspektive Karte: Kassenkredite der Kreise

Standards in der Raumordnung auf dem Prüfstand?

Bärbel Winkler-Kühlken

/ 14 Minuten zu lesen

Seit den 2000er Jahren stehen Fragen der Sicherstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse und der Daseinsvorsorge im Fokus von Raumordnung, Landes- und Regionalplanung. Auch Ideen zu gegenüber den bekannten Angeboten und Infrastruktureinrichtungen alternativen Formen, nicht selten auch unter weitergehender Einbindung bürgerschaftlichen Engagements, kamen in die Diskussion. Die Cottbuser Erklärung von 2004 hat hierzu erste Eckpunkte gesetzt: Infrastrukturangebote überdenken und neu organisieren, regional passende Lösungen suchen, neue Partner finden, Bevölkerung aktiv beteiligen, integriert planen und in Projekten umsetzen, dezentral bündeln, passende Rahmenbedingungen schaffen, mit der Umsetzung jetzt beginnen. Seither sind viele Entwicklungen angestoßen worden, von verschiedenen Modellvorhaben der Raumordnung bis hin zur 2018 eingesetzten ressortübergreifenden Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" der Bundesregierung. Die notwendige Verhandlung der Flexibilisierung von Mindeststandards der Daseinsvorsorge kostet jedoch Zeit. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Bedeutung von Standards in der Raumordnung und deren Wandel zu skizzieren.

Standards in der Raumordnung

Das Leitbild der gleichwertigen Lebensverhältnisse ist in Paragraf 1 Absatz 2 Raumordnungsgesetz (ROG) verankert. Im Sinne des Sozialstaatsprinzips wurde die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse traditionell gleichgesetzt mit einer flächendeckenden Versorgung mit Einrichtungen und Angeboten der Daseinsvorsorge. Raumordnerische Instrumente für die Organisation der überörtlichen Leistungserbringung der Daseinsvorsorge sind dabei insbesondere die Zentralen-Orte-Konzepte der Länder sowie die Bestimmung von Ausstattungsniveaus durch Ausstattungskataloge oder Indikatoren der Infrastruktur.

Unter räumlichen Mindeststandards der Daseinsvorsorge werden verbindliche Vorgaben der öffentlichen Hand zum Umfang der Ausstattung oder zur Erreichbarkeit/Zugänglichkeit von Funktionen der Daseinsvorsorge (angebotene Leistung, Infrastruktureinrichtungen oder -netze) verstanden, die die für eine Region zu erhaltende oder anzustrebende Untergrenze der Verfügbarkeit für den Nutzer beziehungsweise die Zielgruppe bestimmen.

Der Begriff der Daseinsvorsorge kennzeichnet die grundlegende Versorgung der Bevölkerung mit wesentlichen Gütern und Dienstleistungen durch den Staat und/oder von der öffentlichen Hand geförderte Organisationen beziehungsweise bezeichnet Dienstleistungen, an deren Angebot ein besonderes öffentliches Interesse besteht. Weiterhin wird betont, dass die als notwendig eingestuften Güter und Dienstleistungen zu allgemein tragbaren (sozial verträglichen) Preisen angeboten werden müssen. Der Begriff der Daseinsvorsorge, der in den 1930er Jahren in die verwaltungsrechtliche Diskussion eingeführt wurde, hat erst jüngst in gesetzliche Regelungen Eingang gefunden. Trotzdem gibt es keine abschließende Definition des Begriffs oder der zugehörigen Infrastrukturbereiche, vielmehr wird versucht, die Daseinsvorsorge beispielhaft zu konturieren.

Zugleich unterliegt es der politischen und/oder gesellschaftlichen Debatte, welche einzelnen, konkreten Leistungen in den verschiedenen Bereichen – neben der technischen Infrastruktur insbesondere Bildung, Kinderbetreuung, medizinische und pflegerische Versorgung, kulturelle Angebote, Angebote der Nahversorgung, öffentlicher Personennahverkehr, digitale Breitbandversorgung, öffentliche Sicherheit – zur grundlegenden Versorgung der Bevölkerung gehören und ob an den einzelnen Leistungen ein besonderes öffentliches Interesse besteht.

Versorgungsstandards als regionale Mindeststandards wurden erstmals im Großen Hessenplan 1965 formuliert – beschränkt auf den sozialpolitischen Bereich, denn in diesem lagen statistische Daten zur Ableitung und zur Messung von Zielwerten vor. Andere Fachressorts verzichteten dagegen auf eine prüfbare Quantifizierung ihrer Ziele. Die raumordnerische Standardsetzung wurde durch das Bundesraumordnungsprogramm 1975 weiterentwickelt, in dem Mindeststandards zu insgesamt sieben Infrastrukturbereichen in den vier Zielbereichen "Verbesserung der Infrastruktur", "Verbesserung der Umweltqualität", "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" und "Entwicklung der Raumstruktur" enthalten waren.

Einen weitergehenden Katalog von Mindeststandards, die "Gesellschaftlichen Indikatoren für die Raumordnung", hat der Beirat für Raumordnung 1976 vorgelegt; dieser enthielt insbesondere Indikatoren zur Sozialstruktur. Die Indikatoren sollten die Raumordnungsziele quantifizieren und operationalisieren. Dazu wurden zunächst die Ziele mit messbaren Indikatoren untersetzt und anschließend mit Ziel- beziehungsweise Sollwerten belegt, die sowohl Richtung als auch Ausmaß der durch Maßnahmen der Raumordnung angestrebten Veränderungen in Zustand und Ausstattung angaben.

Es zeigten sich schnell die Grenzen dieses systematischen Ansatzes der Ableitung von Mindeststandards: Nicht für alle Zielbereiche lagen statistische Informationen vor, und normative Wertsetzungen für Mindeststandards waren schwer ableitbar. Die Standards zielten vor allem auf eine Verbesserung der Ausstattung (Mindestausstattung). Mit den sich ab den 1980er Jahren abzeichnenden Grenzen des Wachstums beziehungsweise des Ausbaus des Sozialstaats verloren solche Zielvorgaben in der Raumordnung zunächst an Relevanz. Die Bedeutung von Indikatoren verlagerte sich auf die Kultur der Beobachtung von Raumprozessen und der Evaluierung von Strukturmaßnahmen. Insoweit kann bei der Formulierung von (überprüfbaren) Mindeststandards auf die mittlerweile umfassenden Erfahrungen der Raumbeobachtung und Evaluationsforschung zurückgegriffen werden.

Die Theorie der Zentralen Orte wurde bereits in den 1930er und 1940er Jahren entwickelt. Das darauf aufbauende normative Konzept der Zentralen Orte war in den alten Bundesländern zu einem bedeutenden Instrument der Landes- und Regionalplanung geworden. Es wurde flächendeckend implementiert, wobei mit länderspezifischen Ausformulierungen eine Vier-Stufen-Ordnung von Ober-, Mittel-, Unter- und Kleinzentren prägend war. Die Versorgungskerne sollen soziale, kulturelle und wirtschaftliche Einrichtungen vorhalten, die über die eigenen Bewohnerinnen und Bewohner hinaus die Bevölkerung für einen definierten Verflechtungsbereich versorgen. Die in den Raumordnungsplänen und -programmen typischerweise festgelegten Kriterien der Einzugsbereiche und insbesondere der Erreichbarkeit (maximale ÖPNV-/Pkw-Fahrzeit) sind räumliche Mindeststandards der Daseinsvorsorge, die bestimmen, mit welchem Aufwand ein Bündel an verfügbaren Angeboten erreichbar sein soll. Ferner legten Zentrale-Orte-Kataloge die Ausstattung mit Infrastruktureinrichtungen fest, die zum Teil Auswahlkriterium – also Voraussetzungen für Zentrale Orte – und zum Teil Ziel ihrer Ausstattung waren. Ausstattungskataloge könnten als ein Mindeststandard interpretiert werden, wenn die Liste als ein dauerhaft zu erfüllendes Angebot der Bereitstellung der Einrichtungen angesehen wird.

Im Zuge der deutschen Einheit erlebte das Zentrale-Orte-Konzept eine Renaissance, die sich zunächst in der Übernahme der Konzepte in den 1990er Jahren niederschlug. Mit dem Wegbrechen erster Einrichtungen und Angeboten der Daseinsvorsorge in den ländlichen, peripheren Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang in den ostdeutschen Ländern Anfang der 2000er Jahre wurde schnell deutlich, dass die bis dahin ausgewiesenen Zentralen Orte in einzelnen Bundesländern nicht länger die notwendigen Einzugsbereiche aufwiesen, um tragfähige Infrastruktureinrichtungen zu entwickeln. Ausgehend von Schrumpfungsproblemen in Ostdeutschland gerieten die Zentralen Orte bundesweit stärker in den Fokus, ein Reformprozess wurde angestoßen. Zum einen wurde deutlich, dass ein raumstrukturelles Optimum von Standorten gerade bei einem Rückgang von Angeboten für eine angemessene Erreichbarkeit wichtig ist. Zum anderen wurde aber ersichtlich, dass die Zentralen Orte ihre Integrationsfunktion nur wahrnehmen können, wenn das Konzept strukturadäquat weiterentwickelt wird. Dies betraf zum einen die Zahl der Zentralen Orte und der Ebenen, die von den meisten Ländern inzwischen geändert worden sind. Zum anderen stand die Frage der hinreichenden Flexibilität des Ansatzes, die sich insbesondere auf Ausstattungskataloge bezog, im Fokus. Ausstattungskataloge verloren daher an Bedeutung, entweder indem sie nicht mehr als verbindliche Ziele definiert, sondern Teil der Begründungen wurden, oder indem auf Kataloge mit Anspruch auf Vollständigkeit zunehmend verzichtet wurde. In dieser Form haben sie den Charakter von (Mindest-)Standards verloren.

Standardbegriff in der Diskussion

Die Frage, welche Standards der Versorgung in Deutschland und seinen Teilräumen zu gewährleisten sind, ist Gegenstand von fachlichen Diskussionen und von Untersuchungen zur Weiterentwicklung öffentlicher Infrastrukturangebote. Diese sind durch ein breites Spektrum der Interpretation beziehungsweise Nutzung des Standardbegriffes gekennzeichnet. So wird teilweise der Begriff mit dem Einschluss von formalisierten und nicht-formalisierten Regeln eher weit gefasst, während an anderer Stelle mit der Beschränkung auf gesetzliche Normen die unter "Standards" geprüften Regeln eher enger geschnitten sind. Weitere Untersuchungen grenzen die Standards vor dem Hintergrund spezifischer Fragestellungen näher ein: Unter "kommunalen Standards" werden nur auf einer Ebene verpflichtende Vorgaben verstanden, "räumliche Mindeststandards" stellen auf den Zweck beziehungsweise das Ziel der Standards (Untergrenze von Umfang/Ausstattung) ab.

Ein besonders breites Spektrum zeigt sich in der fachlichen Debatte hinsichtlich "qualitativer Standards". Einerseits wird darunter der Charakter beziehungsweise die Art des Standards verstanden, wobei qualitative Standards generelle, abstrakte Vorgaben darstellen, die weiter konkretisiert und quantifiziert werden müssen. Andererseits werden unter qualitativen Standards vor allem Regelungen subsumiert, die die Kriterien eines Infrastrukturangebots (aus Perspektive der Nutzer, Gewährleister oder Betreiber) teilweise sehr konkret formulieren.

Hinsichtlich der Frage- beziehungsweise Blickrichtung auf Standards können in den vorliegenden Untersuchungen zwei grundsätzlich verschiedene Perspektiven ausgemacht werden: Insbesondere in der Raumordnung wird das Augenmerk auf die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse beziehungsweise soziale Gesichtspunkte und entsprechend auf die obligatorisch zur Verfügung stehenden Angebotsformen gelenkt (Standard als Ausbauziel oder Untergrenze). Solche Studien beantworten tendenziell die Prüfungsfrage, ob Standards in der bisherigen Form zielführend für die Gewährleistung einer (räumlich) adäquaten Versorgung sind. Ökonomisch und fiskalpolitisch geprägte Betrachtungen stellen demgegenüber tendenziell vor allem auf die Reduzierung von Vorgaben mit dem Ziel effizienterer Angebotsformen ab. Insgesamt zeichnet sich bisher keine prägende Verwendung und Nutzung des Standardbegriffs im Kontext der Debatte um die Weiterentwicklung der Daseinsvorsorge ab.

Orientierungswerte und fachliche Qualitätsstandards

Mindeststandards erfordern – wenn sie ihrer Rolle gerecht werden sollen – ein Minimum an Verbindlichkeit. Dies muss nicht ein einklagbares Recht auf die Bereitstellung eines Angebots, wohl aber Gegenstand eines Dokuments oder Produkts sein, das die angestrebte Entwicklung für Angebote zumindest verwaltungsintern eingrenzt. Eine solche Selbstbindung kann durch einen im förmlichen Verfahren erstellten (Fach-)Plan, Verwaltungsrichtlinien oder -anweisungen zustande kommen.

Die Mindeststandards sind damit klar zu unterscheiden von in der Planungsliteratur aufgeführten "Orientierungswerten" oder "Richtwerten" für die Infrastruktur der Stadt- und Regionalplanung, die insbesondere in den 1970er Jahren entwickelt beziehungsweise zusammengestellt wurden und aktuell weiter angeboten werden. Die umfangreichen und teilweise sehr detaillierten Orientierungswerte sind nur eine Hilfe für die Planung und können insoweit gegebenenfalls für die Definition von Mindeststandards genutzt werden. Die in den 1970er Jahren entwickelten Orientierungswerte für Standards werden aber häufig nicht fortgeschrieben, und in jüngeren Veröffentlichungen werden ältere Orientierungswerte übernommen oder zitiert. Diese eingeschränkte Fortschreibung der "altbundesrepublikanischen" Orientierungswerte ist nicht nur wegen der technischen und sozialpolitischen Veränderungen bei der Bereitstellung von vielen Infrastrukturangeboten, sondern darüber hinaus wegen der in den neuen Ländern teilweise dünneren Besiedlung kritisch zu sehen.

Die Mindeststandards der Daseinsvorsorge umfassen die räumlich relevante Versorgungsqualität, die sich durch Umfang des Angebots und Art der Zugänglichkeit bestimmt, wie Anzahl, Größe, Entfernung, zeitliche Erreichbarkeit, Preis. Hierbei wird davon ausgegangen, dass das Angebot in einer fachlich angemessenen Qualität bereitgestellt wird. Differenzierte, detaillierte fachliche Standards zur Bestimmung der Mindestqualität des Angebots, wie etwa die Trinkwasserqualität, die Qualifikation des Personals oder der technische Ausbau einer Einrichtung, sind somit eng mit den Mindeststandards der Daseinsvorsorge verbunden, aber dennoch zu unterscheiden, wie die aktuelle Diskussion zeigt: Es wird zum Teil einerseits der Ausbau beziehungsweise die Neudefinition von Mindeststandards im ländlichen Raum sowie zugleich andererseits der Abbau beziehungsweise die Überprüfung von generellen Standards für Infrastrukturausstattungen gefordert, die die Spielräume für lokale Politiken einengen. Kritikpunkt sind dabei vor allem exakte Bestimmungen einer aus der fachlichen Einzelsicht hohen Anforderung an ein Mindestniveau oder die Festschreibung einer Form der Leistungserbringung, die keinen Raum für andere, innovative Ansätze bietet.

Mehrdimensionalität von Standards

Zusammenfassend ließen sich ausgewählte Standards der Daseinsvorsorge aus unterschiedlichen Kontexten folgendermaßen abgrenzen und einordnen (siehe auch die Abbildung). Ausgehend von dem Ansatz, dass die Sicherung der Daseinsvorsorge Aufgabe der öffentlichen Hand ist, stehen neben den festgelegten Raumordnungsplänen entsprechend von der öffentlichen Hand in verbindlicher Form festgelegte Standards in Form von Gesetzen, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften im Fokus. Darüber hinaus sind nicht förmlich festgelegte fachliche Orientierungswerte zu berücksichtigen, wenn sie in der Praxis für das Infrastrukturangebot de facto eine Rechts- beziehungsweise Steuerungswirkung entfalten, weil sie mittelbar in das Verwaltungshandeln einfließen, etwa fachliche Qualitäten als Förderbedingung oder Abwägungssicherheit bei Verwaltungsermessen durch Berücksichtigung fachlicher Qualitätsmerkmale. Ein Beispiel hierfür ist der 1992 vom Deutschen Sportbund herausgegebene "Goldene Plan Ost", der faktisch den in den 1990er Jahren zu erreichenden Standard für die Sportanlagenausstattung/-entwicklung in den ostdeutschen Kommunen bildete. "Standard" kann also als Oberbegriff für in verschiedenen Formen verbindlich festgelegte Regeln verstanden werden.

Kennzeichen von Standards der Daseinsvorsorge (© bpb)

Ferner sollte zwischen primären und sekundären Qualitätsstandards unterschieden werden: Während primäre Qualitätsstandards die annoncierte (Kern-)Leistung für den Bürger der prägenden Qualität/Art des Angebots (wie Schul-/ÖPNV-Typ, Netzdichte) sowie gegebenenfalls hinsichtlich des zeitlichen oder räumlichen Zugangs (wie Entfernung, Öffnungs-/Bedienzeiten) beziehungsweise der ("sozial verträglichen") Kosten für den Nutzer betreffen, definieren die sekundären Qualitätsmerkmale vor allem technisch-organisatorische Bedingungen im Detail. Dies sind typischerweise fachliche Qualitätskriterien (etwa zur baulichen Gestaltung) oder Tragfähigkeitsgrenzen (Mindestauslastungen, Personal-Nutzer-Relation), die für die Bürgerinnen allenfalls mittelbar ersichtlich sind, aber die Frage der grundsätzlichen Bereitstellung von Angeboten mitprägen (können).

Alternative Formen der Sicherung der Daseinsvorsorge

Bereits in Diskussionen zu Modellvorhaben der Raumordnung Mitte der 2000er Jahre wie auch in verschiedenen folgenden Modellprojekten der Raumordnung wurden alternative Formen der Leistungserbringung der Daseinsvorsorge entwickelt und untersucht. Die neuen Herausforderungen durch den demografischen Wandel, die Globalisierung und die Internationalisierung erforderten eine Überprüfung und Weiterentwicklung der räumlichen Struktursteuerung. Insbesondere auf der unteren Ebene der Zentralen Orte war die Tragfähigkeit bestimmter Einrichtungen angesichts sinkender Nachfrage und rückläufiger Bevölkerungszahlen nicht mehr gegeben. Obwohl das erste Modellvorhaben der Raumordnung schon fast 20 Jahre zurückliegt und seitdem viele staatliche und landespolitische Aktivitäten – eine Reihe von Modellvorhaben zur Sicherung der Daseinsvorsorge auf Bundes- wie auf Länderebene – in dieses Themenfeld gelenkt wurden, sind einige Forderungen weiter gültig und wurden durch jüngere Projekte ausbuchstabiert. Hier sollen abschließend einige zentrale Forderungen unseres Forschungsteams zur expliziten Fortschreibung von Standards der Daseinsvorsorge in bestimmten Bereichen in Erinnerung gerufen werden, die auch für die aktuelle Diskussion relevant sind.

Für alle Infrastrukturbereiche gilt: Hemmende Standards abbauen. Primäre Qualitätsstandards stellen selten grundsätzliche Hemmnisse für alternative Angebotsformen dar. Entwickelte Alternativen konnten und können über Ausnahmen und räumlichen Differenzierungen beschritten werden und tragen so zur Erfüllung der Versorgung bei – beispielsweise flexible Bedienverkehre für ÖPNV in der Fläche. Sekundäre Qualitätsstandards wirken dagegen häufiger hemmend. Hier stehen vor allem widerstreitende Vorstellungen des Gesetzgebers hinsichtlich der Organisation des öffentlichen Lebens entgegen. Ein Beispiel ist das Schulwesen, wo alternative Beschulungskonzepte nicht den Bildungsprinzipien entsprechen und nicht im Schulgesetz verankert sind.

Daseinsvorsorge unter den sich wandelnden Rahmenbedingungen weiter diskutieren. Der demografische Wandel vollzieht sich zeitgleich mit (anderen) gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen. Die Ausstattung unterschiedlicher Räume mit Infrastruktur ändert sich ebenso wie die Erwartungshaltung der Bevölkerung an die Angebote/Gestaltung der Daseinsvorsorge. Wir müssen die Frage als Gesellschaft beantworten: Wie kann Daseinsvorsoge im 21. Jahrhundert definiert werden, welches Aufgabenverständnis wohnt dem inne, und wie können für alle Teilräume Chancengleichheit und Teilhabe an der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gewährleistet werden?

Regionale Ebene stärken – Kommunen mehr Entscheidungsspielräume geben. Die Kommunen sind Gestalter der konkreten, regional spezifischen Herausforderungen der Daseinsvorsorge. Sie müssen diese adäquat gestalten können. Hier könnten durch ressortübergreifende regionale Budgets für die Gestaltung der regionalen Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen mit Schrumpfungstendenzen neue Handlungsoptionen geschaffen werden. Sie müssten finanzielle Handlungsspielräume geben und an Zielvorgaben und Kontrollinstrumente gekoppelt sein.

Interkommunale und interinstitutionelle Zusammenarbeit unterstützen. Insbesondere in Regionen mit anhaltender Schrumpfung und fortschreitender Alterung der Bevölkerung gewinnt die Zusammenarbeit zwischen Kommunen und Institutionen (etwa Forschungs- und Beratungseinrichtungen, Sozialträger) immens an Bedeutung. Interkommunale Kooperationen bedürfen gesicherter rechtlich-finanzieller Rahmenbedingungen, auch verbunden mit Anreizsystemen, um eine dauerhafte erfolgreiche Zusammenarbeit zu ermöglichen.

Eigenverantwortung stärken – Bürger als Partner gewinnen. Um die Daseinsvorsorge in ländlichen Räumen zu gewährleisten, gibt es bereits mehrere Ansätze, die Bürgerinnen und Bürger in die Leistungserbringung mit einzubeziehen beziehungsweise ihnen mehr Eigenverantwortung zu übertragen. Der Übergang von der öffentlich-rechtlichen Leistungserbringung durch die Kommunen oder beauftragte Dritte zur weitgehenden Eigenerstellung von Infrastrukturleistungen ohne Qualitätsverluste muss dabei ökonomische wie funktionale Ziele verfolgen und sicherstellen. Grenzen der Eigenverantwortung und Zuständigkeiten der öffentlichen Hand müssen klar definiert werden.

Integrierten Infrastrukturkonzepten Vorrang geben – Systemwechsel forcieren. Viele Herausforderungen der Daseinsvorsorge lassen sich nicht einzelnen Fachgebieten oder Zuständigkeitsbereichen zuordnen. Interinstitutionelle beziehungsweise intersektorale Kooperationsansätze sind bisher eher selten, gewinnen aber zunehmend an Bedeutung. Durch die Zusammenführung von Kompetenzen verschiedener Ebenen (Kommune/Bund) oder Fachdisziplinen besitzen sie ein besonderes Problemlösungspotenzial.

Technologischen Fortschritt nutzen – Innovationen fördern. Technische Innovationen bieten Möglichkeiten zur Sicherung der Daseinsvorsorge, die nutzbar gemacht werden sollten, beispielsweise Hausnotrufsysteme oder automatisierte Alarmierungssysteme in Pkw ("eCall"). Dazu bedarf es des Ausbaus der digitalen Infrastruktur, denn schnelles Internet in allen Räumen ist in vielen Bereichen die Voraussetzung für qualitätsvolle Kompensation von zentralen Angeboten der Daseinsvorsorge.

Paradigmenwechsel – Strategie für schrumpfende Regionen entwerfen. Bestimmte räumliche Konstellationen erfordern eine grundsätzliche Neuorientierung, also einen Systemwechsel, anstatt weiter in den Erhalt oder die nur begrenzt mögliche Anpassung von Infrastruktur zu investieren. Die dafür notwendigen Rahmenbedingungen sind gemeinsam mit allen Akteuren fach- und ebenenübergreifend auszuhandeln. Hierzu gehören insbesondere auch die relevanten steuer-, versicherungsrechtlichen sowie organisatorischen und technischen Optionen, um die Neuorganisation der Daseinsvorsorge in ländlichen Regionen auch finanziell zu ermöglichen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR), Anpassungsstrategien für ländliche/periphere Regionen mit starkem Bevölkerungsrückgang in den neuen Ländern, Bonn 2005, S. 123ff.

  2. Die Ausführungen basieren auf verschiedenen Studien, die das IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH (IfS) zum Thema Anpassung von Infrastruktur und Daseinsvorsorge an den demografischen und strukturellen Wandel erarbeitet hat. Vgl. u.a. BBR (Anm. 1); IfS, Untersuchung zur Anpassung von Standards im Bereich der Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung, Berlin 2014.

  3. Vgl. Michael Schäfer, Stichwort: Daseinsvorsorge, in: Springer Gabler Verlag (Hrsg.), Gabler Wirtschaftslexikon, Daseinsvorsorge, Externer Link: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/daseinsvorsorge-28469.

  4. Vgl. Klaus Einig, Regulierung der Daseinsvorsorge als Aufgabe der Raumordnung im Gewährleistungsstaat, in: Informationen zur Raumentwicklung 1/2 2008, S. 17–40, hier S. 17.

  5. Vgl. Andreas Knorr, Gemeinwohl und Daseinsvorsorge in der Infrastruktur, in: Karl-Hans Hartwig/ders. (Hrsg.), Neuere Entwicklungen in der Infrastrukturpolitik, Göttingen 2005, nach Einig (Anm. 4), S. 17.

  6. Vgl. Jens Kersten, Wandel der Daseinsvorsorge – Von der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zur wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Kohäsion, in: Claudia Neu (Hrsg.), Daseinsvorsorge. Eine gesellschaftswissenschaftliche Annäherung, Wiesbaden 2009, S. 22–38, hier S. 23.

  7. Vgl. Walter Christaller, Die zentralen Orte in Süddeutschland, Darmstadt 1968 (1933); August Lösch, Die räumliche Ordnung der Wirtschaft, Stuttgart 1962 (1940).

  8. Vgl. Thomas Gawron, Zentrale-Orte-System und Sicherung der Daseinsvorsorge in schrumpfenden Regionen. Zum Koordinationsdilemma zwischen Raumordnung und Fachplanung, Leipzig 2008, S. 11.

  9. Vgl. z.B. Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) (Hrsg.), Standardvorgaben der infrastrukturellen Daseinsvorsorge, BMVBS-Online-Publikation 13/2010, S. 4, Externer Link: http://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/Veroeffentlichungen/ministerien/BMVBS/Online/2010/DL_ON132010.pdf?__blob=publicationFile&v=2.

  10. Vgl. z.B. Gemeindefinanzkommission, Arbeitsgruppe "Standards" (Hrsg.), Abschlussbericht Arbeitsgruppe "Standards", 3.11.2010, o.O., S. 3; Winfried Kluth, Standardflexibilisierung als Weg der Anpassung der Daseinsvorsorge an Schrumpfungsbedingungen – Rechtsrahmen und verfahrensrechtliche Umsetzung, Folien zum Vortrag, Workshop "Die Zukunft der Daseinsvorsorge im ländlichen Raum: Entwicklungsoptionen für Kinderbetreuung, Schule und Kultur", Halle (Saale) 15.2.2013.

  11. Vgl. Internationales Institut für Staats- und Europawissenschaften (ISE) (Hrsg.), Reduzierung des Landeshaushaltsvolumens durch den Abbau von kommunalen Standards, im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft der Industrie- und Handelskammern Thüringen, Berlin 2013, S. 22.

  12. Vgl. IfS, Vorstudie Standards der Daseinsvorsorge in Sachsen, Berlin 2008, S. 16ff.

  13. Vgl. Beirat für Raumordnung, Stellungnahme des Beirates für Raumordnung. Demografischer Wandel und Daseinsvorsorge in dünn besiedelten peripheren Räumen, o.O. 2009, S. 13.

  14. Vgl. IfS (Anm. 12); Beirat für Raumordnung (Anm. 13).

  15. Vgl. ISE (Anm. 11); Gemeindefinanzkommission (Anm. 10).

  16. Vgl. insb. Klaus Borchard, Orientierungswerte für die städtebauliche Planung. Flächenbedarf – Einzugsgebiete – Folgekosten, München 1974; Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), Orientierungswerte für die Infrastruktur in der Stadt- und Regionalplanung, Dortmund 1978.

  17. Einen Überblick über die in verschiedenen Quellen aktuell verfügbaren Orientierungswerte gibt Frank Schröter, Orientierungswerte (Richtwerte) für die Planung, Externer Link: http://www.dr-frank-schroeter.de/planungsrichtwerte.htm.

  18. Schröter (Anm. 17) greift in seinem Überblick über Orientierungswerte für die Planung zum Teil auf die Veröffentlichungen der 1970er Jahre zurück; zur beschränkten Fortschreibung von Orientierungswerten für die soziale Infrastruktur siehe auch Katrin Zapf, Soziale Infrastruktur, in: Akademie für Raumforschung und Landesplanung (Hrsg.), Handwörterbuch der Raumordnung, Hannover 2005, S. 1029.

  19. Vgl. z.B. Sächsischer Landkreistag (Hrsg.), Abschlussbericht der Expertenkommission "Demographischer Wandel". Endfassung der Stellungnahme des Sächsischen Landkreistages, 19.3.2007, S. 4, S. 8; Expertenkommission "Demografischer Wandel Sachsen", Empfehlungen zur Bewältigung des demografischen Wandels im Freistaat Sachsen, Dresden 2006, S. 39, S. 67.

  20. Vgl. IfS (Anm. 12), S. 19.

  21. Ein Beispiel ist das MORO Aktionsprogramm Regionale Daseinsvorsorge, siehe Externer Link: http://www.regionale-daseinsvorsorge.de.

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Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Bärbel Winkler-Kühlken für Aus Politik und Zeitgeschichte/bpb.de

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ist Mitarbeiterin am IfS Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik GmbH. E-Mail Link: winkler-kuehlken@ifsberlin.de