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Freie Rede Editorial Die Sprachkäfige öffnen. Gedanken zur Bedeutung von "freier Rede" Gefährdete Meinungsfreiheit? Zwei Perspektiven Keine Meinungsfreiheit ohne ein Klima der Freiheit Gleichheit ist nicht verhandelbar Meinungsfreiheit und ihre Grenzen Politisch korrekte Sprache und Redefreiheit Streitkompetenz als demokratische Qualität – oder: Vom Wert des Widerspruchs Faktum = Meinung?

Faktum = Meinung?

Patrick Gensing

/ 13 Minuten zu lesen

Meinungen und unbelegte Behauptungen werden heute vielfach zu Fakten erklärt, während gleichzeitig wissenschaftlich anerkannte Erkenntnisse häufig zu Meinungen degradiert werden. Dadurch droht letztlich auch eine Entwertung der Meinungsfreiheit.

Der Begriff "postfaktisch" beschäftigt die Öffentlichkeit seit mehreren Jahren. Im englischen Sprachraum ist von "post-factual" oder auch "post-truth politics" die Rede. Unter dem Eindruck des US-Präsidentschaftswahlkampfs 2016 und der Leave-Kampagne im Vereinigten Königreich erklärten die Herausgeber der Oxford Dictionaries den Begriff "post-truth" zum Wort des Jahres 2016. Er bezeichne Umstände, in denen objektive Fakten weniger Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung haben als Appelle an Emotionen und persönliche Überzeugungen.

In Deutschland wurde "postfaktisch" ebenfalls 2016 zum Wort des Jahres gekürt. Die Gesellschaft für deutsche Sprache erklärte, der Begriff stehe im Kontext eines tief greifenden politischen Wandels. Das Kunstwort verweise darauf, "dass es in politischen und gesellschaftlichen Diskussionen zunehmend um Emotionen anstelle von Fakten geht. Immer größere Bevölkerungsschichten sind in ihrem Widerwillen gegen ‚die da oben‘ bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen bereitwillig zu akzeptieren. Nicht der Anspruch auf Wahrheit, sondern das Aussprechen der ‚gefühlten Wahrheit‘ führt im postfaktischen Zeitalter zum Erfolg."

Als Beispiele postfaktischer Politik führte die Jury ebenfalls den Wahlkampf gegen den Verbleib Großbritanniens in der EU an. Die Befürworter des "Brexits" hatten zum Teil mit gezielten Fehlinformationen den Unmut in der Bevölkerung geschürt. "Die Wortbildung postfaktisch", so die Jury weiter, "könnte auf den ersten Blick befremdlich erscheinen, da sie, vom Lateinischen wörtlich übersetzt, ‚nach-faktisch‘ oder ‚nach, hinter den Fakten‘ bedeutet. Eher erwarten könnte man bei der angegebenen Bedeutung des Wortes eine Bildung wie kontrafaktisch (‚den Fakten widersprechend, entgegengesetzt‘) oder auch, in griechisch-lateinischer Sprachmischung, antifaktisch. Zugrunde liegt aber, ähnlich wie bei Postmoderne oder Poststrukturalismus, die Vorstellung einer neuen Epoche."

Der Kolumnist Sascha Lobo hatte bereits 2012 über das Konzept einer wahrheitsunabhängigen Politik geschrieben, in der Meinungen und Tatsachen verschwimmen, und kommentiert "Jeder hat das Recht auf eine eigene Meinung, aber niemand hat das Recht auf eigene Fakten." Und schon Hannah Arendt hatte konstatiert: "Meinungsfreiheit ist eine Farce, wenn die Information über die Tatsachen nicht garantiert ist."

Aber was ist Fakt, was ist Meinung? Wo verläuft die Grenze? Und wer legt diese fest? Diese Frage beschäftigt unter anderem Gerichte, die entscheiden müssen, ob es sich bei einer Aussage um eine von der Meinungsfreiheit gedeckte Bewertung oder möglicherweise falsche Tatsachenbehauptung handelt. Im Folgenden werde ich einige Erscheinungen des "postfaktischen Zeitalters" beschreiben und der Frage nachgehen, wie den damit verbundenen Problemen begegnet werden kann.

Veredelung von Meinung

Allgemein gesprochen, lässt sich feststellen, dass sich eine Tatsachenbehauptung überprüfen lässt, während eine Meinung nicht als eindeutig richtig oder falsch klassifiziert werden kann. Dabei stellt sich aber nicht nur die Frage, was als zulässige subjektive Bewertung gilt, also um eine von der Meinungsfreiheit gedeckte Äußerung, sondern bisweilen auch, wo die Meinungsfreiheit endet; nämlich bei Beleidigungen oder übler Nachrede. Diese Differenzierung ist sensibel, da sie das in Artikel 5 des Grundgesetzes verbriefte Grundrecht der Meinungsfreiheit berührt.

In politischen Debatten spielt die Abgrenzung zwischen Meinung und Tatsachenbehauptung eine wichtige Rolle, die gewisse Kompetenzen beim Textverständnis erfordert. Die Kompetenz, zwischen Meinung und Faktum unterscheiden zu können, ist aber nur eine Voraussetzung für einen sachlich fundierten Diskurs; dazu muss die Bereitschaft treten, überhaupt differenzieren zu wollen. Und genau daran scheint es in Debatten nicht selten zu mangeln. Denn das Vermengen von Meinung und Faktum ist ein beliebter propagandistischer Taschenspielertrick: Die eigene Meinung wird kurzerhand als Faktum verkauft und soll so gegen Argumente und Kritik immunisiert werden. So bezeichnen sich zahlreiche Publizisten, die eine klare politische Agenda verfolgen, als objektiv, neutral oder unideologisch. Sie reklamieren für sich, die Dinge komplett sachlich zu betrachten und inszenieren sich als unabhängige Instanzen.

Solches Gebaren ist auch im Deutschen Bundestag zu beobachten – nicht erst mit dem Einzug der AfD (auch Vertreter anderer Parteien haben dies zur Genüge gezeigt), aber die Qualität ist seither eine andere: Immer offensiver wird die Grenze zwischen Fakten und Meinungen bewusst aufgeweicht. So sprach beispielsweise der AfD-Abgeordnete Dirk Spaniel am 17. Januar 2020 in einer Bundestagsdebatte zur Verkehrspolitik. Dabei äußerte er seine Ansichten zum Radverkehr in Städten, versuchte aber, diese Meinungen als Tatsachen darzustellen: "Das Propagieren von Kindertransport auf Fahrrädern in der Stadt ist, objektiv betrachtet, fahrlässiger Umgang mit der Gesundheit Schutzbedürftiger." Diese Interpretation von Zahlen aus der Verkehrsstatistik ist allerdings alles andere als objektiv, sondern eine höchst subjektive Einschätzung. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer, betont etwa, tödliche Fahrradunfälle würden zum größten Teil durch Autos verursacht. Statistiken bestätigen diese Aussage. Argumentiert man wie der AfD-Abgeordnete, könnte man auch behaupten, es sei – angeblich ganz objektiv betrachtet – fahrlässig, zu Fuß durch die Stadt zu gehen.

Den Trick, die eigene Weltsicht als Tatsache zu verkaufen, wendete der Abgeordnete Spaniel gleich mehrfach an; so führte er aus, Fahrräder seien "in hohem Maße unpraktisch und gefährlich" – wenn man die Angelegenheit "nüchtern betrachtet". Eine Formulierung, die dieser Meinung einen faktischen Anstrich geben soll. Doch die Frage, ob ein Fahrrad praktisch ist oder nicht, kann nicht pauschal mit richtig oder falsch beantwortet werden. Für viele Menschen sind Räder äußerst praktisch, andere finden sie ungeeignet für den eigenen Gebrauch. Die Frage, ob Fahrräder praktisch sind, ist eine rein subjektive Einschätzung, über die sich trefflich streiten lässt, aber ebenfalls keine Tatsache. Spaniel behauptete in seiner Rede außerdem, die "objektiv wirksamste Methode", um die Sicherheit im Stadtverkehr zu erhöhen, sei der "Ausbau von Parkplätzen, damit unnötige Parkplatzsuchfahrten entfallen". Auch diese Einschätzung ist aber weit entfernt von einer objektiven Tatsache, denn es lässt sich durchaus vermuten, dass ein größeres Angebot an Parkplätzen eher noch weiteren Verkehr anziehen könnte – und somit nicht die wirksamste Methode zur Reduktion von Verkehr sei. Dazu kommen noch weitere Faktoren, wie beispielsweise der knappe Raum in Städten, sodass wohl Rad- und Fußwege für Parkplätze zurückgebaut werden müssten. Die Behauptung ist also nicht nur fragwürdig, was den Effekt angeht, sondern auch unterkomplex, da daraus folgende Probleme ausgeblendet werden.

Degradierung von Fakten

Der Trick funktioniert auch andersherum: In Debatten zum Klimaschutz werden oft nicht nur Meinungen oder unbelegte Behauptungen zu Fakten erklärt, sondern es werden auch wissenschaftlich anerkannte Erkenntnisse, die sich angeblich nicht verifizieren ließen, zu Meinungen degradiert. So wurde die Behauptung, es gebe keine wissenschaftlichen Beweise für einen Klimawandel, von US-Präsident Donald Trump immer wieder vorgetragen, ebenso von Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro und weiteren Politikern. In dieser Weltsicht ist der Klimawandel also keine Tatsache, sondern eine Meinung. In der Öffentlichkeit entsteht so der Eindruck, dass sich einfach nur mehrere Meinungen gegenüberstehen, aus der man sich die aussuchen kann, die einem am besten passt. Die Folge: Wenn zunächst darüber gestritten werden muss, welche faktische Basis es überhaupt gibt, tritt die eigentliche Aufgabe von Politik, also die Aushandlung von praktischen und wirksamen Maßnahmen, das Gestalten, in den Hintergrund.

Die Auffassung, dass der Klimawandel bloße Meinung sei, ist mittlerweile auch im Bundestag anzutreffen. Als etwa der SPD-Abgeordnete Klaus Mindrup in der bereits erwähnten Plenardebatte im Januar 2020 in seiner Rede sagte: "Wir sehen, dass der Klimawandel stattfindet. Das ist erwiesen und bewiesen", reagierte der AfD-Abgeordnete Karsten Hilse mit einem Zwischenruf: "So ein Quatsch! Das ist eben nicht bewiesen!" Während seiner eigenen Redezeit führte Hilse dann unter anderem aus: "Der Grundgedanke, das Klima überhaupt über eine Verringerung der CO2-Emissionen maßgeblich beeinflussen zu können, ist absurd und wird von immer mehr unabhängigen Wissenschaftlern abgelehnt." Durch den Hinweis auf "unabhängige Wissenschaftler" konstruierte Hilse einen Gegensatz zu vermeintlich abhängigen Forscherinnen und Forschern, die angeblich nur politisch opportune Ergebnisse lieferten. Solche Andeutungen können in Verschwörungsmythen gipfeln, in denen die gesamte internationale Forschung diskreditiert und als gesteuert beschrieben wird.

Der Fachjournalist und Buchautor Toralf Staud, der als Redakteur beim Wissenschaftsportal Klimafakten.de arbeitet, beschreibt dies als "eine der häufigsten Strategien von Desinformations-Kampagnen: Man beruft sich auf angebliche Experten, die dann gern ‚unabhängige Wissenschaftler‘ genannt werden. Betrachtet man aber genauer, welche Personen dort als Kronzeugen auftreten, dann haben die meist keinerlei Fachexpertise in Sachen Klimaforschung." Staud kennt die Versuche, wissenschaftliche Erkenntnisse zu entkräften: "Da treten zum Beispiel Astrophysiker, Allgemeinmediziner oder Maschinenbau-Ingenieure auf und behaupten, sie hätten mehr Kompetenz als ausgewiesene Klimawissenschaftler. Aber häufig (und auch von Journalisten) wird die Expertise solcher Leute nicht näher überprüft – was in anderen Lebensbereichen vollkommen unüblich ist: Wenn ich zum Beispiel starke Zahnschmerzen habe, und neun ausgebildete und erfahrene Zahnärzte raten mir im Konsens zu einer schnellen Operation – dann werde ich kaum auf irgendeinen Astrophysiker oder Ökonomen hören, der mir sagt, der Eingriff sei vollkommen unnötig." Eine weitere typische Strategie sei das Verbreiten von Verschwörungstheorien: "Wenn wissenschaftliche Erkenntnisse unbequem sind, dann wird schnell den Forschern unterstellt, sie würden sich durch ihre Ergebnisse doch nur Fördergelder erschleichen wollen. Dabei ist kaum irgendwo diese Vorstellung so absurd wie in der Klimaforschung. Denn wenn heute ein Wissenschaftler tatsächlich valide Indizien dafür fände, dass der Klimawandel doch nicht menschengemacht ist und Zehntausende Forscher weltweit seit Jahrzehnten völlig falsch liegen – er wäre auf einen Schlag weltberühmt, und viele Regierungen oder Unternehmen würden ihn sicher mit Forschungsgeldern überhäufen."

Ähnliches war einst in Kampagnen von Tabakkonzernen zu beobachten: Wissenschaftliche Erkenntnisse, die verifizierte Hinweise auf die enormen gesundheitlichen Risiken durch Zigarettenkonsum zeigten, wurden gezielt attackiert. Das Ziel: die Erkenntnisse entweder als fragwürdig angreifen, sie als eine "Meinung" von vielen abqualifizieren – oder die Forschenden als unglaubwürdig diskreditieren oder schlicht Verwirrung stiften. Weil sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel nicht grundlegend widerlegen lassen, werden Forschende zum Feindbild von Akteuren, die den Klimawandel oder den Einfluss des Menschen abstreiten. Ihnen wird nicht nur unterstellt, sie würden entweder fehlerhaft arbeiten oder bewusst manipulieren, sondern sie werden als Teil einer angeblichen Elite dargestellt, die sich gegen "das Volk" verschworen habe.

Gegen Establishment und Wissenschaft

Der Trick, Meinung und Faktum zu vermischen, wird oft mit anderen Kommunikationsstrategien des Populismus kombiniert. Dazu gehört vor allem das Agitieren gegen vermeintliche Eliten oder "das Establishment", während man sich selbst als "Anwalt des kleinen Mannes", "Stimme des Volkes" oder "des gesunden Menschenverstandes" präsentiert. Dieses Motiv war sowohl im ersten Wahlkampf von Donald Trump als auch bei der britischen Leave-Kampagne zentral, aber auch die AfD setzt es ein. Bemerkenswert daran ist, dass viele der genannten Akteure selbst als Elite beschrieben werden können: Sie waren oft seit Jahren in Wirtschaft und Politik aktiv und Teil dessen, was umgangssprachlich mit Establishment umschrieben wird.

Das Anti-Eliten-Motiv richtet sich auch gegen die Wissenschaft. Der Präsident der Deutschen Forschungsgesellschaft, Peter Strohschneider, beklagte 2017 zunehmende Wissenschaftsfeindlichkeit und populistischen Anti-Intellektualismus. Seien es die Leugnung des menschengemachten Klimawandels oder die Furcht vor dem Impfen: "Wahn und Lüge, vulgärer Zynismus, nacktes Machtkalkül und unverantwortliche Simplifizierung beweisen erneut ihre Geschichtsmächtigkeit – auch gegenüber der Freiheit der Wissenschaft. (…) Populistische Vereinfachungen und autokratische Durchgriffsideologien verheißen, den Zumutungen der modernen Welt schadlos entkommen zu können. Deswegen machen sie den sachlichen Diskurs ebenso verächtlich wie die methodische Wahrheitssuche und die Begründungsbedürftigkeit von Geltungsansprüchen. Übrig bliebe dann die Ordnung der alternative facts." Zugleich schränkte Strohschneider jedoch ein: Durch Forschung gewonnene Evidenz könne und dürfe Politik nicht ersetzen, vielmehr stelle die Wissenschaft der Politik nur die Erkenntnisse zur Verfügung, auf deren Basis Entscheidungen getroffen werden.

Dabei ist die Annahme, es gebe eine eindeutige und unumstößliche wissenschaftliche Wahrheit, genauso schädlich wie das populistische Konzept, wissenschaftliche Arbeit durch unbegründete und ideologisch motivierte Attacken und Zweifel zu verleumden. In Strohschneiders Worten: "Unser Wissen steht unter Revisionsvorbehalt – allein dann ist ja an Erkenntnisfortschritte zu denken"; außerdem sei eine "Haltung offener Ehrlichkeit" nötig, ebenso wie die "Fähigkeit, von sich selbst Abstand nehmen zu können, also die eigene Expertise nicht schon für das Ganze von Wissenschaft zu halten, die methodische Verlässlichkeit wissenschaftlichen Wissens nicht mit so etwas wie absoluter Gewissheit zu verwechseln". Doch genau diese Stärke der Wissenschaft, nämlich die eigenen Ergebnisse skeptisch zu hinterfragen, wird durch pauschale Zweifel und populistische Attacken in eine Schwäche verwandelt.

Das hat Folgen: In den USA stehen Wissenschaftler, die zum Klimawandel forschen, im Kreuzfeuer der Kritik. Die Union of Concerned Scientists dokumentiert seit 2017 Angriffe, die beispielsweise auf die Umweltbehörde EPA oder die Wetterbehörde NOAA unternommen werden. Die Attacken der Trump-Administration auf die Wissenschaft hätten inzwischen so vielfältige Formen angenommen, dass die US-Regierung dadurch dem wissenschaftlichen Fortschritt und somit der Gesundheit und Sicherheit der Allgemeinheit schade.

Aufklärung durch Faktenchecks?

Kampagnen zur Desinformation und Propaganda sind beileibe kein neues Phänomen. Die Wirkungsmacht solcher Techniken wurde in der Geschichte schon vielfach unter Beweis gestellt – oftmals mit katastrophalen Konsequenzen. Warum aber erleben diese Techniken gerade eine solche Renaissance? Eine entscheidende Ursache dürfte die Digitalisierung von politischer Kommunikation und Nachrichtenkonsum sein. Die Mechanismen von Social-Media-Netzwerken verleiten dazu, zu jeglichen Neuigkeiten umgehend eine Reaktion zu entwickeln: sei es Zustimmung, Ablehnung, Belustigung, Wut oder Trauer. Wissenschaftliche Erkenntnisse, Tatsachen oder Fakten eignen sich für solche emotionalen Reaktionen denkbar schlecht: Sie zeichnen sich durch Komplexität und Uneindeutigkeit aus. Bloße Meinungsäußerungen, insbesondere polarisierende, und die Logik der sozialen Netzwerke ergänzen sich hingegen dynamisch: Sie vereinfachen, spitzen zu, sind leicht verständlich. Mit Behauptungen und Meinungen lassen sich Menschen leichter und vor allem schneller erreichen. Und die Geschwindigkeit von Berichterstattung und Nachrichtenkonsum hat sich vervielfacht, sodass sich die Berichterstattung wiederum auf das Ereignis selbst auswirken kann, beispielsweise, wenn es um Falschmeldungen bei Anschlägen oder Katastrophen geht, die Panik auslösen können. Auch Kriege wie in der Ukraine oder Syrien werden von Propagandaschlachten begleitet.

Für Faktenchecker hält die digitalisierte Kommunikationswelt somit gleich mehrere Herausforderungen bereit. Denn die oft unterkomplexen, simplifizierten Behauptungen, die als Tatsachen verkleidet auf den "Markt der Meinungen" geworfen werden, müssen zunächst in einen Kontext gesetzt werden, um sie überhaupt überprüfen zu können. Das heißt, die faktische Grundlage einer Meinungsäußerung muss herausgearbeitet werden, denn eine reine Meinungsäußerung kann nicht als wahr oder falsch klassifiziert werden, sondern nur deren Argumente, darunter vor allem belegbare Fakten.

Aber an wen richten sich solche Faktenchecks überhaupt? Zum einen zeigen die oft erbosten Reaktionen derjenigen, die der Desinformation überführt werden, dass die Prüfungen durchaus die Verursacher und Verbreiterinnen von gezielten Falschmeldungen erreichen. Sie reagieren mit Versuchen, die jeweiligen Journalistinnen oder Medien insgesamt als korrupt, inkompetent oder unglaubwürdig zu verunglimpfen. Es handelt sich um Strategien, mit denen auch Wissenschaftler konfrontiert sind. Doch wer meint, ein Faktencheck könne solche Menschen einfach überzeugen, überschätzt die Möglichkeiten dieser journalistischen Darstellungsform. Wenn Menschen sogar die Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung kurzerhand als falsch oder Verschwörung wegwischen, werden sie sich kaum von einem Faktencheck überzeugen lassen.

In diesem Kontext darf zudem nicht unterschätzt werden, dass die beschriebene Propaganda vor allem eine Funktion hat: Es handelt sich um eine Abgrenzungs- und Identitätskonstruktion, daher spielen Feindbilder wie "das Establishment" auch so eine zentrale Rolle. Der Kulturwissenschaftler Michael Seemann hat in einem datenjournalistischen Projekt Hunderttausende Tweets auf ihre gegenseitigen Beziehungen diagnostiziert und kam zu dem Schluss, dass die Urheber der Kurznachrichten gar nicht in Filterblasen feststecken, sondern sich vielmehr in "Stammesgesellschaften" einfinden. Das Argument fungiert nicht mehr als Beitrag zu einer Debatte, sondern dient der Identitätsstiftung. Der Blogger David Roberts bezeichnete dieses Phänomen als "tribale Epistemologie": "Eine Information wird nicht anhand von Kriterien wie wissenschaftlichen Standards der Beweisführung oder gar der Anschlussfähigkeit an das allgemeine Weltverständnis beurteilt, sondern einzig und allein danach, ob sie den Werten und Zielen des Stammes entspricht. ‚Gut für unsere Seite‘ und ‚wahr‘ beginnen eins zu werden."

Faktenchecker werden das Problem von Desinformation und Propagandatechniken nicht unschädlich machen, aber sie können ihre Wirkung abschwächen und auf bestimmte Milieus begrenzen. Sie können Falschmeldungen widerlegen, den Unterschied zwischen Meinung und Faktum erklären und anhand von praktischen Beispielen die Mechanismen erklären, um Menschen, die mit Desinformation konfrontiert sind – sei es im Freundeskreis oder bei der Arbeit, sei es im Netz oder offline – argumentativ zu helfen. Faktenchecks sind ein Angebot und eine Orientierungshilfe.

In ihrem Essay "Wahrheit und Politik" schrieb Hannah Arendt, der Austausch und der Streit der Meinungen mache das eigentliche Wesen allen politischen Lebens aus. Dieser Streit wird durch Desinformation und Propagandatechniken aber bedroht. Arendt dazu: "Wo prinzipiell und nicht nur gelegentlich gelogen wird, hat derjenige, der einfach sagt, was ist, bereits zu handeln angefangen, auch wenn er dies gar nicht beabsichtigte." Das gilt auch für Journalistinnen und Journalisten: Wenn öffentlich gelogen und Meinungen und Fakten vermischt werden und Meinungsfreiheit dadurch zur Farce zu werden droht, kann bloßes Ignorieren keine Option sein.

ist Redakteur in der "Tagesschau"-Redaktion und leitet den "ARD-faktenfinder". 2019 erschien sein Buch "Fakten gegen Fake News".