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Droht der Polexit?

Krzysztof Ruchniewicz

/ 16 Minuten zu lesen

Krisensituationen verschärfen die Probleme, die in ruhigeren Zeiten in der Öffentlichkeit unsichtbar sind oder nur wenig Resonanz hervorrufen. Seit mehreren Jahren wird die Europäische Union von verschiedenen Krisen geschüttelt, die fast gleichzeitig stattfinden. Noch nie zuvor hat die EU ein solches Ausmaß an Heimsuchungen erlebt: Den Finanz-, Banken- und Wirtschaftskrisen folgten die sogenannte Flüchtlingskrise und die Krise um den Brexit, die beide mit der Bedeutungszunahme populistischer Bewegungen einhergingen, und seit dem Frühjahr 2020 haben wir es mit einer Pandemie zu tun, deren vollständige Auswirkungen noch nicht absehbar sind. All diese Krisen offenbaren zugleich ein tieferes Problem, nämlich eine Identitäts- oder auch Wertekrise Europas, die sich in zunehmender "Europaskepsis" der Bürgerinnen und Bürger äußert. Hinzu kommen Spannungen in den Beziehungen zwischen einzelnen EU-Ländern, die zwar nicht gesamteuropäischer Natur sind, aber gravierende Auswirkungen auf gesamteuropäische Angelegenheiten haben. Das Selbstbild der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise Europäischen Union als positives, sogar optimistisches Projekt, das gesellschaftlich akzeptiert und primär auf die Zukunft ausgerichtet ist, ist davon unmittelbar betroffen.

In einer solchen Situation ist es wahrscheinlich nicht verwunderlich, dass das oberste Stockwerk des Hauses der Europäischen Geschichte in Brüssel noch immer leer steht. Dies ist natürlich keine direkte Folge einer der genannten Krisen, aber das Fehlen klarer Konturen für die zukünftige Entwicklung der europäischen Integration hat einen gewissen Symbolwert. Die Rückkehr zu nationalen Antworten in Krisensituationen führt unweigerlich zu der Frage, ob nach dem Brexit, dem Ausscheiden des Vereinigten Königreiches aus der EU, nun auch die Regierungen anderer Staaten mit dem Gedanken spielen, ihr Land aus der EU zu führen. Im Folgenden werde ich diese Frage mit Blick auf aktuelle Entwicklungen in Polen diskutieren.

Krisenreflexe und Fliehkräfte

Nachdem das neuartige Coronavirus Europa erreicht hatte, schloss ein europäisches Land nach dem anderen seine Grenzen, als ob es die Freizügigkeit des Schengenraumes nie gegeben hätte. Die Produktion wurde weitestgehend eingestellt, Büros, Institutionen und Dienste wurden vorübergehend geschlossen. In den Städten nahm der Verkehr zusehends ab, und in den vor Kurzem noch überfüllten Flughäfen wurde es einsam. Viele Menschen gingen notgedrungen zum "Arbeiten auf Distanz" über, was das Potenzial und die Notwendigkeit digitaler Technologien verdeutlicht hat. Der Dienstleistungssektor ist von den Einschränkungen am stärksten betroffen, Tausende Kleinunternehmen stehen vor dem Ruin. Die endgültigen Kosten der Pandemie und der eingeleiteten Gegenmaßnahmen sind zwar noch nicht bekannt, doch es ist bereits von einer wirtschaftlichen Katastrophe die Rede, die mit jener ab den späten 1920er Jahren vergleichbar wäre.

Solange der Schrecken des Virus wirkte, hielten sich die Gesellschaften penibel an alle Vorschriften und Verbote. Nach zweieinhalb Monaten aber wächst die Frustration, und die Frage, wer schuldig ist, wird bereits gestellt. Ist "Brüssel" als Sündenbock geeignet? Die Erklärungen einiger Regierungen deuten jedenfalls darauf hin, dass sie froh wären, nicht mit der Vielzahl ihrer eigenen Versäumnisse und Fehler belastet zu werden. Die von den einzelnen EU-Mitgliedstaaten häufig allein und ohne Absprache mit den Nachbarn durchgesetzten Restriktionen – die Verhältnisse an der deutsch-polnischen Grenze zeigen es gut – haben offenbart, dass die EU auf einen Pandemiefall kaum vorbereitet war. Doch statt sich auf europäischer Ebene abzustimmen, begannen die Mitgliedstaaten, das Virus auf eigene Faust zu bekämpfen, wobei sie teilweise heftig um den Zugang zu medizinischer und Schutzausrüstung konkurrierten.

Vor allem in den Ländern Mittel- und Osteuropas, in denen teilweise populistische Parteien an der Regierung sind, verstärkte dies den Eindruck, dass man nicht auf die EU zählen könne. Darüber hinaus hat sich in einigen dieser Länder das Problem der ohnehin angekratzten Rechtsstaatlichkeit vertieft, weil im Zuge der Pandemiebekämpfung bürgerliche Freiheiten eingeschränkt wurden. Im Falle Polens geschieht dies nicht im Rahmen eines erklärten Ausnahmezustandes, sondern in Form von Anordnungen untergeordneter Behörden, deren Zuständigkeit juristisch umstritten ist. So lässt sich jedes Anzeichen von Kritik an der Regierung unter dem Vorwand der Nichteinhaltung der momentanen Sicherheitsauflagen einfach unterdrücken. Dies zeigte sich etwa Mitte Mai bei einer Demonstration von Kleinunternehmern in Warschau, die gewaltsam aufgelöst wurde.

Die Krisen der vergangenen Jahre und das teilweise Ausbleiben entschlossener Gegenmaßnahmen auf europäischer Ebene haben zu einer Zunahme der Fliehkräfte in der Union geführt. Die schon immer vorhandene Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen ist verstärkt zum Vorschein gekommen. Hinzu kommt, dass die Kriegs- und Nachkriegsgeneration, die Europa in Ruinen und Armut erlebte und die europäische Einigung vor allem als Friedensprojekt begriff, allmählich abtritt.

Die Krise des Integrationsgedankens ist in vielen Mitgliedstaaten sichtbar – sowohl in der "alten" (westlichen) als auch in der "neuen" (erweiterten) EU. Dabei sind drei Ländergruppen erkennbar: Bei der ersten handelt es sich um Länder, die große wirtschaftliche Probleme haben und mit hoher Arbeitslosigkeit und Verschuldung zu kämpfen haben. Sie sehen sich von der EU gegängelt, weil diese häufig Sparmaßnahmen von ihnen verlangt. Dies gilt vor allem für Länder in Südeuropa wie Griechenland und Italien. Die zweite Gruppe sind die Nettobeitragszahler, zu denen etwa Deutschland, die Niederlande und Finnland gehören. In diesen Ländern sind häufig Reden gegen den Solidaransatz zu hören, nach dem Motto: "Wir wollen nicht die Milchkühe für diejenigen sein, die ihre Hausaufgaben nicht machen." Die dritte Ländergruppe besteht aus den Ländern Mittel- und Osteuropas, etwa Polen und Ungarn, die zwar von EU-Geldern profitieren wollen, dafür aber keinesfalls bereit sind, auf ihre nach 1989 gewonnene Souveränität zu verzichten.

Polens frühe EU-Bilanz …

Der Fall Polens ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung. Noch vor wenigen Jahren galt das größte der "neuen" EU-Mitgliedsländer in der Schule der Demokratie und des freien Marktes als gelehriger Musterschüler. Eine große Mehrheit der Polinnen und Polen unterstützte die rasch vorangetriebene und tief greifende Transformation in den 1990er Jahren, und nach Jahrzehnten im sowjetischen Einflussbereich bedeuteten die Beitritte zur Nato 1999 und zur EU 2004 tatsächlich die Erfüllung eines Traumes von Generationen. Natürlich stellt sich die Frage, wie die Polinnen und Polen das vereinte Europa damals sahen, was sie erwarteten, wie gut sie die Mechanismen der EU kannten und verstanden. Aber unterschieden sie sich in ihrem möglichen Unwissen so stark von den durchschnittlichen Westeuropäern?

Aus den ersten Krisen, die in den folgenden Jahren auftraten und die EU erschütterten, kam Polen einigermaßen unbeschadet davon. Die kostspielige und sozial schmerzhafte Politik der Wirtschaftsreformen begann im 21. Jahrhundert Früchte zu tragen. Die proeuropäische Haltung Polens und seine aktive Beteiligung an der EU-Politik zwischen 2007 und 2014 waren allerdings auch stark von den liberalen Regierungen der PO (Platforma Obywatelska, Bürgerplattform) unter Ministerpräsident Donald Tusk beeinflusst.

Die Bilanz der polnischen EU-Mitgliedschaft kann kaum anders als sehr positiv bewertet werden. Das polnische Bruttoinlandsprodukt hat sich seit dem Beitritt verdoppelt, der polnische Export ist von 2004 bis 2018 um das 3,7-Fache gestiegen, die polnischen Importe um das 3,4-Fache. Polen ist ein wichtiger Partner für den europäischen Markt. Die Arbeitslosigkeit ist deutlich zurückgegangen, sowohl dank des Exports von Arbeitskräften in EU-Länder, die keine Angst vorm "polnischen Klempner" haben, als auch dank der Entwicklung von Unternehmen im Land selbst. Über eine Million Polinnen und Polen arbeiten legal im Ausland – die meisten in Großbritannien, Deutschland, Irland und Frankreich. Gleichzeitig stieg der Durchschnittslohn in Polen deutlich an. Auch das Einkommen auf dem Land ist gestiegen. Zudem wurden in 15 Jahren mit europäischer Hilfe mehr als 1000 Kilometer Autobahn und über 2000 Kilometer Schnellstraßen gebaut. Aber auch in Kleinstädten, die weit entfernt von Autobahnen liegen, gab es Investitionen, die von der EU in erheblichem Umfang mitfinanziert wurden – Wasserversorgungs- und Abwassersysteme, Gemeindestraßen sowie weitere öffentliche Versorgungseinrichtungen.

Betrachtet man diese vereinfachte Dimension der finanziellen und materiellen Vorteile der polnischen EU-Mitgliedschaft, kann man zweifellos von einem großen Erfolg sprechen – berücksichtigen wir weitere Faktoren, die direkt oder indirekt mit Polens Beteiligung an der europäischen Integration und der internationalen Politik im Allgemeinen zusammenhängen, sogar von einem historischen Erfolg. Gleichzeitig lässt sich aus heutiger Sicht aber auch festhalten, dass die liberalen PO-Regierungen angesichts der relativ guten Position Polens während der Finanzkrise größere Gruppen vernachlässigte, die nicht am polnischen Erfolg teilhatten und sich vergessen oder ausgeschlossen fühlten. Trotz sozialpolitischer Maßnahmen wie kostenlose Schulbücher oder günstige Kindergärten wuchs ihre Frustration.

… und die Quittung der PiS

Die 2001 von Lech und Jarosław Kaczyński gegründete nationalkonservative PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit) sprach diese Unzufriedenen, die der EU skeptisch gegenüberstanden, direkt an. Nach einer ersten Regierungszeit von 2005 bis 2007 musste sich die Partei zunächst mit der Oppositionsrolle begnügen. Doch 2015 wendete sich das Blatt und die PiS gewann sowohl die Präsidentschafts- als auch die Parlamentswahlen. Den Wahlkampf hatte sie vor allem mit sozialen Versprechungen geführt, vermischt mit Slogans, die an das nationale Selbstwertgefühl rührten (zum Beispiel "Polen in Trümmern" oder "Aufstehen von den Knien"). Die PiS nutzte die Stimmung der Angst in der polnischen Gesellschaft – geschürt durch die Migrationskrise in Europa sowie den Krieg in der Ukraine – geschickt aus. Immer häufiger war nun die Rede vom "nationalen Interesse" und der Notwendigkeit, im "ungünstigen" europäischen Umfeld für die eigenen Interessen kämpfen zu müssen. Diese Rhetorik führt die PiS im Grunde bis heute fort, und die Auswirkungen ihrer euroskeptischen Politik ließen nicht lange auf sich warten.

Zwar ist in Polen noch immer mehrheitlich mit Unterstützung für die EU zu rechnen, aber vielleicht nicht mehr so selbstverständlich wie noch vor wenigen Jahren. Die Ergebnisse einer im April 2020 vom European Council on Foreign Relations veröffentlichten repräsentativen Umfrage über die Ansichten der Polen über die EU und den Platz Polens in der Union sind bezeichnend. Sie zeigen unter anderem, dass europäische Fragen den Hintergrund für nationale Spaltungen bilden.

So ist ein Drittel der Befragten der Ansicht, dass die Mitgliedschaft in der EU für Polen in Zukunft wichtiger sein wird, jeder vierte PiS-Anhänger verneint dies dagegen.

Warschau, Dezember 2015: PiS-Anhänger demonstrieren vor dem Denkmal von Roman Dmowski. (© picture-alliance, NurPhoto)

Auf die Frage, ob die Nationalstaaten nach dem Ende der Pandemie mehr Befugnisse als die EU-Behörden haben sollten, antworteten 60 Prozent der PiS-Anhänger mit ja. Skepsis wird nicht nur gegenüber der Funktionsweise der EU-Institutionen geäußert, sondern auch gegenüber offenen Grenzen, die zu den Grundwerten gehören, die die Gemeinschaft ausmachen. Fast die Hälfte der Polen (46 Prozent) befürwortet unter dem Eindruck der anhaltenden Krise eine Verstärkung der Kontrollen an den EU-Binnengrenzen, nur 28 Prozent sind in dieser Frage für eine Rückkehr zur vorepidemischen Situation. 37 Prozent sind der Meinung, dass die polnischen Werte in Europa gefährdet sind, nur 31 Prozent lehnen diese Ansicht ab. Jeder dritte Pole ist der Meinung, dass Europa Polen dankbarer sein sollte. Auf die Frage, auf wen man "in der heutigen Welt am meisten zählen kann", antworteten 48 Prozent der Befragten, dass es der polnische Staat sei, darunter 60 Prozent der befragten PiS-Anhänger.

Die Spaltung ist auch bei den wichtigsten EU-Werten sichtbar: 37 Prozent sind der Meinung, dass das polnische Recht wichtiger als das der EU sein sollte (zwei Drittel der PiS-Anhänger teilen diese Ansicht). Die Polen sind zudem nicht beziehungsweise nur unter konkreten Bedingungen finanzieller Art bereit, sich in Klima- oder Migrationsfragen zu engagieren, die Hauptbereiche der gemeinsamen EU-Politik ausmachen. Einen Beitritt zur gemeinsamen Währungszone lehnen 45 Prozent ab, wobei zu beachten ist, dass es zu diesem Thema in Polen, wie zu vielen anderen Fragen auch, keine vernünftige Debatte gibt.

Dmowskis Erbe

Wie lässt sich die Ablehnung der Grundlagen des europäischen Projektes durch einen großen Teil der polnischen Bevölkerung erklären? Auch wenn es nicht nur in der PiS Europaskeptiker gibt, ist es lohnenswert, sich mit ihrer Vision von Nation und Staat auseinanderzusetzen. Obwohl sie dies nicht unbedingt direkt tut, bezieht sie sich in ihrer Praxis oft auf das politische Denken eines Gründers der Zweiten Republik (ab 1918) und Hauptideologen der Nationalen Demokratie, Roman Dmowski. Dmowskis Staatsvision bedeutete die Unterordnung aller Diskurse unter den nationalen Diskurs. Vorrangig ging es darum, das Ansehen der Nation und des Nationalstaates zu wahren, selbst um den Preis der Einschränkung der Diskussionsfreiheit und anderer bürgerlicher Freiheiten. Die Schwerpunkte lagen dabei auf der Bekräftigung der eigenen Nation und der Begrenzung der internen Kritik, sobald der gute Ruf Polens Schaden zu nehmen drohte. Die Rechte nationaler Minderheiten sollten eingeschränkt werden, wenn diese sich nicht vollständig assimilierten, was in der polnischen Realität die Konversion zum Katholizismus bedeutete. Entsprechend stark wurde die enge Verbindung von Nation und Kirche betont. Die katholische Kirche galt als eine der größten Autoritäten bei der Bewahrung des nationalen Geistes. Der größte ideologische Feind von Dmowski und der Nationalen Demokratie war der Liberalismus, der für Bürgerrechte und Freiheiten eintrat. Letztlich sollte nach diesem Verständnis vom wahren Nationalstaat die Macht zur Verfolgung nationaler Interessen von einer einzigen Partei ausgeübt werden, deren Autorität sich auch auf die Autorität der Kirche stützen sollte.

Die Vision von der Welt und dem internationalen Staatensystem basierte auf Prinzipien des Sozialdarwinismus: So wurden die Beziehungen zwischen Nationen als dauerhafte Rivalität beschrieben, mit dem Ziel der Verwirklichung egoistischer nationaler Interessen. Der Nationalstaat sollte daher verpflichtet sein, für seine eigenen Interessen zu kämpfen, er sollte sich nicht der Illusion internationaler Freundschaft und Zusammenarbeit hingeben. Dmowski kritisierte die polnische Version der Romantik heftig; ihrer Tradition zufolge sei es wichtiger, die moralischen Pflichten und Werte der Nation zu erfüllen, als die Handlungen aktuellen Interessen anzupassen. Die romantischen Ideale führten zu einem martyrologischen Bild der polnischen Nation, und Niederlagen wurden zu moralischen Siegen uminterpretiert. Dmowski lehnte diese Ideale entschieden ab: Die Nation müsse im Wettbewerb mit anderen gewinnen und die Beziehungen zu anderen rein pragmatisch behandeln.

Dmowskis Ideen, die manche politische Beobachter schon vor langer Zeit für überholt hielten, sind nun plötzlich wieder aktuell. Sie bilden ein ideologisches Fundament für die PiS-Regierung, die Dmowski kürzlich ein "Institut zur Pflege des nationalen Denkens" gewidmet hat. Aber auch Gruppen rechts von der PiS, deren Popularität in den vergangenen Jahren ebenfalls zugenommen hat, beziehen sich auf ihn. Die PiS sieht auf der Grundlage dieses ideologischen Erbes die Möglichkeit, ihre Herrschaft auf die gesamte rechte politische Szene auszudehnen: Kritik als Element der gesellschaftlichen Debatte akzeptiert sie nicht, ebenso wenig respektiert sie die Rechte von Minderheiten. Ihr bei den jüngsten Parlamentswahlen 2019 erneuertes Regierungsmandat betrachtet sie als Bestätigung, dass sie das Recht habe, das politische System grundlegend umzubauen. Der Hinweis der Opposition, dass eine Gefährdung der polnischen EU-Mitgliedschaft drohe, reichte nicht aus, um die Wahlen zu gewinnen. Zwar kann die PiS nun nicht mehr allein regieren, aber die kleinen Koalitionspartner lassen sich schwerlich als unabhängige politische Einheiten bezeichnen.

Der Umbau des Staates begann mit Reformen im Justizwesen und Bildungswesen. Die PiS-Regierung versuchte, die Medien der eigenen Herrschaft unterzuordnen, was im Falle der öffentlich-rechtlichen Medien auch gelungen ist. Um größere Unterstützung der Kirche zu gewinnen, wurde sogar der seit den 1990er Jahren geltende Kompromiss zur Abtreibung angetastet – die große gesellschaftliche Opposition verhinderte jedoch (bis jetzt) die geplanten Einschränkungen des ohnehin strengen Abtreibungsrechts. Trotz der Proteste der politischen und gesellschaftlichen Opposition hat die PiS ihr Programm der Unterwerfung seit 2015 konsequent umgesetzt, immer neue "rote Linien" überschritten und auf diese Weise ihre Macht in verschiedene Lebensbereiche weit ausgedehnt.

Europäisches Echo

Im Laufe der Zeit haben die Veränderungen in Polen auch auf europäischer Ebene Kontroversen hervorgerufen. So wurde eine Gefährdung der Gewaltenteilung befürchtet, was enorme Auswirkungen auf Polens Rechtsstaatlichkeit hätte. Zugleich gab es die Sorge, dass andere Mitgliedstaaten dem polnischen Beispiel folgen könnten, wenn eine deutliche Reaktion der EU ausbleiben würde. Bereits im Januar 2016 nahm die Europäische Kommission auf Grundlage des Rahmens zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips einen Dialog mit der polnischen Regierung auf, im Dezember 2017 löste sie schließlich ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrages zum Schutz der Grundwerte der EU aus.

Die polnische Regierung betrachtete die Schritte der EU gegen Warschau als Einmischung in die inneren Angelegenheiten. Es wurde behauptet, dass die Europäische Kommission nicht demokratisch legitimiert sei und die ausländische Kritik auf einem Missverständnis des komplizierten Verfassungsrechtes in Polen beruhe. Auf Zweifel an dieser Lesart wurde mit Empörung reagiert, wodurch nationalistische Tendenzen weiter geschürt wurden. Die PiS-Regierung verschärfte auch die Auseinandersetzung sowohl mit der parlamentarischen als auch mit der außerparlamentarischen Opposition und zögerte nicht, den Staatsapparat einzusetzen. Obwohl die Gerichte im Allgemeinen die Anschuldigungen gegen Organisatoren verschiedener Kundgebungen und regierungskritischer Aktionen zurückweisen, ist eine Tendenz erkennbar, dass Behörden versuchen, abweichende politische Ansichten zu bestrafen. Zum 31. Jahrestag der ersten teilweise freien Wahlen in Polen (4. Juni 1989) ist dies ein trauriger Eindruck, immerhin wurde der Aufbau der Dritten Polnischen Republik auch durch den Dialog mit den Kommunisten und deren friedliche Machtübergabe ermöglicht. Gleichzeitig werden verschiedene nationalistische und chauvinistische Verhaltensweisen toleriert, um die Unterstützung eines solchen Teils der polnischen Gesellschaft zu gewinnen. In den vergangenen Monaten hat sich der Einfluss der Regierung auf den Obersten Gerichtshof verstärkt, die Staatliche Wahlkommission arbeitet bereits unter veränderten Bedingungen. Und auch die unabhängigen privaten Medien operieren zunehmend unter dem Druck der Behörden.

Es besteht kein Zweifel, dass die politischen und sozialen Veränderungen in Polen eine große Herausforderung für die EU sind. Die Parlamentswahlen in Polen und die Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 haben diesen negativen Trend nicht umgekehrt. Der erste Sieg der PiS 2015 kann daher nicht mehr bloß als Protestwahl, als Ausdruck von Rebellion und Frustration oder sprichwörtliche "rote Karte" für die Bürgerplattform betrachtet werden. Der erneute Wahlerfolg der PiS nach allem, was die liberale polnische Elite empört hat, zeigt, dass die Partei mit ihrer Botschaft den Erwartungen einer so großen Gruppe von Polinnen und Polen entspricht, dass sie regieren kann, ohne das im Land noch geltende, wenn auch geschwächte Rechtssystem berücksichtigen zu müssen.

Quo vadis, Polonia?

Zu den bereits bekannten Problemen sind mit der Pandemie nun weitere hinzugekommen. Die Zerstörung des demokratischen Staates in Polen vollzieht sich vor unseren Augen. Die ursprünglich auf den 10. Mai angesetzten Präsidentschaftswahlen fanden schlicht und einfach nicht statt, und die für die Zeit der Krise geplanten Verfahren wurden missachtet, weil sie für die PiS-Parteiführung ungünstig waren. Der mögliche Sieg eines Kandidaten der eigentlich geschwächten Opposition ist damit zunächst in weitere Ferne gerückt. Sogar der schwache und politisch unselbständige amtierende Präsident Andrzej Duda scheint im Vergleich zu seinen Konkurrenten eine mächtige Kraft zu sein.

Ist der Fall also entschieden? Ist ein Polexit in Vorbereitung? Es scheint, dass eine solche Schlussfolgerung immer noch zu weitreichend wäre. Gesellschaftliche Stimmungen sind wechselhaft. Es wird interessant sein, wie die durchschnittlichen Polinnen und Polen im Zuge des bevorstehenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs die Regierungsführung beurteilen. Aber wird eine kritische Haltung gegenüber PiS auch im großen Maßstab eine Rückkehr zu einer proeuropäischen Haltung bedeuten? Es lohnt sich, zunächst einmal darüber nachzudenken, wie man die skeptischen Bürgerinnen und Bürger Polens (und aller anderen Länder!) zurückgewinnen und sie ermutigen kann, die europäische Integration wieder zu akzeptieren und bestenfalls zu unterstützen.

Krakau, 10. Mai 2020: Protest von Regierungskritikern am Tag der abgesagten Präsidentschaftswahlen. (© picture-alliance, NurPhoto)

Der polnische Fall ist kein Einzelfall in Europa, aber er hat seine Besonderheit, die eine ernsthafte und separate Behandlung erfordert. Die junge Generation sucht nach ihrem Platz und ihrer Identität in einer globalisierten Welt und wünscht sich ein Gemeinschaftsgefühl. Den polnischen demokratischen Liberalen ist es trotz vieler Erfolge nicht gelungen, den Jüngeren eine attraktive Erzählung von Polens erfreulicher Bilanz in der EU zu vermitteln, sich um demokratische und europäische Bildung zu kümmern und gleichzeitig den Sinn für die nationale Gemeinschaft zu pflegen. Denn trotz aller Veränderungen in den zurückliegenden drei Jahrzehnten wird die Welt bis heute vor allem aus nationaler Perspektive betrachtet, und das wird auch lange Zeit noch so bleiben.

Es ist aber wichtig, nationale Gefühle so zu mäßigen, dass sie nicht in Richtung Selbstisolation und Ausgrenzung anderer abdriften. Auch in Polen suchen junge Menschen verstärkt in rechtsextremen Kreisen nach Befriedigung ihres Zugehörigkeitsgefühls. Zwar handelt sich um eine Minderheit, aber die Tatsache an sich sollte Anlass zur Sorge geben und Staat und Zivilgesellschaft dazu veranlassen, entsprechend zu handeln. Es ist dafür notwendig, auch eine neue Sprache zu finden, um die Geschichte Europas und seiner Menschen zu erzählen. Schließlich zeigt die Geschichte am besten, welch gefährliche Absurdität es ist, den Nationalismus auf einem Kontinent zu unterstützen und auf ihn zu verweisen, der zwei im Wesentlichen brudermörderische Kriege überlebt hat, die Millionen von Menschenleben gekostet haben. Die Logik des Nationalismus führt zu Konflikten, zu einem Krieg, in dem es letztlich keine Gewinner gibt. Es ist erschreckend, dass wir 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, dessen erstes Opfer Polen war, zu solch elementaren Wahrheiten zurückkehren müssen.

ist Professor für Zeitgeschichte und Direktor des Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland und Europastudien an der Universität Wrocław. E-Mail Link: ruchniewicz@wbz.uni.wroc.pl