Deutsch-deutsche Identitäten in der Nachwendegeneration
Beobachtet man den Markt der öffentlichen Debatten und Aufmerksamkeit, dann ist das Thema "Ostdeutschland" in all seinen Facetten wieder zu einer wichtigen Größe geworden. Nach den Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien bei den Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Herbst 2019 und ganz besonders nach dem politischen Debakel im Thüringer Landtag im Frühjahr 2020, als der FDP-Abgeordnete Thomas Kemmerich unter anderem mit Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt wurde, blickte die ganze Republik auf Ostdeutschland als Problemfall. Wenig später löste das Virus SARS-CoV-2 eine Pandemie aus, und als Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) im Zusammenhang mit den Eindämmungsmaßnahmen vor allem an die "besonderen Fähigkeiten" der Ostdeutschen appellierte, verschob sich der Fokus der Aufmerksamkeit. Ostdeutsche wüssten mit Krisen umzugehen und hielten sich besonders vorbildlich, weil diszipliniert, an die Restriktionen.[1] Das erinnerte sehr an die Diskussionen um die Ostdeutschen als "Avantgarde" und "Pioniere der Prekarität".[2] Staatliche Einschränkungen, Autoritäts- und Mangelerfahrungen, der Umgang mit Krisen, Transformationskompetenz – immer wieder wird "den Ostdeutschen" zugeschrieben, darauf besser vorbereitet zu sein.[3]Meist werden Ostdeutsche als kollektive Gruppe aufgerufen,[4] wenn es um negative Zuschreibungen geht.[5] Der Versuch von Ministerpräsident Haseloff, die Krisenerfahrungen "der Ostdeutschen" positiv zu deuten, ist aber auch aus einer anderen Perspektive interessant, denn nicht alle Menschen, die in Ostdeutschland leben, haben auch DDR-Erfahrungen. Das betrifft die "Zugezogenen" aus den alten Bundesländern, vor allem aber die "Nachwendegeborenen", die heute in Ostdeutschland leben.
Letztere zeigten in den vergangenen Monaten öffentlichkeitswirksame Bestrebungen der Identitätsfindung und des politischen Aktivismus als Ostdeutsche. So gründete sich nach der Europawahl 2019 die Initiative #wirsindderosten, die besonders erfolgreiche junge Ostdeutsche vorstellen wollte, die sich eindeutig gegen rechtsextremes Gedankengut stellen, sowie das linke Kollektiv "Aufbruch Ost", das unter anderem eine Aufarbeitung der Geschichte der Treuhand fordert.[6] Beide Gruppen bestehen aus jungen Ostdeutschen, die Debatten über Ostdeutschland aktiv beeinflussen wollen. Nach den "alten westdeutschen Männern", die in den ersten Jahrzehnten der Deutschen Einheit in Talkshows über ostdeutsche Befindlichkeit sprachen und mehrheitlich Chefredaktionen, Forschungsprojekte und Unternehmensvorstände leiteten,[7] sollen vermehrt auch junge Ostdeutsche die Perspektive auf den Osten prägen.
Solche Initiativen sind nicht neu. Es ist zu beobachten, dass ostdeutsche Generationenselbstbeschreibungen in einer Art Fünfjahresintervallen auftreten. 2002 beschrieb Jana Hensel mit ihrem Buch "Zonenkinder" erstmalig die Generation der jungen Ostdeutschen, die als Kinder noch die DDR erlebten und im vereinten Deutschland groß wurden. Fünf Jahre später folgte Robert Ide mit seinem Buch "Geteilte Träume". 2012 formierte sich, gefolgt von weiteren Selbstportraits,[8] die "3te Generation Ostdeutschland", die vor allem für eine neue Form der Erinnerung eintrat.[9] Zum Ende des aktuellen Jahrzehnts melden sich nun die Vertreter*innen jener Alterskohorte zu Wort, die nicht mehr in der DDR geboren wurde, sich aber dennoch mit ihrer ostdeutschen Herkunft auseinandersetzt.[10] Auch nach 30 Jahren Deutscher Einheit scheint die einstige Teilung in Ost- und Westdeutschland die junge Generation identitär zu prägen.
Generationen-Transfer
Valerie Schönian, die 1990 geboren wurde, beschreibt in ihrem Buch "Ostbewusstsein", wie ihr journalistisches Interesse an ihrer eigenen ostdeutschen Identität bei ihren Verwandten auf Irritation stößt. Was haben die jungen Menschen denn noch mit Ost und West zu tun? Interessant ist dabei, woran Ostdeutsch- und Westdeutschsein festgemacht wird. Wenn ein Leben in der DDR nötig ist, um ostdeutsch sein zu können, dann haben "Nachwendekinder" keine ostdeutsche Identität mehr. Wenn aber der Raum Ostdeutschland nur als historisch-politischer (DDR) und geografischer Raum (neue Bundesländer) wahrgenommen wird, dann greift die Analyse zu kurz. Vielmehr ist Ostdeutschland ein diskursiver Raum, in dem gesellschaftliche Neuaushandlungen stattfinden.[11] Junge Ost- und Westdeutsche interagieren mit ihren Eltern, den Medien, politischen Entscheidungen, Bildungserfahrungen und Zuschreibungen, die der konstruierten sozialen Gruppe "Ostdeutsche" gegenüber formuliert werden.Die Annahme, dass Fragen der Identität in den späteren Generationen immer weniger relevant werden, ist ambivalent zu betrachten. Eine quantitative Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur Nachwendegeneration zeigt, dass zwar nur 20 Prozent der jungen Ostdeutschen sich selbst als "Ostdeutsche" bezeichnen, aber knapp 65 Prozent der Meinung sind, dass Herkunft aus Ostdeutschland weiterhin eine Rolle im Alltag spielt.[12] Für die Westdeutschen fallen beide Werte mit 8 beziehungsweise 41 Prozent geringer aus. Diese Studie zeigt einerseits, dass es in einigen Kategorien unterschiedliche Einstellungen gibt. So sind die jungen Ostdeutschen etwas pessimistischer bei der Einschätzung der ökonomischen Situation. Andererseits werden auch gemeinsame, für einen demokratischen Staat eher erschreckende Einstellungen erkennbar. So stimmen etwa der Aussage, dass sie "lieber einen starken Führer als eine parlamentarische Demokratie und Wahlen" hätten, junge Ost- und Westdeutsche mit 26 beziehungsweise 23 Prozent fast gleich stark zu.
Die Ost-West-Differenz bleibt auch für die Nachwendegeborenen eine Strukturkategorie, und sie wird es voraussichtlich noch einige Jahrzehnte bleiben. Empirisch ist nachweisbar, dass die ostdeutschen Bundesländer in so gut wie allen relevanten sozialstrukturellen Kennzahlen (Vermögen, Einkommen, Spitzenpositionen, Infrastruktur, Hauptsitz von DAX-Unternehmen) den westdeutschen Bundesländern noch immer unterlegen sind. Transformationsforscher*innen gehen davon aus, dass eine gesellschaftliche Transformation ungefähr 30 bis 50 Jahre andauert.[13] Somit sind wir eher mittendrin im gesellschaftlichen Umbruch, den der Soziologe Steffen Mau als "ostdeutsche Frakturen" bezeichnet.[14] Dieser Umbruch ist ferner nicht mehr nur auf die DDR-Erfahrung zurückzuführen, sondern auch auf die Entwicklungen nach 1990 in Ostdeutschland. Aus diesem Grund ist die "Nachwendegeneration" als Untersuchungseinheit so wichtig.
In meiner Dissertation habe ich die Alterskohorte der zwischen 1990 und 1995 Geborenen unter Berücksichtigung von Vertreter*innen aus den alten Bundesländern hinsichtlich ihrer Identität und Identifikation als junge Ost- beziehungsweise Westdeutsche mithilfe von Imitation Games und Gruppendiskussionen beforscht.[15] Dabei ist weniger der "Inhalt" der identitären Selbst- und Fremdzuschreibung interessant, sondern der Prozess, in dem die Fremdzuschreibung zu einer Selbstzuschreibung wird, also zu einer "sozialen Identität".[16] Ich habe dabei drei Thesen formuliert, wie diese langsame und fortschreitende Transformation der ostdeutschen, aber auch der gesamtdeutschen Gesellschaft sich auf die Selbstverortung der "Nachwendegeneration" auswirkt, die ich im Folgenden skizzieren werde.
Ambivalente Solidarität mit der Elterngeneration
Bei den Ostdeutschen der Nachwendegeneration wird eine ostdeutsche Identität unter anderem über die eigenen Eltern beziehungsweise die Elterngeneration und die Aushandlung mit ihr und ihrer Identität hergestellt. [17] Der Bezug zu den Eltern erweist sich dabei vor allem als ambivalent. Einerseits gibt es einen hohen Grad der Solidarität mit den Eltern und deren Erfahrungen im gesellschaftlichen Umbruch. Erfahrungen der Arbeitslosigkeit, Herabstufung im Job und kultureller Umgewöhnung waren in den Familien präsent und berühren auch die Kinder in Bezug auf Zugehörigkeit. Die Teilnehmer*innen meiner Studie berichten von Vätern, die vom westdeutschen Chef entlassen wurden, von Müttern, die regelmäßig Hunderte Kilometer aus einer brandenburgischen schrumpfenden Stadt in der deutsch-polnischen Grenzregion in eine norddeutsche Metropole zurücklegten, um dort zu arbeiten. Sie berichten von Erzählungen ihrer Eltern über nicht anerkannte Bildungsabschlüsse und Erwerbsbiografien. Andererseits lehnen sie es ab, sich mit möglichen "ostalgischen" Aussagen der Eltern zu solidarisieren. Sie haben die DDR nicht erlebt und haben einen kritischen Blick auf dieses vergangene politische System. Die Mischung aus Solidarität mit den biografischen Erfahrungen und Ablehnung eines "Früher war alles besser"-Diskurses verteilt sich in den Aussagen sehr unterschiedlich, aber alle Teilnehmer*innen müssen sich dazu verhalten und finden eine Position zur DDR-Biografie ihrer Eltern. Ihre eigenen Erfahrungen mit Ostdeutschland beruhen dabei stark auf den Nachwendeerlebnissen. DDR-Geschichte spielt in ihren Erzählungen über das Ostdeutschsein nur am Rande eine Rolle.Für die Westdeutschen der Nachwendegeneration ist die Westsozialisation durch ihre Eltern nahezu irrelevant. Eine Teilnehmerin berichtet zwar von den Migrationserfahrungen ihrer Eltern und Fragen von Anpassung, Integration und Diskriminierung aufgrund von religiösen Symbolen in der Schule, die sie beschäftigt haben. Aber dass sich Eltern um 1990 einheitsbedingt neu einrichten mussten, ist keine allgemein geteilte Familienerfahrung der Westdeutschen, sodass sie auch keine Position dazu einnehmen müssen.
Abwertungserfahrungen als Katalysator der Identifikation
Junge Ostdeutsche reagieren stark auf Abwertungen und Pauschalisierungen von Ostdeutschland und Ostdeutschen. Angesprochen werden dabei die Darstellung der Ostdeutschen als rechtsextrem, eine einseitige mediale Berichterstattung sowie Witze über Ostdeutsche. Auch die schulische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit wird kritisch diskutiert. Der Geschichtsunterricht ist demnach geprägt von Stasi, SED und Diktatur,[18] während für Aspekte der Alltagskultur und -geschichte ihrer Meinung nach sehr viel weniger Raum bleibt. In der Wahrnehmung der jungen Ostdeutschen wird der Osten Deutschlands ausnahmslos negativ konnotiert. Das deckt sich mit Forschungsergebnissen, die aufzeigen, dass der Osten in der medialen Berichterstattung fast immer dann begrifflich besetzt wird, wenn über ein Problem berichtet wird.[19]In den Gruppendiskussionen findet bei den jungen Ostdeutschen eine Zugehörigkeit zum Ostdeutschsein spätestens in dem Diskurs über Abwertungen Zustimmung. Als Beispiel ist die Aussage einer Teilnehmerin der Gruppendiskussion in einer nordostdeutschen Großstadt zu nennen: "Ich weiß nicht, ich identifizier mich quasi nicht aktiv. Also ich sag nicht aktiv, hej ich bin aus dem Osten, aber quasi wenn es woanders kommt und wenn wer anderes sagt, das ist total scheiße. Dann denke ich mir schon, na ich bin ja schon von hier und ich weiß es ist anders. (…) Ich bin aus dem Osten und ich muss meine Heimat jetzt verteidigen (…)."
Der Osten als das "Andere", der Westen als die "Norm"
Auffällig in der Nachwendegeneration ist, dass die ostdeutsche Identität sehr schnell in den Aussagen der jungen Ostdeutschen sichtbar wird. So haben einige der Teilnehmer*innen in den ostdeutschen Gruppendiskussionen teilweise gleich zu Beginn nach der allgemeinen Frage zu "Identität" Ostdeutschsein als einen wichtigen Aspekt der eigenen Identität angesprochen. In den westdeutschen Gruppendiskussionen hingegen wurde westdeutsche Identität über die gesamte Dauer als Selbstzuschreibung überhaupt nicht erwähnt. Stattdessen konnte nur über das eigene Westdeutschsein nachgedacht werden, in dem über die "Anderen", die Ostdeutschen, gesprochen wurde. Während einerseits eine westdeutsche Identität abgelehnt wurde, gab es durchaus Aussagen und Zuschreibungen zu Ostdeutschen. Das Muster lautete meist, dass es eigentlich keine relevanten Unterschiede mehr in der Nachwendegeneration gebe, aber die Ostdeutschen hier und da ja schon besonders seien.Diese Ungleichheit in der Benennung der Kategorien führe ich auf das "Othering" von Ostdeutschen zurück, das sich daraus ergibt, dass "westdeutsch" als hegemoniale Norm angenommen wird und somit in den Zuschreibungen unsichtbar bleibt, während alle "Anderen" immer wieder als soziale Gruppe thematisiert werden und somit auch sichtbar gemacht und bewertet werden können. Othering entstammt als Konzept der postkolonialen Theorie[20] und wurde bereits im Zusammenhang mit der deutschen Ost-West-Differenz untersucht.[21] In meinen Daten findet sich auch eine kritische Reflektion dieses Otherings durch die Teilnehmer*innen selbst. Vor allem in der Gruppendiskussion in einer rheinländischen Großstadt wurde dieser Aspekt explizit angesprochen: "Ja, ich glaub halt auch, weil Westdeutschland immer noch als die Norm wahrgenommen wird. Und die Norm nimmt sich ja selbst nicht als besonders wahr. Das ist ja genauso wie weiß zu sein oder so. Wie häufig fällt einem das auf, dass man weiß ist. Wahrscheinlich sehr selten, wenn man sich in einem rein weißen Kontext bewegt. Und genauso denke ich mir ist das auch mit West- und Ostdeutschland."
Durch die westdeutsche Dominanz im Diskurs über Differenz ergeben sich auch Analogien zu Gruppen, die im gesamtgesellschaftlichen Diskurs ebenfalls als "Andere" markiert sind. So scheint etwa bei der Verbindung von Aspekten der Identitäts- und Diskursforschung über Ostdeutschland mit der vielfältigen Forschung zu Migration und Integration[22] der Ansatz einer "postmigrantischen Gesellschaft" hilfreich, um den Integrationsprozess der deutschen Gesellschaft pluraler fassen zu können. Genauso wie junge Ostdeutsche sind auch Vertreter*innen der zweiten und dritten "migrantischen" Generation nie aktiv migriert und finden sich trotzdem in teilweise auch nur zugeschriebenen Prozessen der "Integration" und "Identitätsdiffusion" wieder.[23]
So zeigt sich, dass für junge Ostdeutsche das Ostdeutschsein nicht nur deshalb relevant wird, weil sich sozioökonomische Unterschiede auch durch die regionale Herkunft erklären lassen und durch die Erwerbsbiografien und das Übertragen von Kapitalien der Eltern aus der DDR auf ihre Kinder,[24] die im vereinten Deutschland erfolgreich sein wollen, sondern eben auch durch ein Dominanzverhältnis, in dem Ostdeutschsein noch immer als Abweichung von der Norm wahrgenommen wird. Ostdeutsche bleiben im Ost-West-Verhältnis die "Anderen".