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Regierungswahl als Geheimsache? | Parlamentarismus | bpb.de

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Regierungswahl als Geheimsache? Zur Aktualität einer alten Debatte

Frank Decker

/ 15 Minuten zu lesen

Bevor die politische Agenda in Deutschland ab März 2020 von der Corona-Krise dominiert wurde, hatte im Februar ein anderes Ereignis die Republik in Atem gehalten und die parteipolitische Debatte auf Landes- und Bundesebene wochenlang bestimmt: die Ministerpräsidentenwahl in Thüringen. Der Sieg des FDP-Politikers Thomas Kemmerich über den populären Amtsinhaber Bodo Ramelow von der Linken bei der Abstimmung im Erfurter Landtag im dritten Wahlgang sorgte am 5. Februar 2020 für einen Paukenschlag, weil er mithilfe der Stimmen der rechtspopulistischen AfD erfolgte und dies von CDU und FDP – bewusst oder versehentlich – in Kauf genommen wurde. Die öffentliche Empörung über diesen "Dammbruch" war so groß, dass Kemmerich bereits drei Tage nach der Wahl wieder zurücktrat, was ihn zum Ministerpräsidenten mit der kürzesten Amtszeit in der Geschichte der Bundesrepublik machte. Gleichzeitig löste sie eine Führungskrise innerhalb der CDU aus, die in den Rücktritt der bereits angeschlagenen Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer mündete.

Unanständig, Trickserei, Wählerbetrug – diese und ähnliche Vokabeln wurden bemüht, um das Verhalten von AfD, CDU und FDP bei der Wahl Kemmerichs zu diskreditieren. Nach dessen erzwungenem Abgang begannen sogleich die Spekulationen, wie sich die Parteien und Abgeordneten bei der fälligen Wiederholungswahl verhalten würden. Insbesondere die Linke schreckte vor einer solchen Wahl zunächst zurück, weil sie fürchtete, dass ausgerechnet die AfD Ramelow mit ihren Stimmen im ersten oder zweiten Wahlgang zur absoluten Mehrheit verhelfen könnte. Über die verfassungsmäßige Bestimmung, die so ein perfides Verhalten zulässt, verloren Politiker und professionelle Beobachter kein Wort: Es ist die in allen Ländern und auf Bundesebene vorgesehene Regelung, wonach die Wahl der Regierungschefs mit "verdeckten Stimmzetteln" – wie es in der Geschäftsordnung des Bundestages heißt – zu erfolgen hat, also in geheimer Abstimmung.

Von Barzel bis Ramelow: Dramen gescheiterter Regierungswahlen

Die Nicht-Thematisierung der Geheimwahl in der politischen und publizistischen Debatte ist bezeichnend. Zugleich erstaunt sie, weil ja der Thüringer Fall keineswegs eine Premiere war – vergleichbare Ereignisse hat es schon öfter gegeben. Für die Landesebene ist aus der jüngeren Vergangenheit vor allem die gescheiterte Wahl von Heide Simonis (SPD) in Schleswig-Holstein zu nennen, die 2005 in vier unmittelbar aufeinanderfolgenden Wahlgängen die notwendige Mehrheit um nur eine Stimme verfehlte. Mindestens eine Abgeordnete oder ein Abgeordneter der eigenen Koalitionsmehrheit musste ihr die Gefolgschaft versagt haben. Wie es einem ergeht, wenn man die eigenen "Truppen" nicht hinter sich weiß, hatte kurz zuvor bereits Simonis’ sächsischer Amtskollege Georg Milbradt (CDU) zu spüren bekommen, dessen Wiederwahl zum Ministerpräsidenten im November 2004 erst im zweiten Anlauf glückte. Dass Abgeordnete die Gelegenheit des ersten Wahlgangs mitunter nutzen, um ihrem Kandidaten einen "Denkzettel" zu verpassen, ist an sich nichts Ungewöhnliches. In Sachsen hatten es die Abtrünnigen allerdings nicht bei einer Enthaltung bewenden lassen, sondern mit ihren Stimmen den Gegenkandidaten der NPD unterstützt.

In Thüringen hatte die geheime Abstimmung wegen der knappen Mehrheitsverhältnisse bereits bei den beiden vorangegangenen Ministerpräsidentenwahlen eine Rolle gespielt. 2014 verpasste Bodo Ramelow die notwendige absolute Mehrheit im ersten Wahlgang, weil ihm aus den eigenen Reihen eine Stimme fehlte, und 2009 war der CDU-Politikerin Christine Lieberknecht die Wahl sogar erst im dritten Wahlgang gelungen. Dass auch (über-)große Mehrheiten negative Konsequenzen für das Stimmenergebnis haben können, musste wiederum Angela Merkel (CDU) erfahren, als sie als Kandidatin einer Großen Koalition bei der Wahl 2005 im Bundestag 51 Stimmen weniger erhielt, als Union und SPD gemeinsam "kontrollierten". Dass vor allem SPD-Abgeordnete nicht für Merkel gestimmt haben dürften, liegt auf der Hand. Dennoch war das Ausmaß der Abweichung erstaunlich, weil sich die Sozialdemokraten auf dem der Regierungswahl vorangegangenen Parteitag (genauso wie die Union) einmütig für die Große Koalition ausgesprochen hatten.

Die genannten Vorgänge stießen in der Öffentlichkeit auf mehr oder weniger große Beachtung. In den Medienberichten wurden dabei zumeist Mutmaßungen angestellt, woher die abweichenden Stimmen gekommen sein und welche Motive die Abweichler zu ihrem Verhalten veranlasst haben mochten. Die eigentliche Ursache des Problems – der Modus der geheimen Stimmabgabe – spielte keine Rolle. Das ist insofern bemerkenswert, als es bereits in den 1970er Jahren eine Debatte über den Sinn und Unsinn der Geheimwahl gegeben hatte. Den Anstoß lieferten zwei Ereignisse, unter denen zumindest das erste – das gescheiterte Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) im April 1972 – den späteren Kieler und aktuellen Thüringer Fall in der Tragweite weit übertraf. Von den zwei Stimmen, die dem CDU-Kandidaten Rainer Barzel zur Wahl zum Bundeskanzler fehlten, waren, wie sich später herausstellte, eine nachweislich, die andere vermutlich vom Staatssicherheitsdienst der DDR gekauft. Beim zweiten Ereignis handelte es sich um die niedersächsische Ministerpräsidentenwahl 1976, bei der drei Überläufer der sozialliberalen Koalition dem eigenen Kandidaten Helmut Kasimier (SPD) ihre Stimme versagten. Mindestens einer von ihnen muss für den CDU-Gegenkandidaten Ernst Albrecht votiert haben, der dadurch überraschend Regierungschef wurde. Der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg nahm die beiden Vorfälle zum Anlass, um in der Wochenzeitung "Die Zeit" ein Plädoyer für die Abschaffung der Geheimwahl zu verfassen. Dem schlossen sich eine im Umfang überschaubare Kontroverse innerhalb des Staatsrechts über das Für und Wider sowie vereinzelte politische Vorstöße (etwa des SPD-Bundestagsabgeordneten Norbert Gansel) an, die allesamt folgenlos blieben.

In den 1990er Jahren nahm Winfried Steffani das Thema von politikwissenschaftlicher Seite und ohne speziellen Anlass erneut auf. Auf sein Betreiben hin wurde der Vorschlag, die Geheimwahl des Ersten Bürgermeisters und der Senatoren in Hamburg durch eine offene Abstimmung zu ersetzen, in den Empfehlungskatalog einer Enquete-Kommission "Parlamentsreform" der Bürgerschaft aufgenommen, die sich aber in ihrer Schlussempfehlung mit großer Mehrheit dagegen aussprach. Danach hat es in den Ländern wie im Bund keine erwähnenswerten Initiativen mehr gegeben, die Geheimwahl abzuschaffen oder sie auch nur zum Gegenstand einer Debatte zu machen, obwohl die eingangs dargestellten Ereignisse dazu genügend Anlass geboten hätten.

Von der förmlichen zur geheimen Abstimmung

Die Wahl des Regierungschefs durch das Parlament in geheimer Abstimmung ist eine deutsche Spezialität. Die meisten parlamentarischen Systeme kennen auf der nationalen Ebene überhaupt keine förmliche Wahl. Der Premierminister oder Ministerpräsident wird hier durch das jeweilige Staatsoberhaupt ernannt. Dieses ist in seiner Entscheidung für oder gegen einen Kandidaten allerdings nicht frei, sondern bleibt an den Willen des Parlaments gebunden, das über die Möglichkeit verfügt, den Regierungschef per Misstrauensvotum jederzeit aus politischen Gründen abzuberufen. Das Abberufungsrecht ist das eigentliche Erkennungsmerkmal der parlamentarischen Regierungsform und unterscheidet diese vom gewaltentrennenden präsidentiellen System. So wie das Parlament ein Misstrauensvotum anstrengen kann, hat die Regierung in den meisten parlamentarischen Systemen auch die Möglichkeit, das Parlament von sich aus um das Vertrauen zu bitten. Manche Verfassungen schreiben überdies vor, dass sich die Regierungen nach ihrer Formierung vom Parlament förmlich bestätigen lassen müssen (Investitur). All diesen Abstimmungen ist gemein, dass sie in der Regel nicht durch geheime Wahl erfolgen, sondern offen.

Eine förmliche Wahl des Regierungschefs durch das Parlament sehen neben der Bundesrepublik nur wenige Staaten vor, etwa Finnland, Schweden oder Südafrika. In Irland und Spanien kommen die Investiturabstimmungen einer förmlichen Bestellung nahe. In Deutschland muss die Einführung der förmlichen Wahl vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem präsidialen Ernennungsrecht in der Weimarer Republik gesehen werden. Das Trauma des 30. Januar 1933 – die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler durch Reichspräsident Paul von Hindenburg – veranlasste den Parlamentarischen Rat bei der Formulierung des Grundgesetzes, einer möglichen Beeinflussung der Regierungsbildung durch das Staatsoberhaupt künftig jeden erdenklichen Riegel vorzuschieben. Auf der gliedstaatlichen Ebene, wo es kein vom Regierungschef abgetrenntes Staatsoberhaupt gibt, ist die förmliche Wahl ohnehin vorgegeben. Anknüpfend an vorparlamentarische Verfassungstraditionen hatten fast alle Länder der Weimarer Republik in ihren parlamentarischen Geschäftsordnungen bestimmt, dass die Wahl des Ministerpräsidenten beziehungsweise der Regierungsmitglieder geheim zu erfolgen habe. Dies wurde ab 1946 sowohl in den neuen Länderverfassungen beziehungsweise Geschäftsordnungen der Landtage als auch auf der Bundesebene für die Wahl des Kanzlers und des Bundespräsidenten übernommen.

Auf der Bundesebene erstreckte sich die Bestimmung zugleich auf das in Artikel 67 des Grundgesetzes (GG) geregelte konstruktive Misstrauensvotum, was insofern folgerichtig war, als dieses ja die Abwahl des alten mit der Wahl eines neuen Regierungschefs verbindet. Genauso halten es die nachgrundgesetzlichen Länderverfassungen beziehungsweise die Länder, die das konstruktive Misstrauensvotum erst später eingeführt haben. Stellen der Bundeskanzler oder Ministerpräsident dagegen selbst die Vertrauensfrage, wie es in Artikel 68 GG geregelt ist, wird darüber im Bundestag und den Landesparlamenten durchweg offen abgestimmt. Dasselbe gilt für die Länderverfassungen, die nur das "destruktive", auf die Auflösung des Parlaments gerichtete Misstrauensvotum kennen und deshalb auf eine eigenständige "Vertrauensfrage" verzichten. Die unterschiedliche Behandlung von "positiver" Vertrauensbekundung und "negativem" Vertrauensentzug entbehrt jeder Logik und lässt sich weder verfassungsrechtlich noch verfassungspolitisch begründen. Warum dieser Widerspruch bis heute in fast allen Grundgesetzkommentaren unbemerkt geblieben ist, gibt Rätsel auf.

In der Bundesrepublik sieht unter den Ländern derzeit allein das Saarland die geheime Abstimmung nicht automatisch vor. Weil der offenen Wahl bereits von einem einzigen Abgeordneten widersprochen werden kann, ist sie aber auch hier de facto der Regelfall – seit 1980 wurde nur zweimal nicht geheim abgestimmt. Von den übrigen Ländern legen acht die geheime Abstimmung sogar in ihren Verfassungen fest, während sieben die Bestimmung in den Geschäftsordnungen der Landtage verankert haben, die mit einfacher Mehrheit verändert werden könnten. Letzteres entspricht der überwiegenden Praxis der europäischen Länder auf nationaler Ebene. Eine Öffnungsklausel enthält einzig die Regelung in Schleswig-Holstein. Hier kann laut Paragraf 63 Absatz 3 der Geschäftsordnung auf "Vorschlag der Präsidentin oder des Präsidenten oder auf Antrag (…) offen abgestimmt werden, es sei denn, dass achtzehn Abgeordnete oder zwei Fraktionen widersprechen."

Schutzvorkehrung für das freie Mandat?

Die Wahl der Regierung "mit verdeckten Stimmzetteln" wird in der Regel damit begründet, dass nur auf diese Weise das in Artikel 38 GG festgeschriebene freie Mandat wirksam geschützt werden könne. Um den Abgeordneten vor den Pressionen zu bewahren, die er bei einem Abweichen von der Fraktionslinie unweigerlich zu gewärtigen hätte, soll er dem Zwang enthoben werden, sich bekennen zu müssen und mit offenem Visier zu kämpfen. Aus demokratischer Sicht ist das nicht nachvollziehbar. Zu Ende gedacht würde es bedeuten, dass auch bei Gesetzesbeschlüssen, die ja fraktionsintern ebenfalls umstritten sein können, stets geheim abgestimmt werden müsste. Forderungen, den Anwendungsbereich geheimer Abstimmungen in diesem Sinne auf Sachentscheidungen auszudehnen, indem man beispielsweise einer qualifizierten Minderheit das Recht einräumt, bei Bedarf eine geheime Abstimmung zu verlangen, hat es zwar gegeben, doch blieben sie ohne große Resonanz. Tatsächlich würde eine solche Ausweitung dem Transparenzgebot politischer Entscheidungen fundamental widersprechen, das dem demokratischen Prinzip inhärent ist und sich im Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit konkretisiert (Artikel 42 GG). So urteilte der Jurist und SPD-Politiker Walter Seuffert: "Ein Geheimnis des Vertreters gegenüber seinem Mandanten über die Mandatsausübung ist prinzipiell unverträglich mit dem Begriff des Mandates." Entsprechend verlangt die Geschäftsordnung des Bundestages die offene Abstimmung über die Gesetze (Paragraf 48), die auf Antrag einer Minderheit sogar namentlich erfolgen muss (Paragraf 52).

Gegen diese Argumentation wird zur Rechtfertigung der geheimen Abstimmung häufig der besondere Charakter von Personenentscheidungen ins Feld geführt, die als "Wahlen" anders zu betrachten seien als Abstimmungen beziehungsweise Entscheidungen über Sachfragen, weil es bei ihnen auch um eine persönliche Vertrauensbeziehung zwischen Wählern und Gewählten gehe. Diese werde belastet, wenn der Gewählte vom Stimmverhalten der Wähler – in diesem Falle also seiner Abgeordnetenkollegen – Kenntnis habe. Dieses Argument trifft auf viele Personenwahlen in anderen Kontexten (auch solche innerhalb des Parlamentes) durchaus zu; es verfängt allerdings nicht bei der hier in Rede stehenden Regierungswahl. Bei dieser handelt es sich nämlich nicht um eine "bloße" Personalentscheidung über den Regierungschef, sondern um eine Entscheidung über die Bildung und den Bestand einer Regierung – mithin also um eine grundsätzliche politische Richtungsentscheidung, die die Grundlage aller nachfolgenden Sachentscheidungen schafft. Warum sollte ausgerechnet hier das Transparenzgebot nicht greifen?

Wenn Befürworter der Geheimwahl diese mit dem Schutz des freien Mandates begründen, übersehen sie, dass die Demokratie hierzulande nicht nur auf der freien Zustimmung der Abgeordneten beruht, sondern auch darauf, dass diese Abgeordneten als Vertreter einer Partei gewählt werden. Die Regierungswahl ist in einem parlamentarischen System von der ihr in der Regel unmittelbar vorausgehenden Parlamentswahl nicht zu trennen. Die Abgeordneten "vollziehen" lediglich eine Entscheidung, für die sie vom Wähler zuvor autorisiert wurden. Hier liegt auch der Grund, warum von den Parteien im Vorfeld der Wahl klare Koalitionsaussagen erwartet werden. Verweigern sie eine solche Aussage, setzen sie sich über eine getroffene Festlegung nach der Wahl hinweg oder wechseln sie während der laufenden Legislaturperiode ohne vorangegangene Neuwahl die Seiten, wird das zu Recht als undemokratisch erachtet. Ebenso wird es von der Öffentlichkeit nur selten goutiert, wenn Abgeordnete nach einer Wahl zu einer anderen Partei oder Fraktion "überlaufen", wie zuletzt der Fall Twesten in Niedersachsen gezeigt hat.

Fühlen sich die Abgeordneten dem Wählervotum verpflichtet, können sie sich von den Positionen dieser Partei also – trotz ihres freien Mandates – nicht nach Belieben entfernen. Nach Belieben heißt, dass sie es dürfen (und vielleicht sogar tun sollten), sofern dafür gute Gründe vorliegen. Ob das der Fall ist, kann man aber nur erkennen, wenn diese Gründe offengelegt werden. Lässt Artikel 38 GG ein Abweichen vom Wählermandat zu, müssen die Wähler wenigstens die Möglichkeit haben, ein solches Verhalten zu bewerten und gegebenenfalls zu sanktionieren. Dasselbe gilt für die Fraktionskollegen, die wissen sollten, wer und wer nicht hinter einer gemeinsam getroffenen Entscheidung steht. Die geheime Wahl unterminiert insofern nicht nur die Vertrauensbeziehung zwischen Wählern und Abgeordneten, sondern auch die der Abgeordneten untereinander.

Dass sich Wähler und Politiker des undemokratischen Charakters der Geheimwahl zumindest intuitiv bewusst zu sein scheinen, zeigt ein Ereignis, das 2008 von Hessen aus ähnlich starke Schockwellen aussandte wie der jüngste Fall in Thüringen: die schon im Vorfeld gescheiterte (und deshalb unter den eingangs genannten Fällen nicht aufgeführte) Wahl der SPD-Politikerin Andrea Ypsilanti zur Ministerpräsidentin. Diese Wahl fiel sprichwörtlich ins Wasser, weil vier Abgeordnete ihrer eigenen Fraktion nicht bereit waren, die Kandidatin mitzutragen. Als Grund gaben sie an, dass Ypsilanti eine Zusammenarbeit mit der Linkspartei, deren Stimmen sie für die Wahl benötigte, im Landtagswahlkampf ausdrücklich ausgeschlossen hatte. Die vier Abweichler hatten also öffentlich nachvollziehbare inhaltliche Motive für ihre Entscheidung, auch wenn sie diese vielleicht etwas zu spät entdeckten und vorbrachten. Eben deshalb wollten sie sich nicht so verhalten wie der "Heckenschütze" aus Schleswig-Holstein, der Heide Simonis zu Fall brachte, oder die beiden sächsischen Abgeordneten aus dem demokratischen Lager, die statt für Georg Milbradt lieber für einen Kandidaten der NPD als Ministerpräsidenten votierten. Deren Verhalten lagen offenbar weniger ehrenhafte Motive zugrunde – Rachsucht etwa oder gekränkter Ehrgeiz –, die sie nur unter dem schützenden Deckmantel der Geheimwahl verbergen konnten.

Warum fällt es so schwer, die Geheimwahl abzuschaffen?

In der Literatur findet man gelegentlich die Feststellung, dass das freie Mandat in Widerspruch zu den Funktionsprinzipien des parteiendemokratischen Parlamentarismus stehe. Diese Feststellung ist falsch, weil die Möglichkeit des Misstrauensvotums, auf der das parlamentarische System im Kern beruht, an die Garantie des freien Mandates gebunden ist. Ein einigermaßen stabiles Regieren setzt freilich voraus, dass von dieser Möglichkeit nicht allzu häufig Gebrauch gemacht wird. Das parlamentarische System kommt daher ohne ein Mindestmaß an Partei-, Koalitions- und Fraktionsdisziplin nicht aus, wenn es seine Funktionsfähigkeit aufrechterhalten will.

Für die Fraktions- und Parteiführungen wäre der Übergang zu offenen Abstimmungen bei der Regierungswahl gewiss von Vorteil, weil sich potenzielle Abweichler so leichter "auf Linie" bringen ließen. Vor diesem Hintergrund muss es eigentlich verblüffen, dass die Geheimwahl nicht längst abgeschafft wurde. Im internationalen Vergleich gehört die Bundesrepublik zu den parlamentarischen Systemen mit der am stärksten ausgeprägten Fraktionsbindung. Dies schlägt sich auch im Umgang mit der geheimen Abstimmung nieder. Dass die Fraktionen Abstimmungen proben, um Unwägbarkeiten entgegenzutreten, kann man ihnen schlecht vorwerfen. Was aber ist, wenn Abgeordnete das Wahlgeheimnis durch Herumzeigen oder Abfotografieren des "richtig" ausgefüllten Stimmzettels bewusst unterlaufen oder Fraktionsführungen sie verpflichten, die Wahl zu boykottieren, also an der Abstimmung nicht teilzunehmen? Das freie Mandat, das die Geheimwahl angeblich schützen soll, wird auf diese Weise pervertiert.

Die geheime Wahl der Regierung ist ein Musterbeispiel für die pfadabhängige Entwicklung politischer Institutionen. Eschenburg führte sie auf vorparlamentarische Traditionen zurück, die in den Parlamentarismus ohne nähere Begründung einfach überführt worden seien. So wurden die Mitglieder der Ratskörperschaften in den freien Städten seit dem Spätmittelalter ebenso geheim gewählt wie der Papst. Wie gezeigt, erfolgte die entscheidende Weichenstellung für die heutige Geheimwahl in der Weimarer Republik. Daneben könnte auch der Zufall eine Rolle gespielt haben. Als die Kanzlerwahl in der Bundesrepublik im September 1949 erstmals anstand, knüpfte man einfach an die kurz vorher stattgefundene Wahl des Bundespräsidenten an, die ebenfalls als geheime Abstimmung vollzogen wurde.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Grund für das Festhalten an der Geheimwahl liegt in einer generellen Höherbewertung des konstitutionellen gegenüber dem demokratischen Prinzip im deutschen Verfassungsdenken, das in der rechtswissenschaftlichen Literatur bis heute nachhallt und zugleich die Verfassungsrechtsprechung prägt. Dies spiegelt sich auch in anderen Restriktionen wider – etwa in der nach wie vor nicht hergestellten Regelöffentlichkeit der Parlamentsausschüsse. Während Politologen wie Eschenburg und Steffani in der geheimen Regierungswahl ein vordemokratisches Relikt sehen, betrachten die meisten Staatsrechtler sie als notwendiges Bollwerk gegen einen angeblich überbordenden Parteienstaat. Inwieweit die historisch verspätete Einführung des parlamentarischen Regierungssystems in Deutschland zu dieser Interpretation beigetragen hat, wäre eine gründliche Untersuchung wert.

Vor diesem Hintergrund dürften die Chancen für eine Abkehr von der überkommenen Geheimwahl – zumindest in absehbarer Zukunft – eher gering sein, auch wenn die Hürden für eine Änderung dort, wo die "verdeckten Stimmzettel" lediglich in der Geschäftsordnung festgeschrieben stehen (in der Hälfte der Länder und im Bund), nicht sehr hoch lägen. Wahrscheinlich braucht es erst weitere Fälle vom Kaliber Ypsilanti oder Kemmerich, um ein Umdenken zu bewirken. Von einem einzelnen Vorreiter könnte dann bereits eine Signalfunktion ausgehen. Dass es unter den Bedingungen knapperer Mehrheiten und komplizierterer Koalitionsbildungen in einer sich pluralisierenden Parteienlandschaft weitere Anlässe geben wird, die geheime Wahl infrage zu stellen, erscheint dagegen schon heute relativ gewiss.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Im Hintergrund stand dabei die Auseinandersetzung mit dem Thüringer Landesverband über die Handhabung des von der Bundes-CDU hochgehaltenen "Äquidistanzgebots", das eine Zusammenarbeit sowohl mit der AfD als auch mit der Linken ausschloss. Um eine Regierungsbildung dennoch zu ermöglichen, entschied sich die Landes-CDU nach langem Ringen, die erneute Wahl von Ramelow zum Ministerpräsidenten am 4. März 2020 durch eine Stimmenthaltung im dritten Wahlgang mitzutragen und die rot-rot-grüne Regierung bis zu den für April 2021 geplanten Neuwahlen zu tolerieren.

  2. Vgl. Frank Decker, Ein ganz alter Zopf, in: Süddeutsche Zeitung, 10.2.2020, S. 10.

  3. Auch in Thüringen müssen am 5. Februar 2020 im ersten Wahlgang mindestens drei Abgeordnete der anderen Parteien für den von der AfD aufgestellten parteilosen Kandidaten Christoph Kindervater gestimmt haben.

  4. Bei der Großen Koalition 2013 fehlten Merkel 42, bei der Großen Koalition 2018 33 Stimmen.

  5. Vgl. Petra Weber, Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945–1989/90, Berlin 2020, S. 481.

  6. Vgl. Theodor Eschenburg, Nur noch ein alter Zopf, in: Die Zeit, 13.2.1976, S. 5.

  7. Vgl. Hans H. Klein, Mehr geheime Abstimmungen in den Parlamenten! Ein Vorschlag zur Sicherung des freien Mandats, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 4/1976, S. 81–84, Rudolf Buschmann/Heribert Ostendorf, Die geheime Abstimmung im Parlament – Postulat oder Relikt?, in: Zeitschrift für Rechtspolitik 7/1977, S. 153–156.

  8. Vgl. Norbert Gansel, Schluss mit der Geheimniskrämerei, in: Der Stern, 22.1.1976, S. 20.

  9. Vgl. Winfried Steffani, Demokratische Offenheit bei der Wahl des Regierungschefs?, in: Jahrbuch für Politik 1/1991, S. 25–40.

  10. Vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Bericht der Enquete-Kommission "Parlamentsreform", Baden-Baden 1993, S. 103f.

  11. Vgl. Winfried Steffani, Parlamentarisches und präsidentielles Regierungssystem, in: Dieter Nohlen/Manfred G. Schmidt (Hrsg.), Lexikon der Politik, Bd. 3: Die westlichen Länder, München 1992, S. 288–295.

  12. In den meisten Geschäftsordnungen war von "Stimmzetteln" oder "verdeckten Stimmzetteln" die Rede, in anderen von einer "geheimen" Wahl oder Abstimmung. Bremen, Anhalt und Braunschweig sahen abgeschwächte Regelungen vor. Hier konnte die Wahl auch durch Akklamation erfolgen, falls nur ein Kandidat auftrat, beziehungsweise musste die geheime Abstimmung von mindestens fünf (Anhalt) beziehungsweise acht Abgeordneten (Braunschweig) beantragt werden.

  13. Vgl. zum Beispiel Artikel 99 der Verfassung von Rheinland-Pfalz. Laut Artikel 50 Absatz 3 der Geschäftsordnung des Landtages muss über das Misstrauensvotum namentlich abgestimmt werden.

  14. Vgl. Hans Meyer, Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: Hans-Peter Schneider/Wolfgang Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis in der Bundesrepublik, Berlin–New York 1989, S. 122.

  15. Vgl. Klein (Anm. 7), S. 84.

  16. Walter Seuffert, Wahlgeheimnis für Dunkelmänner?, in: Die Zeit, 24.9.1976, S. 10.

  17. Vgl. Carmen Thiele, Regeln und Verfahren der Entscheidungsfindung innerhalb von Staaten und Staatenverbindungen. Staats- und kommunalrechtliche sowie europa- und völkerrechtliche Untersuchungen, Berlin 2008, S. 490.

  18. Beispiele sind parteiinterne Wahlen oder Personalentscheidungen, die nach Proporzgesichtspunkten getroffen werden müssen, etwa die Wahl eines Parlamentspräsidiums.

  19. Die Grünen-Abgeordnete Elke Twesten trat im August 2017 zur CDU-Fraktion über, nachdem sie von ihrer Partei nicht wieder als Direktkandidatin für die anstehende Landtagswahl aufgestellt worden war. Dadurch verlor die rot-grüne Regierung ihre Mehrheit im Landtag.

  20. Vgl. Volker Zastrow, Die Vier. Eine Intrige, Reinbek 2009.

  21. In Hessen wurde 2008 ein solcher Boykott der Wahl Andrea Ypsilantis seitens der CDU-Fraktion erwogen. Als Vorbild diente ihr dabei die Abwehr des Misstrauensvotums gegen Willy Brandt 1972 durch SPD und FDP. Deren Fraktionsspitzen hatten damals den Großteil der eigenen Abgeordneten zum Fernbleiben verpflichtet. Nur eine Gruppe von "sicheren" Abgeordneten nahm an der Abstimmung teil, um mögliche Abweichler auf der Gegenseite zu ermuntern. Vgl. Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, München 1984, S. 411.

  22. Vgl. Eschenburg (Anm. 6).

  23. Bei der Präsidentenwahl lässt sich die geheime Stimmabgabe rechtfertigen, da die Vertreter der Bundesversammlung an keinen vorgängigen Wählerwillen gebunden sind. Als "überparteiliche" Persönlichkeitswahl verlangt sie weder, dass eine Konkurrenz zwischen verschiedenen Kandidaten zwingend stattfindet, noch dass die Abgeordneten bei der Abstimmung geschlossen auftreten. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Die Bundesversammlung sei frei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.6.2010, S. 33.

  24. Vgl. Rupert Hofmann, Offene Wahl des Regierungschefs? Zur Debatte zwischen Winfried Steffani und R. Peter Dach, in: Jahrbuch für Politik 2/1993, S. 201–210.

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ist Professor für Politische Wissenschaft an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik. E-Mail Link: frank.decker@uni-bonn.de