Verliert die Islamische Republik die Jugend?
Angesichts sozialer Restriktionen und politischer Repression verabschieden sich in Iran zahlreiche junge Menschen in die innere oder äußere Emigration oder rebellieren durch nonkonformes Alltagsverhalten. Gleichwohl vermag das Regime viele von ihnen ideologisch und materiell an sich zu binden.Einleitung
In Firdausis berühmtem Epos "Buch der Könige" aus dem 11. Jahrhundert tötet der Held Rostam in einer Schlacht den jungen Sohrab, ohne zu erkennen, dass dieser sein eigener Sohn ist. An diese Erzählung, die immer wieder auch als politische Metapher gelesen wird,[1] knüpft ein Lied mit dem Titel "Neda und Sohrab" an, das nach der brutalen Niederschlagung der jüngsten Protestbewegung im Sommer 2009 entstanden ist. Die getötete Demonstrantin Neda wird mit dem ins Herz getroffenen Sohrab gleichgesetzt und betrauert.[2] Nicht zuletzt die jüngsten Ereignisse in Iran, die eine tiefgreifende Legitimationskrise des Regimes markieren, werfen die Frage auf, ob die Väter der Islamischen Republik drei Jahrzehnte nach der Revolution dabei sind, ihre Töchter und Söhne zu verlieren.Iran hat heute eine der jüngsten Bevölkerungen weltweit. 35 Prozent sind junge Menschen im Alter zwischen 15 und 29 Jahren. Sie stellen etwa 40 Prozent der Stimmberechtigten bei Wahlen und sind die am besten ausgebildete Generation in der Geschichte des Landes.[3] Gleichzeitig unterscheiden sich die Lebenswirklichkeiten der jungen Menschen enorm. Neben der fortdauernden Kluft zwischen den Geschlechtern im Hinblick auf rechtliche Gleichstellung sowie den Zugang zu Ressourcen und Entfaltungsmöglichkeiten sind sie abhängig von sozialer Schichtzugehörigkeit, Bildungsniveau und urbanem oder ländlichem Umfeld. Damit verwoben sind heterogene Familienstrukturen, Lebensstile und kulturelle Normen und Wertvorstellungen, die nicht zuletzt das Geschlechter- und Generationenverhältnis in den Familien prägen. Sie sind mit vereinfachenden binären Kategorisierungen und Zuschreibungen wie traditionell/religiös/ungebildet versus modern/säkular/gebildet nicht angemessen zu erfassen.[4]
Zahlreiche in den vergangenen Jahren erschienene journalistische und wissenschaftliche Texte thematisieren bittere soziale Frustrationen junger Menschen im Iran und porträtieren dessen junge Generation zugleich als Avantgarde und Agentin eines ersehnten gesellschaftlichen und politischen Wandels. Die großenteils kulturanthropologisch ausgerichteten Studien präsentieren dabei ein faszinierendes ethnographisches Material, das Einblicke in vielfältige subkulturelle Lebenswelten von jungen Frauen und Männern bietet: die geschilderten Aktivitäten reichen von freizügigen Techno-Parties über konspirative Lektüreseminare bis zu Ashura-Feiern, bei denen die traditionellen Trauer-Rituale zu Parties mit Festival-Atmosphäre umfunktioniert werden. Im Fokus der Untersuchungen stehen großenteils Jugendliche aus den wohlhabenderen Segmenten der modernen städtischen Mittel- bis Oberschichten insbesondere Teherans.[5]
Unklar oder umstritten bleibt zum einen die Frage, ob sich die in den angeführten Studien repräsentierten Einstellungen und Verhaltensmuster auf eine materiell privilegierte und global vernetzte Minderheit beschränken oder inwieweit sie auch Jugendliche aus den ärmeren Schichten und ländlichen Regionen erfasst haben. Kontrovers beurteilt wird zudem die Frage, wie weit Verhaltensweisen, die sich an den Werten und Attributen globaler Konsumkultur orientieren, als widerständig und emanzipatorisch gefeiert werden können.[6]
Im Folgenden werden verschiedene Facetten der sozialen und politischen Situation junger Menschen in Iran in ihren unterschiedlichen sozialen Kontexten skizziert und Potenziale für Unzufriedenheit und Protest benannt. Des Weiteren werden komplexe und widersprüchliche Strategien beleuchtet, mit denen die Kinder der Islamischen Republik versuchen, unter schwierigen und repressiven Bedingungen privat und öffentlich Freiräume zu erkämpfen und soziale und politische Handlungsspielräume auszuweiten. Theoretisch orientieren sich die vorgestellten Überlegungen am Konzept der "Sozialen Exklusion".[7] Darunter wird ein multidimensionaler, kontextspezifischer Prozess verstanden, der Individuen und Gruppen von den sozialen Beziehungen der Gesellschaft, in der sie leben, ausschließt und sie daran hindert, voll an den gesellschaftlichen Aktivitäten zu partizipieren, die in der jeweiligen Gesellschaft normativ verpflichtend sind. Sozial ausgeschlossene Individuen und Gruppen können ihre gesellschaftlich möglichen Verwirklichungschancen nicht wahrnehmen. Soziale Exklusion in größerem Umfang schwächt den Zusammenhalt der Gesellschaft als ganzer. Unter den Bedingungen der Globalisierung stellen die einzelnen nationalen Gesellschaften allerdings weniger denn je "abschließbare Container-Einheiten"[8] dar. In einem vernetzten und verlinkten Wahrnehmungsraum wird soziale Exklusion von einer jungen gebildeten "Generation Global" zunehmend in einem weltgesellschaftlichen Bezugsrahmen erfahren: so mögen etwa die wahrgenommenen Ungleichheiten in Lebenschancen und Verwirklichungsmöglichkeiten zwischen Teheran und Tehrangeles[9] eine besondere Brisanz erzeugen,[10] die den Blick auf die eigene Gesellschaft nicht unberührt lässt.