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Die politische Funktion des Bundesverfassungsgerichts | Herrschaft des Rechts | bpb.de

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Die politische Funktion des Bundesverfassungsgerichts

Oliver Lepsius

/ 15 Minuten zu lesen

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist Gericht und Verfassungsorgan zugleich. Diese Doppelstruktur ist seit Anbeginn die Ursache für Interpretationsprobleme und Kompetenzkonflikte. Auf der einen Seite ist das höchste deutsche Gericht als Verfassungsorgan in die Sphäre der politischen Institutionen einbezogen, auf der anderen Seite bleibt Karlsruhe ein nur dem Verfassungsrecht unterworfenes Gericht. Auf der Bühne der Politik spricht es die Sprache der Justiz und auf der Bühne der Justiz auch die Sprache der Politik. Aus der Gerichtsstruktur folgen Organisations- und Verfahrenseigenschaften, die das BVerfG von anderen Verfassungsorganen unterscheiden: Es ist nicht als Repräsentationsorgan ausgestaltet. Es unterliegt weder der Kontrolle durch den Wähler noch ist es ihm verantwortlich. Das BVerfG kann nur auf Antrag tätig werden, nicht, wie Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Bundespräsident, aus eigenem Antrieb heraus. Seine Entscheidungen unterliegen den Verfahrensanforderungen des Verfassungsprozessrechts, das im Grundgesetz (im Wesentlichen in den Artikeln 93, 94 und 100 GG) sowie im Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) normiert ist. Seine Entscheidungen ergehen in Rechtskraft, das heißt, sie können nicht geändert werden – anders als etwa ein Gesetzesbeschluss des Deutschen Bundestages: Der Bundestag kann jedes Bundesgesetz jederzeit neu verhandeln und unter Mitwirkung des Bundesrates jederzeit ändern.

Als rechtsprechendes Verfassungsorgan operiert das BVerfG unter den Funktionslogiken eines Gerichts. Das begrenzt seine Entscheidungstätigkeit auf Streitigkeiten, die am Maßstab des Verfassungsrechts ergehen und vor der Verfassung (nicht, wie politische Entscheidungen, vor dem Wähler) gerechtfertigt werden müssen. Daraus könnte man nun ableiten, dass das Bundesverfassungsgericht, weil es weder demokratischen Anforderungen (Mehrheit, Wahl) zu entsprechen noch politische Maßstäbe anzulegen habe, notgedrungen rein juristisch entscheide: am Maßstab der Verfassung und in den Formen eines besonderen Verfahrens, das gesetzlich normiert ist.

Das BVerfG entscheidet aber freilich nicht nur als Gericht, sondern auch als Verfassungsorgan. Seine Entscheidungen betreffen immer auch das Verhältnis zu anderen Verfassungsorganen. Verfassungsorgane stehen zueinander in einem verfassungsrechtlich geregelten Verhältnis, dessen Regeln Platz lassen für ihre politisch-dynamische, situative und kontextbezogene Konkretisierung. Denn die Handlungen der Organe und ihre Handlungsmöglichkeiten hängen von demokratischen Eckpunkten ab: den Entscheidungen des Wählers und der aus ihnen folgenden Koalitionsbildung, dem Regierungsstil der handelnden Individuen, den auf der Tagesordnung stehenden Sachproblemen und der Frage, welche Gewalt zunächst den thematischen Zugriff sucht und findet, oder auch den Entscheidungen durch die Organe der EU, die auf die Zuständigkeit der deutschen Verfassungsorgane zurückwirken, insoweit diese in die Notwendigkeit des Nachvollziehens europäischer Entscheidungen gedrängt werden.

Das BVerfG hat auf die Demokratie- und Politikabhängigkeit der Kompetenzordnung immer reagiert. So hat es etwa 1983 und 2005 die fingierten Vertrauensfragen zur Auflösung des Bundestages mit dem Argument akzeptiert, dass die beteiligten Verfassungsorgane (der Bundeskanzler, der Bundestag, der Bundespräsident) parteiübergreifend und gemeinsam die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen wünschten, auch wenn der Verfassungstext (Art. 68 GG) die Parlamentsauflösung gerade nicht der politischen Zweckmäßigkeit öffnet. Die Verfassungsregel wird vom BVerfG also im Lichte der situativen Praxis ausgelegt und diese Praxis häufig akzeptiert.

Gibt es umgekehrt Anzeichen dafür, dass Organe versuchen, ihre Interessen gegen andere Organe grundsätzlich durchzusetzen, erhöht das BVerfG seine Kontrolldichte und wirkt auf den politischen Prozess mit einer strengeren Auslegung der Verfassung ein. Man denke etwa an die immer pingeligere Kontrolle des Bundeswahlrechts, weil dessen Reformversuche nicht als interfraktionelle Entwürfe ausgestaltet waren und insofern auch nicht das Gütesiegel der paktierten Vernunft trugen. Wie elastisch oder rigide Verfassungsnormen ausgelegt werden, hat also auch mit dem Anwendungskontext zu tun, der wiederum vor dem Hintergrund einer gelebten Demokratie zu verstehen ist. Das Grundgesetz will Demokratie ermöglichen, nicht das politische Leben in ein Regelkorsett einschnüren. Also will die Verfassung demokratiefunktional ausgelegt und angewendet werden. Das kann dazu führen, dass dieselbe Verfassungsnorm mal strenger und mal weniger streng ausgelegt wird – weil sich die Sachverhalte unterscheiden und die Folgen für das politische System zu bedenken sind.

Die Auslegung der Verfassung im Lichte der Demokratiefunktionalität und Kontextabhängigkeit betrifft die Regeln für alle Verfassungsorgane, also auch die Kompetenzregeln des BVerfG selbst. Weil das Gericht Verfassungsorgan ist, kann es sich selbst nicht von einer Regelbetrachtung ausnehmen, die politische Zusammenhänge berücksichtigt. Wenn das Grundgesetz die abstrakte Normenkontrolle vorsieht, dann erlaubt es die Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit den Mitteln des Verfassungsprozessrechts. Wenn die Verfassung eine Verfassungsbeschwerde einführt, dann ermöglicht sie dem Bürger, über die Wahrung seiner subjektiven Rechte hinaus zum Prozessstandschafter der Verfassung zu werden. Die Verfassung erlaubt, dass der Karlsruher Gerichtssaal zu einer Arena wird, in der politisch entschiedene Sachverhalte unter anderen Rechtfertigungshürden neu verhandelt werden – sei es auf Antrag der Opposition (in Gestalt von abstrakten Normenkontrollen, Organstreiten oder Bund-Länder-Streiten), sei es auf Antrag von Minderheiten (Verfassungsbeschwerde), sei es auf Antrag der Fachgerichtsbarkeit (konkrete Normenkontrolle).

Entscheidungen mit politischen Auswirkungen

Ein paar Beispiele: 1969 zwang das BVerfG den Deutschen Bundestag, ein Gesetz zur Gleichstellung nichtehelich Geborener zu verabschieden. Das Grundgesetz enthält einen entsprechenden Verfassungsauftrag, den der Bundestag jedoch 20 Jahre lang nicht umsetzte (was wiederum an den politischen Mehrheiten lag). Nun drohte das BVerfG, wenn das Gesetz nicht innerhalb eines halben Jahres erginge, gelte die Verfassungsnorm unmittelbar wie einfaches Gesetzesrecht (und würde die entsprechenden Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) verdrängen). Der Gesetzgeber tat in Windeseile wie ihm geheißen und änderte das BGB. 1975 erklärte das BVerfG die Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch für verfassungswidrig und verlangte vom Bundestag, die Strafbarkeit der Abtreibung aufrechtzuerhalten und ein Indikationsmodell einzuführen. Dem Bundestag verblieb bei der Reform des §218 StGB nur noch wenig Spielraum; der Wählerwille musste ignoriert werden. 1978 erklärte das Gericht, die Sicherheitsstandards für die Nutzung der Kernenergie dürften allein von der Regierung im Verordnungswege bestimmt werden. Ein damals zentrales Politikfeld wurde aus der Zuständigkeit des Parlaments ausgeklammert und einer Expertokratie übertragen. 1985 erklärte Karlsruhe eine restriktive Genehmigungs- und konsequente Auflösungspraxis von Großdemonstrationen für verfassungswidrig. Eine Gefahrenprognose reiche für eine Auflösung nicht ohne Weiteres aus. Die Polizei dürfe nicht nur die öffentliche Sicherheit schützen, sondern müsse gleichermaßen auch alles tun, damit friedliche Demonstranten ihr Grundrecht ausüben können, auch wenn sich gewaltbereite Kräfte unter sie mischen. Erst diese Entscheidung ermöglicht bis heute die Durchführung von Großdemonstrationen, die typischerweise auch Randalierer anziehen.

All diese Entscheidungen sind hochgradig politisch: Sie greifen in Mehrheiten ein, sie verändern die politische Verantwortungsteilung zwischen den Gewalten, sie erschweren oder erleichtern den Einfluss des Wählers und des Bürgers. Um noch zwei Entscheidungen aus diesem Jahr anzufügen: Der Klimaschutzbeschluss vom 24. März 2021, mit dem das BVerfG den Gesetzgeber zwang, CO2-Reduzierungen vorzuziehen, ist von vielen als ein politischer Übergriff des BVerfG empfunden worden. Ein anderes Bild vermittelt ein Beschluss vom 5. Mai 2021, mit dem das BVerfG es abgelehnt hat, das nächtliche Ausgangsverbot der "Bundesnotbremse" außer Kraft zu setzen. Hier weicht das Gericht vor dem politischen Prozess zurück und will offenkundig eine Beschädigung der Kanzlerin, die sich gerade für diese Regel im Deutschen Bundestag stark eingesetzt hatte, vermeiden.

Solche Entscheidungen dürfen nicht nur deshalb politisch genannt werden, weil sie Fragen der Tagespolitik betreffen. Sie sind auch im Rahmen der juristischen Begründung der Entscheidung in einem nicht parteipolitischen Sinne politisch, weil sie nicht ohne Berücksichtigung der Demokratiefunktionalität getroffen werden. 1969 hätte das BVerfG den Gesetzgeber nicht zwingen müssen – es hatte dies ja 20 Jahre lang nicht getan. 1975 hätte das BVerfG nicht das strenge Schutzniveau bei Schwangerschaftsabbrüchen verlangen müssen. Im zweiten Abtreibungsurteil (1993) gibt das BVerfG diese Position bekanntlich auf. 1985 wiederum hätte das Gericht das Demonstrationsrecht nicht so stark machen müssen – es war ja 35 Jahre lang offenbar auch anders gegangen.

Der verfassungsrechtliche Maßstab, der den Entscheidungen zugrunde liegt, ist also nicht so starr und unabänderlich, dass er keine anderen Entscheidungen zuließe. Solche Beispiele zeigen, dass nicht nur die Gegenstände, die vom BVerfG entschieden werden, im politischen System wurzeln und schon deswegen politisch sind, sondern dass auch die gerichtlichen Maßstäbe von den Umständen abhängen und sich mit der Zeit, mit neuen Mehrheiten, mit dem, was man politisch-gesellschaftlichen Wandel nennt, ändern. Verfassungsauslegung ist gerade kein autonom juristischer Prozess, sondern immer eine Konkretisierung eines Textes unter den sich wandelnden Bedingungen der Zeit.

Besonderheiten der Verfassungsauslegung

Verfassungsauslegung ist auch deshalb eine besondere Form der Normerkenntnis, weil ihr Gelingen das Zusammenwirken Vieler voraussetzt. Sie ist kein Vorrecht des BVerfG. Die anderen Verfassungsorgane legen das Grundgesetz aus, indem sie auf seiner Grundlage handeln, die Bürger, indem sie ihre Freiheitsrechte ausleben und notfalls einklagen. Die Verfassung wirkt als allgemein akzeptierter gesellschaftlicher Wertekonsens ganz unabhängig von Verfahren vor dem BVerfG. Die Grundrechte und der Menschenwürdesatz aus Artikel 1 GG sind im zivilgesellschaftlichen Diskurs omnipräsent. In diesem Sinne sind wir alle Verfassungsinterpreten, und von dieser Interpretationsöffnung kann sich das BVerfG nicht frei machen.

Eine breite Verfassungsinterpretation in republikanischer Verantwortung der Bürger ist im Übrigen auch eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Verfassung ihren Geltungsanspruch aufrechterhalten kann. Warum sollten wir uns an einen Text gebunden fühlen, der 1949 entstand und dem notgedrungen andere sozialmoralische Vorstellungen zugrunde lagen? Gewiss, man könnte die Verfassung ändern. Das setzte aber erhebliche Mehrheiten voraus und wäre gerade im Grundrechtsteil heikel. Interpretation ist folglich die Alternative, mit der die Legitimität der Verfassung bewahrt und ihre Politisierung durch Verfahren der Verfassungsänderung vermieden werden kann.

Das Bundesverfassungsgericht hat folglich eine anspruchsvolle Aufgabe zu bewältigen. Es regelt das Verhältnis von Recht und Politik. Wann darf eine Mehrheitsentscheidung vorangehen und Recht prägen? Wann darf sie das nicht, weil sie das Recht verletzt? Wann begrenzt Recht Mehrheiten, wann ermächtigt es sie? Das BVerfG wird so zum Hüter des politischen Prozesses. Es ist zur strukturell übergreifenden verfassungsrechtlichen Beurteilung des politischen Systems im Ganzen aufgerufen. Das Gericht muss wissen, wann es eingreift und wann es gewähren lässt. Dabei muss es diese Entscheidungen immer als Verfassungsinterpretation herstellen und darstellen, zu den politischen Entscheidungskriterien also Distanz einnehmen und auf den normativen Maßstab der Verfassung verweisen. Dieser Maßstab aber muss entwicklungsfähig bleiben. Denn würde man annehmen, dass nach 70 Jahren Verfassungsrechtsprechung irgendwann alles entschieden sein müsste, dann würde der Entscheidungsmaßstab erstarren und das BVerfG seine Wächterrolle nicht mehr wahrnehmen können. Wie bleiben Demokratiefunktionalität, Kontextabhängigkeit oder Folgenabschätzung möglich, wenn ihnen erstarrte Maßstäbe aus vergangenen Jahrzehnten zugrunde gelegt werden müssten? Auch deshalb ist eine parallele zivilgesellschaftliche Verfassungsinterpretation wichtig, denn sie verhindert, dass unser Verfassungsverständnis in Gestalt alter Verfassungsrechtsprechung versteinert.

Interpretationswandel ist freilich eine Herausforderung für ein Gericht, weil er die Frage aufwirft, ob das Gericht zuvor falsch entschieden hat, was wiederum seinen Nimbus erschüttern würde. Auch hier ist die Aufgabe anspruchsvoll: Die Rechtssicherheit darf durch zu viel Interpretationswandel nicht leiden. Findet aber keine Neuinterpretation der Verfassung statt, leidet irgendwann die Legitimität der Verfassung (abgesehen davon, dass das politische Leben stranguliert würde).

Dass das BVerfG unter der Bevölkerung wie im Ausland seit Jahrzehnten hohes Ansehen genießt, zeigt, wie gut es Karlsruhe in den letzten 70 Jahren gelungen ist, diese anspruchsvolle Rolle auszufüllen. Man kann den Beitrag des BVerfG, die Deutschen zu Demokraten zu erziehen, der Gesellschaft der 50er Jahre den NS-Geist auszutreiben, neue soziale Bewegungen zu respektieren, Minderheiten in das politische Leben zu integrieren und ganz allgemein eine verfassungsrechtliche Werteordnung als Grundkonsens zu etablieren und dadurch die Sozialmoral, das Sittengesetz oder das Naturrecht in der Funktion als gesellschaftlichen Grundkonsens zu ersetzen, nicht hoch genug schätzen. Karlsruhes Erfolge, sein Ansehen, hängen letztlich von der Fähigkeit ab, die Doppelrolle als Gericht und als Verfassungsorgan zu bewältigen. Es wäre deshalb nicht im Sinne einer funktionierenden Verfassungsgerichtsbarkeit, wenn sich das BVerfG auf die Funktionslogik eines Gerichts zurückzöge und eine starre Trennung von politischem Leben und Verfassungsrecht propagierte ("Wir entscheiden nur juristisch").

Richterlicher Aktivismus: Wann, wie, wofür?

Was aber folgt nun daraus, dass dem BVerfG von der Verfassung eine politische Funktion zugewiesen wird? Wann darf, wann sollte sich das BVerfG aktivistisch verhalten, wann hingegen sollte es besser richterliche Zurückhaltung, den judicial self-restraint, üben? Hier lassen sich keine eindeutigen Grenzen ziehen, wohl aber Direktiven geben. Das Grundgesetz will eine repräsentative und zugleich partizipative, eine rechtsstaatlich gebundene und zugleich demokratisch gestaltbare, eine freiheitliche und eine pluralistische politische Ordnung schaffen. Wie sich dies auf die Konkretisierung der verfassungsrechtlichen Normen auswirkt, bedarf folglich einer Einschätzung des politischen Systems aus der Perspektive der verfassungsrechtlich fundierten Distanz.

Die entscheidende Frage ist also nicht, ob sich das Verfassungsgericht als "Normverwerfer" und "Ersatzgesetzgeber" betätigen darf, sondern wie es mit der "countermajoritarian difficulty", die daraus folgt, umgeht. Dafür gibt es keine einfachen Regeln. Die Frage lässt sich nicht prinzipiell, sondern nur graduell beantworten, nicht im Sinne des Entweder-Oder, sondern im Sinne des Je-Desto. Es gibt Konstellationen, in denen es aus Gründen der verfassungsrechtlich angeleiteten Demokratiefunktionalität angebracht ist, dass sich das Gericht einmischt, den politischen Prozess und die Verfassungspraxis sanktioniert und durch Verfassungsauslegung auch aktivistisch gestaltend vorgeht. Und es gibt Konstellationen, in denen sich das Gegenteil empfiehlt. Welche Maximen empfehlen sich für verfassungsgerichtliche "Interventionen" in den politischen Prozess?

Zunächst darf nicht vergessen werden, dass Hauptadressat des BVerfG nicht die anderen Verfassungsorgane, sondern die Dritte Gewalt selbst ist, mit der Spannbreite vom Amtsgericht bis zum Bundesgerichtshof. Die allermeisten Verfahren in Karlsruhe betreffen Verfassungsbeschwerden, die fachgerichtlichen Urteilen vorwerfen, gegen die Verfassung verstoßen zu haben. Im Verhältnis zu den Fachgerichten erfüllt das BVerfG keine politische Funktion, sondern es sorgt für den täglichen Verfassungsvollzug durch die rechtsprechende Gewalt. Übergriffe auf den politischen Prozess und die Kompetenzen anderer Verfassungsorgane drohen hier zunächst einmal nicht. Allerdings wohnt jeder Verfassungsbeschwerde das Potenzial inne, Kompetenzkonflikte zwischen den Gewalten auszulösen. Denn eine Verfassungsbeschwerde kann dazu führen, dass ein Gesetz aufgehoben wird, dass also aus der subjektiven Rechtsverletzung eine objektive Verfassungswidrigkeit folgt.

Richterlicher Aktivismus ist umso eher angebracht, je wahrscheinlicher Minderheitenrechte nicht nur im Einzelfall, sondern strukturell verletzt werden. Wenn beispielsweise bestimmte Ansichten im Bundestag unterrepräsentiert sind (etwa die Friedensbewegung zur Zeit der Brokdorf-Demonstration 1981), ist es geboten, das parlamentarische Repräsentationsdefizit durch eine Stärkung der gesellschaftlichen Artikulationsformen zu beheben – mit anderen Worten, die Grundrechte zur Kompensation von Repräsentationsmängeln einzusetzen. Das erklärt die starke Stellung des Versammlungsrechts, das typischerweise von denen wahrgenommen wird, die im politischen Prozess unterrepräsentiert sind (heute also eher Fridays for Future oder die Kritiker der Corona-Maßnahmen).

Der politische Prozess kann aber auch darunter leiden, dass bestimmte Themenfelder aus der Eigenrationalität des politischen Prozesses heraus nicht aufgegriffen werden. So hat der Bundestag etwa an der Reform des Erbschaftsteuerrechts kein politisches Interesse: Man macht sich im Zweifel unbeliebt, gewinnt mit dem Thema keine Wahlen, hat starke Lobbyisten gegen sich (Familienunternehmen etwa), und die Steuereinnahmen kämen nicht einmal dem Bund zugute. Das Erbschaftsteuerrecht ist aber ein zentrales Steuerungselement für Chancengerechtigkeit und gegen die Verschärfung der Vermögensungleichheit. Schon unter dem Gesichtspunkt der Behandlung einer gesamtgesellschaftlich wichtigen Problematik, die aber keine politische Rendite verspricht, war es richtig, dass das BVerfG mehrfach das Erbschaftsteuergesetz beanstandet und den Bundestag gezwungen hat, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Das BVerfG zwingt dem Bundestag Themen auf, die dieser eigentlich nicht behandeln will. Es erfüllt hier eine stimulierende Funktion und bewahrt den politischen Prozess davor, im Abarbeiten von alle vier Jahre geschlossenen Koalitionsvereinbarungen zu erstarren. Die Wirkung dieser Rechtsprechung ähnelt derjenigen einer Volksinitiative – insofern kompensiert das BVerfG funktional auch auf Bundesebene fehlende direktdemokratische Verfahren. Verfassungsbeschwerden bieten für Bürger jedenfalls auch eine Möglichkeit, Anliegen zu thematisieren, mit denen sie im politischen System scheitern.

Wenn das BVerfG dergestalt Themen setzt und Aufgaben verteilt, ist der potenzielle Übergriff auf die demokratisch zu verantwortende Rechtspolitik besonders groß. Hier empfiehlt es sich, nicht zu viel zu entscheiden, also entweder eine Aufgabe zu verteilen (Reform des Erbschaftsteuerrechts) oder die Mittel zur Erfüllung dieser Aufgabe dem Gesetzgeber zu überlassen. Hier geht das BVerfG manchmal zu weit, weil es auch noch die Mittel konkretisiert, etwa die Reform des Erbschaftsteuerrechts an konkrete Vorgaben aus dem Gleichheitssatz knüpft. Zu weit gegangen war das BVerfG auch im ersten Urteil zum Schwangerschaftsabbruch, als es nicht nur eine neue Aufgabe kreierte (staatliche Schutzpflicht als richterliche Verfassungsinterpretation), sondern zugleich auch das Mittel zur Umsetzung der Schutzpflicht vorgab (Strafrecht, Indikationslösung).

Kluge Dosierung

Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. (© Bundesverfassungsgericht | foto USW. Uwe Stohrer, Freiburg)

Als gewaltenrespektierende Klugheitsregel gilt also: Für die politische Verantwortung und damit die demokratische Legitimation (und mögliche Sanktion durch den Wähler) muss immer etwas zur Entscheidung übrigbleiben, entweder das Ziel oder das Mittel: Entweder, dem politischen Prozess wird eine Aufgabe überantwortet, dann darf nicht auch noch das Mittel verfassungsrechtlich deduziert werden; oder ein Themenfeld ist bereits politisch besetzt, dann bietet sich die Mittelauswahl zur Kontrolle an. In diese zweite Rubrik fällt etwa der Klimaschutzbeschluss: Die Bundesrepublik hat sich völkervertraglich zu einem konkreten Klimaschutzziel verpflichtet. Jetzt kann das BVerfG die zeitliche Umsetzung dieses Ziels überprüfen. Oder ein strukturell vergleichbares Beispiel: Wenn sich der Bundestag für die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften entscheidet, kann das BVerfG daran anknüpfend prüfen, wie er dieses Ziel umsetzt – und den demokratisch legitimierten Reformprozess befördern.

Aktivismus und Zurückhaltung lassen sich auf diese Weise praktisch gut dosieren und zugleich auf verfassungsrechtliche Grundentscheidungen zurückführen. Vereinfacht gesagt ist das BVerfG zu demokratiefunktionalem Aktivismus in drei verallgemeinerungsfähigen Konstellationen aufgerufen, nämlich erstens, wenn ein Repräsentationsdefizit zu verzeichnen ist, zweitens zum Schutz struktureller Minderheiten, die keine Mehrheitschance haben, sowie drittens, wenn der politische Prozess zu versteinern droht. Man überlege aber weiter, welche anderen Konstellationen Aktivismus auch rechtfertigen könnten: Wenn Mehrheitskonsens besteht, dass bestimmte Kompetenzen ausgehöhlt werden (etwa durch selbstexekutierende Gesetze wie bei der "Bundesnotbremse", die die Zuständigkeit der Verwaltung wie der Gerichte beschneidet)? Oder bei Kompetenzverschiebungen von nationalen auf europäische Organe? Die Fallgruppen lassen sich je nach den zukünftigen Sachlagen fortentwickeln.

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in diesem demokratiefunktionalen Bereich sind, anders als Entscheidungen, die subjektive Rechte im Einzelfall betreffen, nie für die Ewigkeit. Wenn das BVerfG als Verfassungsorgan und nicht als Gericht entscheidet, dann gilt für es natürlich das, was auch sonst für Verfassungsorgane gilt: Hier gibt es kein letztes Wort. Demokratie beruht auf der Chance der Minderheit, zur Mehrheit zu werden und die Dinge ändern zu können. Demokratie lebt von der Reversibilität. Es ist daher wichtig, dass die demokratiefunktionalen Entscheidungen des BVerfG interpretationsfähig bleiben und nicht ihrerseits zur Versteinerung beitragen. Verfassungsinterpretation entwickelt sich zur Interpretation von Verfassungsinterpretationen. Erst die politische Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit ermöglicht einen solchen Interpretationsdiskurs. In dieser Perspektive wird das Bundesverfassungsgericht nicht zur Gouvernante der Demokratie, sondern zur Mutter des Verfassungspatriotismus.

Fussnoten

Fußnoten

  1. So Christoph Schönberger, Anmerkungen zu Karlsruhe, in: Matthias Jestaedt et al., Das entgrenzte Gericht, Berlin 2011, S. 51.

  2. Manche Entscheidungen ergehen nach §31 BVerfGG sogar in Gesetzeskraft, binden dann also alle Staatsgewalten.

  3. Siehe etwa die Analyse des früheren Präsidenten des BVerfG: Ernst Benda, Verfassungskontrolle durch Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Detlef Merten/Rudolf Morsey (Hrsg.), 30 Jahre Grundgesetz, Berlin 1979, S. 103–117, hier S. 115 ("Aufgabe im partnerschaftlichen Sinne verstehen und ausüben").

  4. BVerfGE 62, 1 (1985); 114, 121 (2005).

  5. BVerfGE 121, 266 (2008); 131, 316 (2012).

  6. Funktionalistische Theorien der Verfassungsrechtsprechung werden seit Langem diskutiert, vgl. bereits Klaus Schlaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 39/1981, S. 99–146; Christine Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, Baden-Baden 1984; Christoph Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und Bundesverfassungsgericht, Berlin 1985; Werner Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, Baden-Baden 1992. Der US-amerikanische Klassiker ist John H. Ely, Democracy and Distrust, Cambridge, Mass. 1980.

  7. Zur Analyse der systemfunktionalen Leistung dieses Arenenwechsels siehe etwa Werner Heun, Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit im Vergleich, Tübingen 2014, S. 301ff.; Sascha Kneip, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure, Baden-Baden 2011, S. 308ff., S. 337ff.; Robert Leicht, Eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Das BVerfG als political player, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Herzkammern der Republik. Die Deutschen und das BVerfG, München 2011, S. 148–158; Manfred G. Schmidt, Regieren mit Richtern, in: ebd., S. 200–208; Ulrich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, Berlin 1998; siehe auch Rolf Lamprecht, Ich gehe bis nach Karlsruhe, München 2011; Uwe Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, München 2004.

  8. BVerfGE 25, 167.

  9. BVerfGE 39, 1.

  10. BVerfGE 49, 89.

  11. BVerfGE 69, 315.

  12. Näher dazu Anselm Doering-Manteuffel/Bernd Greiner/Oliver Lepsius, Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985, Tübingen 2015.

  13. BVerfG, Beschluss vom 24.3.2021, 1 BvR 2656/18 u.a.

  14. BVerfG, Beschluss vom 5.5.2021, 1 BvR 781/21 u.a.

  15. Vgl. Angela Merkel, BT-Plenarprotokoll 19/222 vom 16.4.2021, 28102D-28103A.

  16. BVerfGE 88, 203.

  17. Vgl. Peter Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzeitung (JZ) 10/1975, S. 297–305.

  18. Gernot Uhl findet dafür die schöne Formulierung, dem BVerfG komme im politischen Prozess die Aufgabe zu, zu entscheiden, welche Forderungen an das politische System verstetigungswürdig sind. Gernot Uhl, Die Stabilisierungsfunktion der Verfassung im politischen Prozess, Baden-Baden 2011, S. 303. Vgl. auch Klaus v. Beyme, Der Gesetzgeber, Opladen 1997, S. 300ff.; Oliver Lepsius, Reaktionsweisen des Gesetzgebers auf verfassungsgerichtliche Entscheidungen, in: Matthias Jestaedt/Hidemi Suzuki (Hrsg.), Verfassungsentwicklung II, Tübingen 2019, S. 125–164.

  19. Die demokratische Entwicklungsleistung würdigt besonders Justin Collings, Democracy’s Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court, Oxford 2015. Siehe auch Schönberger (Anm. 1), S. 9ff. Zur Entscheidungsfindung vgl. Thomas Darnstädt, Verschlusssache Karlsruhe, München 2018.

  20. Der Begriff geht zurück auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler Alexander Bickel. Bickel hielt das Normverwerfungsrecht von Verfassungsgerichten für illegitim, weil sich nicht hinreichend demokratisch legitimierte Richter über den demokratischen Mehrheitswillen hinwegsetzen können. Vgl. Alexander Bickel, The Least Dangerous Branch, New Haven 1962. Gewichtige Argumente finden sich auch bei Jeremy Waldron, The Core of the Case Against Judicial Review, in: Yale Law Journal 115/2006, S. 1347–1406.

  21. Vgl. Matthias Eberl, Verfassung und Richterspruch, Berlin 2006, S. 207ff., S. 257ff.

  22. Siehe auch Oliver Lepsius, Relationen. Plädoyer für eine bessere Rechtswissenschaft, Tübingen 2016.

  23. Näher dazu etwa Heun (Anm. 7), S. 255ff.; Matthias Jestaedt, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, in: Deutsches Verwaltungsblatt 116/2001, S. 1309–1322.

  24. BVerfGE 93, 165 (1995); 117, 1 (2006); 138, 136 (2014).

  25. Anders dann BVerfGE 88, 203 (254): "Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im einzelnen."

  26. BVerfGE 105, 313 (2002); 124, 199 (2009); 133, 59 (2013).

  27. Viertes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 22.4.2021, BGBl. I, S. 802.

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ist Professor für Öffentliches Recht und Verfassungstheorie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
E-Mail Link: oliver.lepsius@uni-muenster.de