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Das Ende der Sowjetunion in der Historiographie | Nach dem Ende der Sowjetunion | bpb.de

Nach dem Ende der Sowjetunion Editorial Über die Krise - Essay Das Ende der Sowjetunion in der Historiographie Von Gorbatschow zu Medwedew: Wiederkehr des starken Staates Macht und Recht in Russland: Das sowjetische Erbe Russische Medien zwischen Vielfalt und Bedrohung Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit Stalinismus und Erinnerungskultur 22. Juni 1941: Kriegserinnerung in Deutschland und Russland

Das Ende der Sowjetunion in der Historiographie

Susanne Schattenberg

/ 17 Minuten zu lesen

Die Historiker sind uneins, ob sich die UdSSR in einer strukturellen Krise befand oder ob Gorbatschow diese herbeiführte. Die westliche Zunft feiert Gorbatschow; in Russland wird er ignoriert.

Einleitung

Das Ende der Sowjetunion sei eine "gesamtnationale Tragödie von gewaltigen Ausmaßen" gewesen, meinte der russische Präsident Wladimir Putin 2004, und fügte ein Jahr später hinzu, der Untergang der einstigen Supermacht sei zugleich "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Während dem Politiker ein solches Urteil nicht schwer fällt und sich Teile der nun zu verschiedenen Staaten gehörenden ehemaligen sowjetischen Bevölkerung nach früherer Größe und Stärke sehnen, haben sich die Historiker erst wenig mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion auseinandergesetzt. Zum einen sind 20 Jahre für die Zunft keine Zeit; die historische Rolle Michail Gorbatschows werde man erst an der Schwelle zum 21. Jahrhundert wirklich erfassen können, so 1995 der Historiker Dmitri Wolkogonow. Zum anderen bescherte der Zusammenbruch der Sowjetunion den Historikern in West wie Ost erst einmal eine Krise: Die Sowjetologen im Westen fragten sich, warum sie den Zusammenbruch der Supermacht nicht hatten voraussehen können. Verdankte sich der großzügige Ausbau der akademischen Osteuropaforschung nicht gerade der "Feindforschung", die offenbar kläglich versagt hatte?

Während die Zunft kritisch mit sich selbst ins Gericht ging, setzte in Deutschland die Politik den Rotstift an und strich einige Geschichtsprofessuren, mehrere Slawistik-Lehrstühle und fast alle Politikprofessuren, die auf Osteuropa spezialisiert waren. Die "Kremlologen" in den USA wurden nicht auf diese Weise abgestraft. Dafür loderte der Streit zwischen den zwei Schulen der "Totalitaristen", welche die Sowjetunion als Werk einer kleinen, gewalttätigen Putschistengruppe sahen, die über siebzig Jahre lang das Volk terrorisiert hatte, und den "Revisionisten", die in der Sowjetunion den Staat der Arbeiter erkannten, die sich hier eine bessere Zukunft verwirklichten, ein letztes Mal auf. Richard Pipes polemisierte, von der sozialgeschichtlichen Geschichtsschreibung der Revisionisten werde nur eine Fußnote übrigbleiben; die Öffnung der Archive werde all ihre sowjetfreundlichen Elaborate Lügen strafen. In Frankreich war der Prozess der Selbstgeißelung besonders schmerzhaft: Die Reaktion auf die zuvor existierende latente bis manifeste Sympathie mit dem sozialistischen Land fand ihren Ausdruck im "Schwarzbuch des Kommunismus", das die Geschichte der Sowjetunion auf den Terror und das Zählen der Opfer reduzierte.

Ende der Geschichte

Während im Westen Osteuropaspezialisten um Stellen, Selbstverständnis und Sympathisantentum rangen, wurde in Russland eine ganze Zunft entwurzelt und auf dem "Kehrrichthaufen der Geschichte" entsorgt. In der Sowjetunion hatte man nicht bloß "Geschichtswissenschaft", sondern die gesamte Weltgeschichte als "Geschichte der KPdSU" studiert. Nach dem Verbot der Partei im August 1991, der Diskreditierung der Ideologie und dem Einzug des Kapitalismus auf dem Arbeitsmarkt wurde Geschichte zur brotlosen Kunst: Akademiemitglieder, Universitätsangestellte oder Museumsfachleute suchten sich Zweit- und Drittjobs, um ihre miserablen Löhne aufzubessern. Wer Glück hatte, blieb im Metier und schrieb für Manager-Magazine populärwissenschaftliche Geschichtsessays; wer weniger Glück hatte, verdingte sich als Möbelpacker. Wer die Zeichen der Zeit begriff und die Chance dazu hatte, machte einen Crashkurs in westlichen Theorien, von Max Weber über Pierre Bourdieu bis Michel Foucault, und verschwand ins Ausland, vornehmlich an eine amerikanische Universität. Das Ergebnis: Viele der besten Köpfe sind Professoren in den USA geworden; in Russland gibt es noch die "alte Garde" der hochbetagten Akademieapparatschiks und einige junge, viel versprechende Historikertalente. Aber die Generation dazwischen ist fast nicht existent. Die russische Historikerzunft beginnt sich nach dem Weltuntergang von 1991 erst langsam wieder zu regenerieren.

Die Historiker, die sich nicht mit Nabelschau oder der eigenen Existenzsicherung beschäftigten, interessierten sich weniger für Ursachen und Folgen von 1991 als für die Hochzeit des Stalinismus in den 1930er Jahren und den Großen Terror. Während sie die Geschichte der Sowjetunion von hinten aufrollen und sich langsam in die Chruschtschow- (1953-1964) und Breschnew-Zeit (1964-1982) vorarbeiten, bleibt ein gravierendes Problem bestehen: Das Russländische Staatsarchiv für Neuste Geschichte (Rossiiskii Gosudarstvennyi Arkhiv Noveishei Istorii/RGANI), das die zentralen Aktenbestände für die Zeit nach 1950 verwahrt, ist kaum zugänglich: Es hat nur an drei Tagen pro Woche geöffnet, Lesern ist das Verwenden eines Laptops untersagt, und die meisten Bestände sind gesperrt oder nur in Teilen einsehbar.

Krise oder Selbstmord?

Es ist vielleicht nicht erstaunlich, dass sich auch zum Ende der Sowjetunion zwei gegenläufige Meinungen entwickelt haben. Die noch vorherrschende Lehrmeinung scheint auch die "logische" und für den westlichen Beobachter plausiblere Erklärung zu sein: Die Sowjetunion befand sich in der Krise und hatte sich delegitimiert: Der Marxismus-Leninismus war zur Kulisse verkommen und wurde seit den 1960er Jahren zunehmend verlacht und verhöhnt. Wirtschaftlich konnte sie mit den USA nicht Schritt halten und die Konsumwünsche der eigenen Bevölkerung nicht befriedigen; der Rüstungswettlauf hatte sie an den Rand des Ruins gebracht, und die aufflammenden Nationalitätenkonflikte taten ein Übriges, um dem maroden Koloss den Todesstoß zu versetzen. Gern wird dem Zusammenbruch eine gewisse Gesetzmäßigkeit zugeschrieben, oder er wird mit der westlichen Geschichte parallelisiert: Danach war der Zerfall des Vielvölkerreichs eine "nachholende Entwicklung", die die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" beendete. Zuweilen wird ein makrohistorischer Rahmen bemüht. Die Geschichte Russlands müsse in drei großen Modernisierungszyklen gedacht werden: Von Peter I. bis 1856 habe das Land militärisch nachgerüstet und sei bis 1970 industrialisiert worden. Im Mikrochipbereich habe die UdSSR dann nicht mehr mithalten können.

Dem widersprechen so prominente Experten wie der Gorbatschow-Spezialist Archie Brown, Politologe in Oxford, und Stephen Kotkin, Geschichtsprofessor in Princeton. Beide vertreten vehement und pointiert die "Selbstmord-These". Es habe bis zu Gorbatschows Machtantritt keine Krise gegeben: Die Wirtschaft lief schlecht, aber sie lief, der "militärisch-industrielle Komplex" verschlang unglaubliche Ressourcen, aber das war in den USA auch nicht anders, und die Bevölkerung hatte sich in der Sowjetunion in bescheidenem Wohlstand eingerichtet. Erst der neue Generalsekretär habe so grundlegend an den Säulen des Regimes gerüttelt, dass er den Zusammenbruch nolens volens herbeiführte: "Der Leninismus beging Selbstmord, und nichts trat an seine Stelle", so Kotkin. Diese diametral entgegengesetzten Thesen, die noch lange nicht das Stadium einer offenen, fruchtbaren, erkenntnisfördernden Debatte erreicht haben, gehen auf sehr unterschiedliche Grundannahmen über die Sowjetunion im Speziellen und die Geschichte im Allgemeinen zurück. Vor dem Hintergrund eines westlichen Fortschrittdenkens, das sich an Demokratie und Marktwirtschaft orientiert, musste die Sowjetunion als krisengeschüttelt erscheinen. Wenn man allerdings auf einen solchen universellen Maßstab verzichtet und die Sowjetunion an ihren eigenen Normen, Werten und Wahrheiten misst, dann schien die Sowjetunion so stabil und gefestigt wie nie zuvor.

"Alles war für immer, bevor es verschwand", heißt daher auch das vielbeachtete Buch von Aleksei Yurchak, Professor für Anthropologie in Princeton und selbst gebürtiger "Sowjetmensch". Yurchak vertritt die These, dass die Sowjetunion das Stadium der "Normalität" erreicht hatte; die Masse der Bevölkerung habe sie als gegeben hingenommen und "mitgemacht": bei den Maiparaden, bei Komsomolveranstaltungen, zur Revolutionsfeier. Dieses reine "Mitmachen" sei aber kein Ausdruck für mangelnden Glauben und fehlende Überzeugung gewesen, sondern die Alltagspraktiken hätten als rituelle Bestätigung des Systems gedient. Yurchak spricht von einer "performativen Verschiebung", die das Existenzrecht der Sowjetunion nicht unterhöhlte, sondern im Gegenteil zu einer Wahrheit werden ließ, welche die wenigsten noch hinterfragten.

Generationenthese

Yurchak beschreibt dieses Phänomen für die letzte sowjetische Generation, die in den 1970er/1980er Jahren sozialisiert wurde und die Vladislav Zubok, in Moskau ausgebildeter Historiker, heute Professor in den USA, verächtlich nur die "zynischen Konformisten" schimpft. Tatsächlich lohnt es sich, dem Trend zu folgen und die verschiedenen sowjetischen Generationen in ihrer spezifischen Lebenssituation zu untersuchen. Neueste Studien zeigen, dass eine Reihe von Generationen unterschieden werden kann: Jene, die (um 1906 geboren) die Sowjetunion baute und zu der Leonid Breschnew (1906-1982), Juri Andropow (1914-1984) und Konstantin Tschernenko (1911-1985) gehörten, ihre (in den 1930er Jahren geborenen) Kinder, die neuen schestidesjatniki ("Sechziger"), die im Geiste der zaristischen Intelligenzija die Sowjetunion in den 1960er Jahren in Frage stellten, die Enkel, auch "Sputnik-Generation" oder "Babyboomer" genannt (Jahrgang 1949/50), die sich nicht um Partei und Politik, sondern um Kultur und Karriere kümmerten, und schließlich die letzte Generation der "Ur-Enkel", die nur noch an Konsum dachte.

Nimmt man diese ersten, vorläufigen Ergebnisse zu vier Generationen ernst, dann scheint es nicht erstaunlich, dass von außen keine Krise erkannt wurde, denn die letzten zwei Generationen waren eher Konformisten, die sich in der Sowjetunion eingerichtet hatten und weder den Stalin'schen Terror der 1930er Jahre noch das Grauen des Großen Vaterländischen Krieges erlebt hatten, und auch nicht die bleierne Zeit der Angst des Spätstalinismus. Folgt man dieser These weiter, dann gehörte Michail Gorbatschow, Jahrgang 1931, zur Generation der Dissidenten. Tatsächlich sah er sich selbst als schestidesjatnik und war mit dem tschechoslowakischen Dissidenten Zdenk Mlyná befreundet, mit dem er von 1950 bis 1955 in Moskau Jura studiert hatte.

Gorbatschow, der Radikalreformer

Gorbatschows Memoiren lassen keinen Zweifel daran, dass er Staat, Partei und Wirtschaft schon 1978, als Andropow ihn als Politbüromitglied nach Moskau holte, in einer tiefen Krise sah. Das ganze Land habe den "Rat der Greise" nicht mehr ernst genommen. Gorbatschow, der voller Tatendrang war, der an den Leninismus, an Reformen und einen Aufbruch glaubte, der sich als Landwirtschaftsexperte und nicht als Apparatschik verstand, sah sich im Politbüro mit einer Reihe alter Männer konfrontiert, der "Generation der Erbauer", alle in ihren 70ern, die das Land nicht mehr wahrnahmen, die nur darauf bedacht waren, das innere Gleichgewicht im Politbüro nicht zu stören, die aus Angst vor Veränderung den arbeitsunfähigen Breschnew nicht absetzten und aus dem gleichen Grund noch zwei weitere Mitglieder ihrer Altersgruppe auf den Thron hievten. Gorbatschow litt unter dem absurden, grotesken, menschenunwürdigen Totenreigen im Politbüro, wenn alle so taten, als ob Breschnew oder später Tschernenko etwas zu sagen hatte, obwohl beide akustisch nicht mehr zu verstehen waren. Er erkannte, dass es gar keinen Kampf zwischen "Konservativen" und "Reformern" gab, sondern die verschiedenen Interessengruppen nur um Macht und Einfluss rangen; er wurde aufgenommen, weil er das Gleichgewicht der konkurrierenden Klientelen nicht störte.

Gorbatschow beschreibt sehr eindringlich die Krise und Endzeitstimmung, die er verspürte, gibt aber gleichzeitig zu Protokoll, dass dies der Blick eines Insiders war, während die Bevölkerung nicht wissen konnte, dass sie unter Breschnew und Tschernenko zehn Jahre lang von Männern regiert wurde, die physisch dazu nicht mehr in der Lage waren. Für ihn folgte daraus, dass die Perestroika von oben beginnen musste: "Anders konnte das unter den Bedingungen des Totalitarismus gar nicht sein. (...) Man musste so schnell wie möglich die Gesellschaft aus der Lethargie und Gleichgültigkeit reißen und sie in den Reformprozess einbinden." Die Frage, "warum hat er das getan?" bzw. "wusste er, was er tut?" beantwortet Gorbatschow eindeutig mit "ja". Er hatte als Student und junger Mann die Chruschtschow-Zeit erlebt und die Ursachen für das Scheitern seines Vorgängers genau analysiert: Es sei ein Fehler gewesen, den Stalinismus nur auf die Person Stalins zu schieben; Nikita Chruschtschow habe sich geweigert, auch die Fehler im System zu erkennen. Damit stand für Gorbatschow fest, er würde die Chance ergreifen, wenn sie ihm geboten würde, das Land zu reformieren, und er würde es wesentlich grundlegender angehen als Chruschtschow. "So kann man nicht weiterleben", war sein Leitspruch.

Als Gorbatschow am 25. Dezember 1991 von seinem Posten als Präsident der Sowjetunion, die es nicht mehr gab, zurücktrat, sagte er: "Ich wusste, dass es sehr schwierig und sogar riskant sein würde, Reformen in einem solchen Maßstab in einer solchen Gesellschaft anzustoßen. Aber ich bin auch heute noch überzeugt von der historischen Richtigkeit dieser demokratischen Reformen, die im Frühjahr 1985 ihren Anfang nahmen."

Lichtgestalt versus Totengräber

Gorbatschow spielt im heutigen Russland kaum eine Rolle. Stalin wird zum Superstar gekürt, Breschnew wird als Vater des "goldenen Zeitalters" gefeiert, aber Gorbatschow gilt eher als Unperson. In einem Geschichtsbuch für Lehrer aus dem Jahr 2007 werden die "Irrtümer" Gorbatschows herausgestrichen, und er wird als Totengräber der Sowjetunion präsentiert. Er habe unter dem Einfluss des Westens ein großes Land zugrunde gerichtet, ohne Not die Hegemonie in Ostmitteleuropa aufgegeben und den "realen Sozialismus" diskreditiert. In einer Reihe großer Führer von Stalin über Breschnew bis zu Putin erscheinen Chruschtschow, Gorbatschow und Jelzin als Nestbeschmutzer, die Russland vom richtigen Weg abbrachten.

Ganz anders sahen dies Dissidenten, Wegbegleiter und kritische Historiker Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre. Sie teilten mit dem Westen die Begeisterung für diesen Mann, der unerschrocken, ohne Rücksicht auf Verluste, angetrieben nur von seinen Überzeugungen, die Welt ins Wanken brachte. Dmitri Wolkogonow, der große Biograf der "Sieben Führer", beginnt sein Portrait mit den Worten, Gorbatschow sei der einzige "Führer" gewesen, der versucht habe, Russland dauerhaft mit der Freiheit zu vereinen. Er vergleicht ihn mit Zar Alexander II. (1855-1881), der Russland die Großen Reformen brachte, und stellt ihn in seiner historischen Bedeutung auf eine Stufe mit Lenin: Der eine schuf die Sowjetunion, der andere zerstörte sie - ohne dafür einen Plan oder eine Strategie zu besitzen. Gorbatschows "Waffe" war der Leninismus, an den er glaubte; sein Instrumentarium waren die üblichen Mittel der Partei: die Generallinie des ZK, die Beschlüsse der Parteikongresse, die Programmdirektiven. Während Gorbatschow Chruschtschow vorwarf, er habe die Sowjetunion ändern wollen, ohne am System zu rütteln, sieht Wolkogonow Gorbatschows Denkfehler darin, dass er glaubte, das System ändern zu können, ohne dabei am sozialistischen Fundament zu rütteln. Darin pflichtet ihm auch Gorbatschows früherer persönlicher Mitarbeiter, Georgi Schachnasarow, bei: Gorbatschow wollte das totalitäre System durch eine parlamentarische Demokratie ersetzen und zerstörte damit ungewollt die Partei, deren Oberhaupt er war. Er habe keinen fertigen Plan gehabt, sondern sei nach dem Prinzip "Trial and Error" vorgegangen.

Gorbatschow war ein Gesinnungstäter, darin sind sich alle einig. Bezeichnend war, so der Dissident Zhores Medwedjew, dass Gorbatschow mit Amtsantritt nicht wichtige außen- oder innenpolitische Maßnahmen ergriff, sondern zunächst mit der Ausarbeitung eines neuen Parteiprogramms begann. Er glaubte, dass er die Partei erneuern und mit Überzeugungskraft das Land und die Menschen würde zusammenhalten können. Doch das war eine Utopie, an der bereits Chruschtschow gescheitert war, der ebenfalls geglaubt hatte, wenn die Partei den Menschen ihre freie Meinung ließ, würden sie sich freiwillig für die KPdSU und die Sowjetunion entscheiden. Schachnasarow stellt die Frage: "Wie konnte es geschehen, dass die Perestroika, die im Interesse einer Erneuerung der Gesellschaft und einer Verbesserung der Lebensverhältnisse eingeleitet wurde und Demokratie und Freiheit ermöglichte, zum Zerfall des Staates und Zusammenbruch der Wirtschaft führte (...)?" So absurd es klingt, aber die Begleiter Gorbatschows bestätigen letztlich, was Kotkin so drastisch ausgedrückt hat: Die UdSSR starb an einer Überdosis Ideologie, am grenzenlosen Idealismus Gorbatschows. Dafür lieben und schätzen ihn seine Wegbereiter in Russland und seine Biografen im Westen. Sie beschreiben einen Helden, der an Schule und Universität immer nur Bestnoten erzielte, den seine fachliche Expertise und seine außerordentliche Intelligenz auszeichnete, der die Liebe seines Lebens fand und im Ausland Begeisterung hervorrief, der ein angenehmes Äußeres und Charisma hatte und sich in all diesen Eigenschaften entschieden von den anderen Politbüro-Mitgliedern abhob. Schachnasarow schwärmt, Gorbatschow konnte müde, unausgeschlafen oder krank sein, "niemals jedoch erlosch dieser Blick".

Auch Archie Brown und William Taubman feiern Gorbatschow als große historische Persönlichkeit und können von Superlativen nicht lassen. Taubman, der schon die Monumentalbiografie zu Chruschtschow schrieb, hat sein Gorbatschow-Werk zum 1. Mai 2013 angekündigt. Archie Brown, der 1996 den "Gorbatschow-Faktor" veröffentlichte, nannte sein 2007 erschienenes Buch "Sieben Jahre, die die Welt veränderten", in Anlehnung an den berühmten Augenzeugenbericht zur Oktoberrevolution des Journalisten John Reed "Ten Days That Shook the World" (1919). Brown zieht nicht nur historische Parallelen zum Jahr 1917, als ein neues Zeitalter begann; er vergleicht Gorbatschow indirekt mit Martin Luther, wenn er sagt, die Perestroika habe eine starke moralische Dimension gehabt, die dem Protestantismus ähnelte, der sich gegen die korrupte katholische Kirche stellte. Weder habe Luther die Kirche spalten, noch Gorbatschow die Sowjetunion zu Grabe tragen wollen. Mit dem Begriff "Gorbatschow-Faktor" wendet sich Brown gegen all jene, die strukturelle Kräfte - Wirtschaft, Gesellschaft, die außenpolitische Lage - als Ursache für die Einleitung von Glasnost und Perestroika nennen. Gorbatschow allein war der Initiator, so Brown, und er tat es aus freien Stücken und voller Überzeugung - und nicht, weil er die Not oder Zwang zur Veränderung verspürte.

Patrone und Klienten

Es ist zweifellos richtig, dass die Rolle Gorbatschows nicht überschätzt werden kann, und dennoch macht eine solche Hervorhebung eines Individuums die Historiker nervös. Die Frage lautet, wer ihn unterstützte. Als Gorbatschow an die Macht kam, waren die "klassischen" Dissidenten kaum noch existent: Die meisten waren exiliert, emigriert, in Verbannung oder in Haft. Daher wenden sich Forscher vermehrt den "Reformern im System" oder den "loyalen Dissidenten" zu, die zwar den Einmarsch in Prag 1968, die Entlassung Andrei Sacharows und die Exilierung Alexander Solschenizyns verurteilten, aber ihre Gedanken für sich behielten. Unter Breschnew entwickelten sich eine Reihe von wissenschaftlichen Einrichtungen, Redaktionen und auch ZK-Abteilungen zu Schutzräumen, in denen "loyale Oppositionelle" oder "liberale Konformisten" unter der Protektion eines mächtigen Institutsleiters mit Verbindungen ungestört denken und überwintern konnten - bis Gorbatschow sie rief. Georgi Schachnasarow, Anatoli Tschernjajew, Alexander Jakowlew und viele andere Weggefährten Gorbatschows profitierten von diesen "institutionellen Amphibien", die wie die in Prag ansässige Zeitschrift "Probleme des Friedens und des Sozialismus" oder die Internationale Abteilung des ZK nach außen loyal waren, aber im Inneren Reformideen ausbrüteten.

Damit rückt ein weiteres Phänomen in den Mittelpunkt des Interesses von Historikern, das weithin anerkannt, aber doch noch wenig erforscht ist: die Rolle von Patron-Klienten-Beziehungen - nicht nur für den Schutz von Andersdenkenden, sondern für die Funktionsweise von Herrschaft in der Sowjetunion. Die Sowjetunion war, soviel steht außer Frage, kein bürokratischer Staat, sondern ein Personenverbundssystem, in dem nicht klare Strukturen, Hierarchien und Institutionen über Zuständigkeiten, Rechte und Pflichten entschieden, sondern in dem persönliche Verbindungen das wichtigste Kapital waren. Stalin lebte mit den Politbürofamilien wie ein kaukasischer Clan im Kreml zusammen, Chruschtschow baute seine Macht auf den ZK-Sekretären auf, die seine Klienten waren, Breschnew gilt als Machtvirtuose im Umgang mit den verschiedenen Interessengruppen schlechthin. Während Stalin die Kader durch Terror in Angst und Schrecken hielt und Chruschtschow mit seinen ständigen Umstrukturierungsmaßnahmen den ZK-Mitgliedern ebenfalls das Fürchten lehrte, sah Breschnew es als seine erste Pflicht, die Menschen zur Ruhe kommen zu lassen.

Das bedeutet aber, dass der von ihm erzielte Idealzustand der totalen Kaderstabilität in Gorbatschows Augen genau der Kern allen Übels war: die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Macht um jeden Preis. Was Breschnew als Wohltat für alle nach Stalin und Chruschtschow einführte, bekämpfte Gorbatschow als Korruption. Er rüttelte damit an nichts geringerem als den Säulen des Systems, die Stalin aufgebaut, Chruschtschow entwickelt und Breschnew zementiert hatte. Anders ausgedrückt war die Sowjetunion weniger auf Ideologie gegründet als auf ein spezielles Herrschaftssystem der Patron-Klienten-Beziehungen, die Gorbatschow zum Feind Nummer 1 erklärte. Er wollte freie Wahlen statt Akklamation, freien Meinungsaustausch statt vorgestanzter Phrasen, freie Ämtervergabe nach Kompetenz und nicht nach Proporz. All das mochte mit seinen Idealen von Leninismus vereinbar sein, nicht aber mit dem sowjetischen System. Es ist daher zu hoffen, dass die ausstehende Biographie von Taubman nicht nur Gorbatschow als unbestechlichen Denker und unverbesserlichen Idealisten zeigt, sondern auch das Herrschaftssystem analysiert, das an Perestroika und Glasnost zugrunde gehen musste.

Postumer Patriotismus

Interessanterweise zeigen neueste Studien, dass heute keineswegs in allen ehemaligen Unionsrepubliken die Mehrheit der Bevölkerung glücklich darüber ist, dass die Sowjetunion nicht mehr existiert. Nicht nur in Russland wird der Zerfall des Imperiums als Verlust von geostrategischer Größe, Identität, Freizügigkeit, Sprachgemeinschaft und Völkerfamilie empfunden. Es scheint, als ließe sich die stets angezweifelte Existenz des homo sovieticus doch nachweisen, zumindest postum und ex negativo. In Zentralasien, aber auch in Armenien oder im Altai-Gebiet beklagen Menschen, dass sie mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Problemen auf den nationalen oder regionalen Rahmen verwiesen sind, sich marginalisiert und von der Weltgeschichte abgekoppelt fühlen. Auch wenn aus der Rückschau die Welt immer rosiger erscheint, als sie war, gibt dieser Phantomschmerz doch wichtige Hinweise auf die Art der Stabilität der Sowjetunion.

Dass das Ende der Sowjetunion im Westen nicht vorausgesehen wurde, war auch ein Problem der sozialwissenschaftlichen Methode, so Dominic Lieven. Mit wirtschaftlichen, geopolitischen oder sozialen Faktoren allein lassen sich weder Zusammenhalt noch Zerfall des Imperiums erklären. Es ist daher nicht erstaunlich, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine theoretisch informierte Kulturgeschichte die Sozialgeschichte ablöste und statt nach objektiven Daten nach den wahrgenommenen Wirklichkeiten der Sowjetmenschen fragt. Allerdings wäre auch mit diesen Methoden kein bevorstehender Zusammenfall diagnostiziert worden, denn wie die Studien von Yurchak oder Serguei Oushakine zeigen, war die UdSSR ein Referenzrahmen, in dem sich ein Großteil der Bevölkerung behaglich eingerichtet hatte - bis Gorbatschow kam. Abgesehen davon, dass es nicht die Aufgabe von Historikern ist, die Zukunft vorauszusagen, muss festgehalten werden, dass es keine Krise gab, die man hätte beobachten können, es sei denn, man hieß Gorbatschow und hatte die Einsichten eines Politbüromitglieds. Die vielen verschiedenen Komponenten wie "Gorbatschow-Faktor", die Herrschaft durch politische Clans, die vermeintliche Ewigkeit des Systems, Wirtschaft und Konsumlage, Rüstungswettlauf und Nationalitätenfrage müssen noch zu einem Bild zusammengefügt werden, um zu erklären, warum die Sowjetunion die Generation ihrer Erbauer nur um sehr wenige Jahre überlebte.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Poslanie Prezidenta RF V.V. Putina Federal'nomu Sobraniju RF, 25 aprelja 2005g.

  2. Vgl. Dmitrij Volkogonov, Sem' vodej. Galereja liderov SSSR v 2ch knigach, Bd. 2, Moskau 1995, S. 283.

  3. Vgl. Stefan Creuzberger et al. (Hrsg.), Wohin steuert die Osteuropaforschung? Eine Diskussion, Köln 2000.

  4. Vgl. Richard Pipes, 1917 and the Revisionists, in: The National Interest, 31 (1993) 1, S. 68-79, hier: S. 79.

  5. Vgl. Stéphane Courtois et al. (Hrsg.), Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, München 19982.

  6. Vgl. Gerhard Simon, Das Ende der Sowjetunion. Ursachen und Zusammenhänge, in: Zeitschrift für internationale Fragen, 47 (1996) 1, S. 9-21, hier: S. 14.

  7. Vgl. Manfred Hildermeier, Geschichte der Sowjetunion 1917-1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates, München 19982.

  8. G. Simon (Anm. 6), S. 9.

  9. Vgl. Francis Fukuyama, The Modernizing Imperative. The USSR as an Ordinary Country, in: The National Interest, 31 (1993) 1, S. 19-25.

  10. Vgl. Archie Brown, Seven Years that changed the World. Perestrojka in Perspective, Oxford 2007; Stephen Kotkin, Armageddon Averted. The Soviet Collapse, 1970-2000, Oxford-New York 20082.

  11. S. Kotkin (ebd.), S. 188.

  12. Alexei Yurchak, Everything was forever, until it was no more. The Last Soviet Generation, Princeton, NJ-Oxford 2006.

  13. Vladislav Zubok, Zhivago's Children. The Last Russian Intelligentsia, Cambridge, MA 2009, S. 315.

  14. Vgl. Anke Stephan, Von der Küche auf den Roten Platz. Lebenswege sowjetischer Dissidentinnen, Zürich 2005.

  15. Vgl. Donald J. Raleigh, Russia's Sputnik Generation. Soviet Baby Boomers Talk about their Lives, Bloomington, IN 2006.

  16. Vgl. Mikhail Gorbachev/Zdenk Mlyná, Conversations with Gorbachev. On perestroika, the Prague Spring, and the crossroads of socialism, übersetzt von George Shriver, New York 2002.

  17. Vgl. M.S. Gorbaev, izn' i reformy, Bd. 1, Moskau 1995, S. 23.

  18. Ebd., S. 281.

  19. Ebd., S. 6.

  20. A.V. Filippov, Novejaja Istorija Rossii 1945-2006gg. Kniga dlja uitelja, Moskau 2007.

  21. Vgl. D. Volkogonov (Anm. 2), S. 279.

  22. Vgl. Georgi Schachnasarow, Preis der Freiheit. Eine Bilanz von Gorbatschows Berater, hrsg. v. Frank Brandenburg, Bonn 1996, S. 21.

  23. Vgl. Zhores Medwedjew, Der Generalsekretär. Michail Gorbatschow. Eine politische Biographie, Darmstadt 1986, S. 292.

  24. G. Schachnasarow (Anm. 22), S. 13.

  25. Ebd., S. 48.

  26. Vgl. Archie Brown, Der Gorbatschow-Faktor. Wandel einer Weltmacht, Frankfurt/M. 2000; ders., Seven Years that Changed the World. Perestroika in Perspective, Oxford 2007.

  27. Vgl. Marc Sandle, A Triumph of Ideological Hairdressing? Intellectual Life in the Brezhnev Era Reconsidered, in: Edwin Bacon/Mark Sandle (eds.), Brezhnev reconsidered, Houndmills-Basingstoke-New York 2002, S. 135-164, hier: S. 139.

  28. Vgl. T.H. Rigby, Political Elites in the USSR. Central Leaders and Local Cadres from Lenin to Gorbachev, Aldershot 1990; John P. Willerton, Patronage and Politics in the USSR, Cambridge 1992.

  29. Vgl. Serguei Alex Oushakine, The Patriotism of Despair. Nation, War, and Loss in Russia, New York 2009.

  30. Vgl. Dominic Lieven, Western Scholarship on the Rise and Fall of the Soviet Régime: The View from 1993, in: Journal of Contemporary History, 29 (1994), S. 195-227, hier: S. 213.

Dr. phil., geb. 1969; Professorin für Zeitgeschichte und Kultur Osteuropas, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen, Klagenfurter Straße 3, 28359 Bremen. E-Mail Link: schattenberg@uni-bremen.de