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Über die Krise - Essay | Nach dem Ende der Sowjetunion | bpb.de

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Über die Krise - Essay

Natalja Kljutscharjowa

/ 19 Minuten zu lesen

Im heutigen Russland ist eine Krise der Macht, der Verantwortung und der Menschlichkeit zu konstatieren. Aber es gibt Menschen, die sich der Gleichgültigkeit und dem Egoismus widersetzen.

Über die Krise - Essay

Natalja KljutscharjowaIch weiß nicht, warum in Europa so viel über die Krise geredet wird. Vielleicht erscheint sie vor dem Hintergrund allgemeinen Wohlstands tatsächlich als etwas, das Aufmerksamkeit verdient. Russland aber hat sogar im Laufe meines Lebens weit schwerere und schlimmere Krisen erlebt. Und ich rede nicht von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts, etwa davon, dass nach der Revolution ganze Dörfer verhungerten. Oder von den Repressalien, deren Opferzahlen die Verluste der UdSSR im Zweiten Weltkrieg übertrafen.

Ich erinnere mich an eine Zeit, da alles auf Marken verkauft wurde. Nicht nur Lebensmittel. Es gab zum Beispiel Marken für Socken, für Wäsche, sogar für Oberbekleidung. Pro Monat standen jedem 200 Gramm Oberbekleidung zu. In einem Jahr, in anderthalb Jahren hatte man so vielleicht einen Mantel zusammen. Ich erinnere mich an den Lebensmittelladen in unserer Nachbarschaft, in dem es nichts zu kaufen gab; die langen Ladentische waren vollgestapelt mit Seetangkonserven.

Ich erinnere mich, wie wir Kinder, wenn wir draußen spielten, regelmäßig nachschauen liefen, ob vor dem Laden eine Schlange stand. Wenn ja, rannten wir sofort hin. Die Frauen in der Schlange schrieben uns eine Nummer in die Handfläche, wir erkundigten uns, was es gab, und rannten nach Hause, um Geld und Marken zu holen. Stundenlang standen wir, einander abwechselnd, in diesen Schlangen, um am Ende ein Kilo ungenießbarer Zellulosewurst oder ein dürres bläuliches Huhn zu erstehen.

Auch an andere Schlangen erinnere ich mich - während der überraschenden Geldreform 1991, als man innerhalb von nur drei Tagen sämtliches Bargeld in neue Scheine umtauschen musste. Da standen vor allem ältere Menschen an, denn Ersparnisse besaßen zu jener Zeit nur alte Menschen, die Geld für ihre Beerdigung zurücklegten. Dieses "Beerdigungsgeld" wollten sie nun umtauschen. Die Alten wachten Tag und Nacht vor den Banken, manche starben in der Schlange. Die von der Regierung eingeräumte Frist von drei Tagen war von vornherein zu knapp bemessen. Viele schafften es nicht, ihr Geld umzutauschen, und waren plötzlich völlig verarmt. Einige Jahre später fuhr ich jeden Morgen auf dem Schulweg an einer Zeltstadt vorbei, in der Arbeiter des Motorenwerks campierten, die ein halbes Jahr lang keinen Lohn mehr bekommen hatten. Sie verbrachten den ganzen Herbst in diesen Zelten, um die Behörden auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Doch dann setzte Frost ein, und die Protestaktion endete von selbst; den ausstehenden Lohn erhielten die Arbeiter nie.

Armut ist in Russland keine Massenerscheinung mehr. In Abwandlung eines Ausspruchs der Königin aus "Alice im Wunderland" könnte man sagen: Wir haben schon ganz andere Krisen erlebt, dagegen ist diese hier eine reine Wohltat. Natürlich gibt es auch jetzt Entlassungen und Gehaltskürzungen. Aber das tut nicht ernsthaft weh. Dieser Prozess ähnelt dem Platzen einer Seifenblase. Der Verlust der Arbeit und der Zusammenbruch von Firmen trifft Manager und Firmen, deren Tätigkeit unnütz und illusionär war, eine Produktion von Leere. Und das finde ich eher gut als schlecht, weil unsere Gesellschaft dadurch gesünder und nüchterner werden könnte.

Ich will versuchen zu erklären, was ich meine. Dazu muss ich weit ausholen. Alle wichtigen Ideen, die das nationale Bewusstsein und den Gang der Geschichte in unserem Land bestimmt haben, hat Russland von außen übernommen. Doch einmal auf russischen Boden gelangt, verloren die philosophischen Konzeptionen den Charakter abstrakter Ideen und wurden (von den Führern, der Intelligenz oder dem ganzen Volk) als direkte Anleitung zum Handeln begriffen. Darin liegt etwas Religiöses, selbst wenn diese Ideen an sich antireligiös waren, wie der Marxismus. Die letzte Idee, die wir nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom Westen übernommen haben, ist die Konsum-"Philosophie", die den materiellen Wohlstand zu einem unumstößlichen Wert des Seins erklärt. Auf russischen Boden gelangt, wurde diese Idee sofort zum Idol, verwandelte sich vom menschlichen Wunsch nach einem Leben in Komfort in einen Kult des Geldes, des Reichtums und des schnellen Profits. Für die meisten Menschen im heutigen Russland bemisst sich der Sinn des Lebens in Dollar. Im Westen, scheint mir, ist die Konsumgesellschaft aus der protestantischen Ethik der Arbeit hervorgegangen, wo Verdienst und Arbeit in unmittelbarem Bezug zueinander stehen. In Russland dagegen traf die Ideologie des materiellen Wohlstands auf die in der Sowjetgesellschaft entstandene Abneigung gegen jegliche Arbeit, ja, deren Verachtung.

Der Geisteszustand der postsowjetischen Gesellschaft lässt sich mit dem unübersetzbaren Ausdruck chaljawa definieren, was so viel heißt wie "alles haben, ohne irgendetwas zu tun". Die Helden des Massenbewusstseins sind Oligarchen und Diebe, die sich nur durch das Ausmaß ihres Diebstahls voneinander unterscheiden. Fernsehen, Werbung, Popmusik und Boulevardpresse (für die überwiegende Mehrheit die einzige Lektüre) hypnotisieren das Bewusstsein rund um die Uhr mit Beispielen schicken Lebens. Die Massenmedien reichen überall hin, darum sind die Menschen überall verblendet von der Gier nach Reichtum - in Moskau ebenso wie im entlegensten Dorf.

Die Eltern vermitteln ihren Kindern keinerlei andere Werte mehr. Nach der Schule wollen fast alle Volks- oder Betriebswirt werden. Zuletzt gab das Bildungsministerium sogar eine offizielle Erklärung heraus: Besinnt euch, so viele Manager braucht das Land nicht! Doch das hat nicht geholfen. Auf den Arbeitsmarkt drängen jedes Jahr Armeen geldgieriger junger Menschen mit großem Appetit, gigantischer Faulheit und minimalen moralischen Hemmungen. Relativ lange, fast zehn Jahre lang, passte sich die Wirtschaft - vermutlich dank Öl und Gas - dieser Lawine an. Und Menschen in der vollen Blüte ihrer geistigen und körperlichen Kräfte bekamen Geld dafür, dass sie tagelang in Büros herumsaßen, Computerspiele spielten, in Chatrooms mit gleichgesinnten "Schwerarbeitern" plauderten und hin und wieder einen Bericht verfassten, um den Anschein von Arbeit zu erwecken. Real gearbeitet, also Häuser gebaut und die Straßen gekehrt, haben, so schien es, in dieser Zeit nur illegale Migranten aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die manchmal am helllichten Tag auf offener Straße von Neonazis erschlagen wurden. Aber das ist ein anderes Thema.

Die Krise hat vor allem das Kartenhaus des Büro-Müßiggangs einstürzen lassen. Ich finde, das war nützlich. Nicht nur, weil eine Vielzahl bezahlter Nichtstuer eine Art Krebsgeschwür der Wirtschaft sind. Nichtstun wirkt sich ebenso wie erzwungene Arbeit auf das Bewusstsein aus, auf den Geist, es tötet die menschliche Würde. Die Überproduktion von Managern hat noch einen weiteren Aspekt. Wer sein Leben nach dem Diktat gesellschaftlicher Klischees und Moden ausrichtet (der Managerberuf ist heutzutage Mode, im Gegensatz zum Arzt- oder Lehrerberuf), büßt die Fähigkeit zu selbstständigem Denken ein. Der übernimmt ohne zu überlegen eine von außen aufgezwungene Lebensstrategie; ob sie ihm gefällt oder nicht, ob er für diese Tätigkeit geeignet ist oder nicht. Etwas zu tun, das man liebt, Nutzen zu bringen, sein Talent zu realisieren, Freude und Befriedigung bei der Arbeit zu empfinden - das alles sind für die meisten meiner Landsleute altmodische Anachronismen. Wichtig ist nur eines: Geld zu verdienen.

Dabei kann sich der Mensch ungeachtet aller gesellschaftlichen Klischees nicht selbst betrügen. Wenn er sein Leben vergeudet, wird er zwangsläufig eine verborgene, alles vergiftende Wehmut empfinden - eine Wehmut des Unverwirklichten, der Vergeblichkeit, der Losgelöstheit von der eigenen Natur. Jemand hat vielleicht die Berufung, mit Kindern zu arbeiten, er wäre womöglich glücklich als Erzieher im Kindergarten. Oder seine Seele strebt zur Natur, und eine Arbeit als Förster wäre für ihn die Erfüllung. Stattdessen sitzt er tagelang in einem stickigen Büro und sagt wie ein Roboter immer wieder ins Telefon: "Unsere Firma möchte Ihnen folgende Produkte anbieten ..."

Nicht weniger zerstörerisch ist auch die massenhaft um sich greifende Besessenheit vom Kult des Reichtums. Ich fordere nicht dazu auf, ganz auf Geld zu verzichten, zur Naturalienwirtschaft überzugehen oder der Lebensweise indischer Yogis nachzueifern, die sich von Luft allein ernähren. Doch jede Idee, zum Absoluten erklärt, wird zum Gift, das sowohl die Menschheit wie auch jeden einzelnen Menschen vergiftet. Die Konsumidee ist da keine Ausnahme. Das russische Bewusstsein ist von seinem Wesen her radikal und utopisch. Darum streben die Menschen bei uns nicht einfach nach Wohlstand, sondern nach märchenhaftem, irrealem Reichtum. Das ist das Bild des Glücks, das die Massenmedien vermitteln. Die Regenbogenpresse wetteifert in der Beschreibung der Häuser von Popstars mit goldenen Klos und speziellen Autolifts, eigens dafür gedacht, dass man mit dem Auto bis ans Bett fahren kann. Wer nicht über die unermesslichen Schätze verfügt, die für das Glück unabdingbar sind, fühlt sich unglücklich. Obwohl es der Mehrheit bei uns, wie gesagt, heute weit besser geht als früher. Doch das reicht den Menschen nicht. Die Werbung weckt unersättliche Gier, zieht die Menschen in die üble Unendlichkeit des Konsums. Das alles schafft ein ungesundes psychologisches Klima. Passanten auf der Straße sind aggressiv, unfreundlich, düster, stets auf Konflikt aus. Zurückzustecken, wenn es irgendwie um Geld geht, und sei es eine noch so lächerliche Summe, ist absolut ausgeschlossen.

Ich werde nie vergessen, wie eine dicke Schaffnerin in einem Überlandbus eine alte Frau, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, mit obszönen Flüchen beschimpfte. Eine Fahrkarte kostete 20 Rubel (50 Eurocent). Doch die Frau glaubte allen Ernstes, dass der erträumte Palast mit den goldenen Kloschüsseln in noch weitere Ferne rücken würde, wenn sie jetzt Barmherzigkeit zeigte. Die ganze Fahrt über schrie sie, als ginge es um Leben und Tod. Dabei leben alte Menschen in Russland, besonders auf dem Land, in der Regel unterhalb der Armutsgrenze. Der Staat zahlt ihnen so geringe Renten, dass es nicht einmal für das Lebensnotwendigste reicht. Und für die Großmutter, die um eine kostenlose Fahrt zum Krankenhaus bat, waren 20 Rubel eine unerschwingliche Summe. Eigentlich war das Volk in Russland immer barmherziger als der Staat. Heute aber droht der Kult des Reichtums in den Herzen der Menschen die Barmherzigkeit zu übertönen, die sie selbst während des Stalin'schen Terrors bewahrt hatten. Ich lebe in einem Dorf bei Moskau. Laut Gesetz müssen die Fahrer von Minibussen alte Menschen zum halben Preis befördern. Um sich davor zu drücken und zehn Rubel zu sparen (25 Eurocent), haben alle Fahrer die unterste Einstiegsstufe abgebrochen, und nun können nur noch junge, gesunde Menschen den Bus benutzen, denen man keinen Preisnachlass gewähren muss.

Aggressiv reagieren die Menschen nicht nur auf geringfügige, auch eingebildete, Angriffe auf ihre Einnahmen. Echten, unverhüllten Hass wecken Menschen (eine Minderheit), die anders leben, sich nicht dem Kult des Geldes unterwerfen. Versucht jemand in der oben beschriebenen Situation, die Fahrkarte für die alte Frau zu bezahlen, richtet sich die Wut der Schaffnerin nun gegen ihn. Und zwar mit doppelter Macht. "Diese Reichen! Werfen mit Geld um sich! Wieso fahren sie Bus, sollen sie doch Auto fahren!"

Doch das ist eher eine anekdotische Begebenheit. Hier nun ein wirklich schlimmes Beispiel: In Moskau arbeitet die Ärztin Jelisaweta Glinka, Doktor Lisa, wie sie genannt wird. Sie fährt jede Woche auf den Bahnhof, um Obdachlose medizinisch zu versorgen. Anders als in Europa ist das Sozialsystem in Russland in einem embryonalen Zustand. Möglich, dass Obdachlosen laut Gesetz eine medizinische Versorgung zusteht, real aber ist es für diese Menschen unmöglich, in ein Krankenhaus zu kommen. Also geht Doktor Lisa zu ihnen, um zu helfen. Freiwillig. Weil sie nicht anders kann. Und dafür trifft sie ungebremster Hass. Natürlich nicht von Seiten der Obdachlosen, sondern von Seiten gut situierter Bürger, die in der Zeitung von Doktor Lisa lesen und ihre Ruhe einbüßen. Weil ihnen hier ein ganz anderes Verhaltensmodell gezeigt wird, eines, das nicht auf Nehmen gerichtet ist, sondern auf Geben. Und das ist für viele eine unerhörte Provokation, gegen die sie sich mit aller Kraft schützen, bewahren wollen. Doktor Lisa bekommt jeden Tag anonyme SMS mit Drohungen und Beschimpfungen. Obwohl sie ihr Verhalten nicht propagiert, niemandem Vorwürfe macht, nicht dazu aufruft, ihr zu folgen, sondern einfach nur tut, was sie tut.

Oligarchen hingegen, von denen jeder Dorftrunkenbold weiß, dass sie ihren Reichtum kaum auf redliche Weise erworben haben, wecken bei niemandem Hass. Sie werden bewundert, bestaunt, ja, sogar verehrt. Der Kult des Geldes verwischt die Hierarchie der moralischen Werte, Reichtum macht den Menschen zum unantastbaren Himmelsbewohner, für den die allgemeinen Normen von Recht und Gewissen nicht gelten.

Einen Beitrag zur allgemeinen Passivität und Trägheit leistet nach wie vor das russische Schulwesen; ein zu umfassendes Thema, um hier detailliert darauf einzugehen. Beschränken wir uns deshalb auf einen naheliegenden Aspekt: den Literaturunterricht. Der Lehrplan in diesem Fach beruht zu 90 Prozent auf der russischen Prosa des 19. Jahrhunderts und wird vermittelt wie zu Sowjetzeiten, unter dem Aspekt des sozialen Determinismus. Das ist ein sehr bequemer Standpunkt. So lassen sich beliebige, auch die ungeheuerlichsten Taten mit gesellschaftlichem Druck begründen. Raskolnikow zum Beispiel erschlug die Alte, weil er nichts zu essen und kein Geld für die Miete hatte, das heißt, nicht er ist Schuld, sondern das abnorme soziale Milieu, die wirtschaftlichen Bedingungen, die Gesellschaftsordnung. Im Rahmen der kommunistischen Propaganda war eine solche Interpretation durchaus logisch. An literarischen Beispielen wurde den Kindern erklärt, dass früher, vor der Revolution, alles schlecht gewesen, jetzt hingegen alles gut sei und noch besser werden würde.

Die Sowjetunion ist längst zusammengebrochen, doch die Literatur wird noch immer auf diese Weise vermittelt. In den Schulen arbeiten ja vor allem ältere Frauen, die weiter so unterrichten, wie sie selbst es einmal gelernt haben. Die ideologische Komponente des sozialen Determinismus ist weggefallen, geblieben ist als nüchterner Bodensatz eine höchst bequeme Idee: Der Mensch ist nicht für sein Handeln verantwortlich, an allem ist die Umgebung schuld. Das ist eine generelle Eigenschaft des Menschen - die Schuld auf andere zu schieben. Und es ist Sache der Erziehung, diese natürliche Neigung nicht zu fördern, sondern ihr entgegenzuwirken, das Kind ständig an seine persönliche Verantwortung zu erinnern. Bei uns aber geschieht genau das Gegenteil.

Die Stagnation des Schulwesens ist nur eine von vielen Ursachen für die totale Verantwortungslosigkeit in der heutigen russischen Gesellschaft. Bei älteren Menschen spielt hier natürlich ihre sowjetische Vergangenheit eine Rolle, denn in der UdSSR gab es keine persönliche Verantwortung, nur eine kollektive, und wenn alle verantwortlich sind, ist letztendlich niemand verantwortlich. Kaum jemand in Russland fühlt sich verantwortlich für das, was im Land vorgeht. Schuld sind immer andere: die Regierung, die Abgeordneten, die Amerikaner, die illegalen Migranten, die Nachbarn, die eigene Familie. Im Massenbewusstsein wirkt noch immer die von der sowjetischen Ideologie in Gang gesetzte Mechanik der Suche nach einem äußeren Feind fort. Es fehlt die Erkenntnis, dass man selbst versuchen kann, eine Situation, die einem nicht gefällt, zu ändern. Nicht zu warten, bis jemand anders das erledigt, sondern selbst zu handeln. Selbst wenn es nicht zu deinen unmittelbaren Pflichten gehört.

Ein anschauliches Beispiel. Ein gebildeter Mann beklagte sich bei mir lange und wütend über seine Nachbarn, die während der Renovierung ihren Müll einfach vor die Haustür warfen (auch das ein charakteristischer Zug der sowjetischen Mentalität). Seit Monaten vergifte dieser Bretterhaufen ihm das Leben. Jeden Tag empfinde er echte Qualen, wenn er daran vorbeigehe. Ich deutete vorsichtig an, wenn ihn dieser Müll so sehr störe, könne er ihn doch einfach wegräumen, statt sich weiter nervlich zu zermürben. Er war aufrichtig erstaunt: "Warum soll ich etwas wegräumen, das ich nicht hingeworfen habe? Die müssen das wegräumen!" - "Aber es ist doch offensichtlich, dass sie das nicht tun werden. Sie stört der Haufen nicht. Er stört dich. Und du könntest diese traumatische Situation, die dich schon Monate deines Lebens gekostet hat, binnen einer halben Stunde beseitigen." Der intelligente Mann verstand nicht, wovon ich redete, und war sogar beleidigt. Der Müllhaufen liegt noch immer vor seiner Haustür, und er tut nichts anderes mehr, als Beschwerden zu schreiben und der Stadtverwaltung die Türen einzurennen, um zu erreichen, dass irgendjemand den Müll beseitigt.

Selbst da, wo man etwas ändern könnte, bleiben die Menschen passiv und warten, dass ein anderer etwas tut. Andererseits ist in Russland alles auf die Unterdrückung privater Initiativen gerichtet. Deshalb geben selbst die wenigen, die aus eigener Kraft etwas unternehmen wollen, oft auf. Der Staat hat aktive Einzelkämpfer nie gefördert. Doch in den 1990er Jahren hat er sie zumindest nicht behindert. Und die Menschen erwachten gleichsam. Es entstanden gesellschaftliche Organisationen, die versuchten, ohne auf die Gnade des Staates zu warten, auf unterster Ebene die schlimmsten sozialen Probleme zu lindern, Waisen, Behinderten, alleinstehenden alten Menschen und Flüchtlingen zu helfen.

Ich arbeite bei einer Zeitung. Diese Arbeit macht mir immer weniger Freude. Denn in den vergangenen Jahren muss ich nur noch darüber schreiben, wie staatliche Beamte private Initiativen unterdrücken, wie sie zielgerichtet zerstören, was erfolgreich funktionierte und den Menschen half. Anders als in Europa hat die Presse in Russland keinerlei Einfluss auf das gesellschaftliche Leben. Ein Beamter, der in der Zeitung kritisiert wird, tut trotzdem seelenruhig weiter das, wofür er kritisiert wurde. Darum können Journalisten die Vernichtung privater Initiativen lediglich konstatieren, sie aber nicht stoppen. Auch direkte Einmischung bleibt nutzlos: offizielle Anfragen, Proteste, Briefe an den Präsidenten mit Hunderten oder Tausenden Unterschriften. Europäische Mechanismen der Einflussnahme der Zivilgesellschaft auf den Staat sind in Russland wirkungslos.

Das Ergebnis ist, dass engagierte, aktive, professionelle Menschen, die auf eigene Initiative etwas Notwendiges taten, heute nicht weiterarbeiten können. Ihre Erfahrungen, ihr Wissen und ihr leidenschaftlicher Wunsch zu helfen bleiben ungenutzt. Viele von ihnen verzweifeln, verlieren den Glauben an sich, an die Möglichkeit, etwas zu tun. Schließlich wurde das, was sie in jahrelanger mühevoller Arbeit aufgebaut hatten, mit einem einzigen Federstrich zerstört. Nur sehr starke und mutige Menschen verkraften einen solchen Schlag, zumal die Unterdrückung privater Initiativen nicht Zufall oder Dummheit ist, sondern bewusste und gezielte staatliche Politik. In allen Bereichen werden Profis durch offenkundige Nichtprofis ersetzt, durch vom Staat ernannte Karrieristen. Alles, was sie können, ist, vor der Kamera posieren und schöne Worte sagen, die den Anschein eifriger Tätigkeit erwecken. Dafür sind sie fügsam und dadurch äußerst bequem.

Zum Beispiel hat der Präsident Alexej Golowan vom Posten des Kinder-Ombudsmannes der Föderation entbunden - einen Mann, der sich seit 20 Jahren um den Kinderschutz kümmerte, den das ganze Land kannte und liebte, Beamte aller Ebenen hingegen hassten und fürchteten. An seiner Stelle wurde ein populärer Fernsehmoderator ernannt, der noch nie im Leben etwas mit Kinderschutz zu tun hatte. Dafür ist er der Gründer und Leiter der treuen Untertanen-Bewegung "Für Putin". Die Logik dahinter kann ich nicht erkennen. Mir scheint überhaupt, wenn man versucht, hinter dem Handeln des russischen Staates eine Logik zu suchen, kann man leicht den Verstand verlieren, denn es gibt keine, alles ist undurchschaubar und unausweichlich absurd wie in den Werken von Franz Kafka.

Möglicherweise hat die Unterdrückung privater Initiativen mit dem Wunsch des Staates nach totaler Kontrolle zu tun, der die relative Freiheit der 1990er Jahre abgelöst hat. Hinter diesem Wunsch steht womöglich ein Minderwertigkeitskomplex, die Unsicherheit und Angst hoch gestellter Beamter, die im Grunde ihres Herzens wissen, dass sie nicht auf ihren Posten gehören. Doch das heutige Leben in Russland ist ja generell so seltsam und unklug eingerichtet, dass viele Menschen auf dem falschen Posten sitzen.

Die Krise der Verantwortung, von der ich bereits sprach, betrifft natürlich auch die Staatsmacht. Menschen, die in die führende Klasse streben, begreifen die Macht als Freifahrtschein, als ein "alles ist erlaubt", als einen Garant für Ruhm und unbegrenzten Zugang zu Finanzströmen. Kaum jemand begreift Macht als Verantwortung. Darum verhalten sich Menschen, die an die Spitze gelangt sind, wie Übergangsherrscher, wie Usurpatoren, deren Ziel nur darin besteht, ein möglichst großes Stück vom Kuchen zu bekommen und dann rasch wegzulaufen, damit es ihnen nicht wieder abgenommen wird. Sie denken nicht an die Zukunft, sie können oder wollen auch die allernächsten Folgen ihrer Handlungen nicht vorhersehen.

Nehmen wir einen Teilaspekt, das Verhältnis zu den nationalen Ressourcen. Es ist ganz offensichtlich, dass parallel zur Ausbeute die Erforschung neuer Lagerstätten erfolgen muss. Doch laut Aussagen von Geologen wird schon seit Jahren in Russland nur ausgebeutet. Das einzige Unternehmen, das auch geologische Erkundungen betrieb, war Michail Chodorkowskis "Jukos". Es hat den Anschein, als wollten alle übrigen einfach nicht lange in diesem Land bleiben, weshalb es sie kein bisschen kümmert, was wird, wenn die jetzigen Lagerstätten erschöpft sind. Hauptsache, für sie reicht es.

Ein weiteres Beispiel für derartige Verantwortungslosigkeit sind die Monostädte, künstlich geschaffene Ansiedlungen um ein einziges Werk oder eine einzige Grube. Ist der Betrieb pleite oder schließt, geht die Kohle in der Grube zu Ende, sind fast alle Einwohner der Monostädte ohne Arbeit. Der Staat unternimmt nichts, um ihnen zu helfen. Er überlässt sie der Willkür des Schicksals. Wie die Menschen an solchen Orten überleben, ist Soziologen ein Rätsel. Fortgehen können sie nicht, weil sie kein Geld haben, um in einer anderen Stadt eine Wohnung zu kaufen oder zu mieten. Dieses Problem hat sich verschärft, weil es den Oligarchen, denen die wichtigsten Produktionszweige gehören, wegen der Finanzkrise schlechter geht. Im Frühsommer blockierten Einwohner der Stadt Pikalewo im Leningrader Gebiet, die im örtlichen Zementwerk arbeiteten, die Bundesstraße. Das Werk war bankrott, und über 20.000 Menschen waren ihrer Existenzgrundlage beraubt. Der Premierminister nutzte die Situation in Pikalewo für eine PR-Aktion. Er fuhr persönlich zu den Menschen, die die Straße blockierten, schrie den Oligarchen, dem das bankrotte Zementwerk gehörte, öffentlich an, und bald darauf wurde die Produktion wieder aufgenommen, die Arbeiter bekamen sogar den noch ausstehenden Lohn ausgezahlt. Doch als die Spannungen sich gelegt hatten und die Situation in Vergessenheit geraten war, wurde in der Staatsduma in aller Stille ein Gesetzentwurf eingebracht, der die Blockade von Fernstraßen verbietet. Ein solches Vergehen soll nun eine Geldstrafe vorsehen, die dem Jahreseinkommen eines durchschnittlichen Bürgers in Russland entspricht, oder zwei Jahre Gefängnis für die Protestierenden.

Auch der Oligarch, den der Premierminister öffentlich angeschrien hatte, ging nicht leer aus. Ihm gehört das berüchtigte Zellulosekombinat am Baikal, dessen giftige Abwässer den See und den Boden in einem Umkreis von mehreren Kilometern vergiften. Umweltschützer und gesellschaftliche Aktivisten kämpfen seit Beginn der 1980er Jahre gegen diesen Betrieb. Viel Kraft investierte auch der russische Schriftsteller Valentin Rasputin in diesen Kampf. Und - o Wunder! - 2008 wurde das Zellulosekombinat endlich geschlossen. Doch im Januar dieses Jahres erlaubte der Premierminister dem gekränkten Oligarchen, den Baikal erneut mit Industrieabwässern zu verseuchen, das Werk nahm seine Arbeit wieder auf. Innerhalb von zwei Wochen nach diesem Beschluss unterschrieben rund 18.000 Menschen den Protest gegen die Wiederinbetriebnahme des Kombinats. Doch das führte lediglich dazu, dass die Miliz das Büro der Umweltorganisation durchsuchte, die sich für die Erhaltung des Baikalsees einsetzt. Sämtliche Computer wurden beschlagnahmt, die Website mit der Unterschriftensammlung für eine Petition an den Präsidenten wurde gesperrt. Derartigen Geschichten begegnet man auf Schritt und T ritt. Mitunter scheint es, als gebe es keinerlei Hoffnung. Aber das stimmt nicht. Wenn gesellschaftlicher Widerstand unmöglich wird, bleibt immer noch der private Widerstand - auf der Ebene der Familie oder des Einzelnen. Dabei rede ich nicht von irgendwelchen Aktionen gegen den gewissenlosen Staat oder die gedankenlose Mehrheit. Mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen ist unsinnige Kraftverschwendung. Ich rede davon, anders zu leben, menschlich, durch sein eigenes Leben ein Gegengewicht gegen die allgemeine Gedankenlosigkeit, die Gier und Bösartigkeit zu schaffen. Viele Menschen wagen nicht, so zu handeln, nicht einmal im privaten Bereich, weil sie überzeugt sind, dass es im Leben nur zwei Möglichkeiten gibt: fressen oder gefressen werden. Aber das ist nicht wahr. In jeder Situation gibt es eine Möglichkeit, zwischen Scylla und Charybdis durchzuschlüpfen und in freies Gebiet zu gelangen, wo niemand niemanden auffrisst.

Vor einiger Zeit habe ich die Erinnerungen von Alexander Gesalow gelesen, eines Zöglings einer staatlichen Einrichtung für Waisenkinder. Das sind in Russland schreckliche Orte, einer Kaserne oder einem Gefängnis ähnlich, die die Psyche eines Kindes unwiederbringlich deformieren. Der Autor beschreibt die Hackordnung im Kinderheim: Stets schlugen die Älteren die Jüngeren und ließen sie für sich arbeiten. Dann wuchsen die Jüngeren heran und gaben die erlittenen Demütigungen und Kränkungen an die nächste Generation weiter. Das wiederholte sich Jahr für Jahr. Und plötzlich bekam dieses bewährte System einen Knacks. Gesalow schreibt, dass er sich gleich zu Anfang, als er in diesen ausweglosen Kreislauf sich selbst reproduzierender Gewalt geraten war, das Versprechen gegeben habe, niemals Jüngere zu quälen und zu tyrannisieren. Und er hielt sein Versprechen, trotz gewaltiger Widerstände der Umgebung. Heute ist Gesalow erwachsen. Eigenhändig hat er im Norden Russlands drei Kirchen gebaut. In seiner Stadt hilft er, so scheint es, allen Unglücklichen und Einsamen. Obdachlosen Kindern, jugendlichen Strafgefangenen, minderjährigen Müttern, Babys, die von ihren Müttern schon auf der Entbindungsstation verlassen wurden. Alles Geld, das er verdient, verteilt er umgehend an Bedürftige.

Oder die Geschichte von Antonina Makarowa, früher einmal Stadtführerin, die in der alten russischen Stadt Susdal lebt. Inzwischen ist sie über achtzig. Ihre Rente reicht, wie die aller russischen Rentner, gerade mal für die Miete. Doch Oma Tonja, wie sie hier genannt wird, beklagt sich nicht. Sie fertigt Filzstiefel und verkauft sie an Touristen - jeder zahlt, was er für angemessen hält. Das gesamte Geld gibt sie den Waisenhäusern der Umgebung. In einem davon finanzierte sie eine neue Heizung, weil die alte kaputt war. Für ein anderes Waisenhaus, in dem gehörlose Kinder leben, kaufte Oma Tonja moderne medizinische Geräte. Allen Kindern macht sie Geschenke zum Geburtstag und zu Feiertagen, und den Pflegerinnen, die vom Staat miserabel entlohnt werden, zahlt sie Prämien. Ich habe diese Oma mit eigenen Augen gesehen. Es herrschte strenger Frost am russischen Weihnachtsfest. Sie stand mit ihren Filzstiefeln auf der Straße und weinte. "Warum weinen Sie?", fragte ich. "Ich möchte alle Tränen auf dieser Welt weinen, damit für euch keine mehr übrig sind", sagte Oma Tonja lächelnd und hörte nicht auf zu weinen.

Wir können also eine Krise der Macht konstatieren, eine Krise der privaten Initiative, eine Krise der Verantwortung und eine Krise der elementaren Menschlichkeit. Das alles gibt es im heutigen Russland. Aber andererseits gibt es bei uns auch Oma Tonja, Alexander Gesalow, Doktor Lisa und viele andere gute Menschen, die sich der Gleichgültigkeit und dem allumfassenden Egoismus widersetzen. Es gibt also Hoffnung. Ich sehe meine Aufgabe darin, solche unauffälligen Helden zu finden und von ihnen zu erzählen, um den Menschen, die an mangelnder Güte und Liebe leiden, ein Stück nicht erfundener Hoffnung zu geben, und sei sie noch so klein.

Geb. 1981; Schriftstellerin und Journalistin, Moskau/Russland; c/o Literary Agency Galina Dursthoff, Marsiliusstraße 70, 50937 Köln. E-Mail Link: galina@dursthoff.de