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Von Gorbatschow zu Medwedew: Wiederkehr des starken Staates | Nach dem Ende der Sowjetunion | bpb.de

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Von Gorbatschow zu Medwedew: Wiederkehr des starken Staates

Manfred Hildermeier

/ 17 Minuten zu lesen

In Russland ist der autoritäre Zentralstaat zurück. Demokratie und Föderalismus blühten auf, als die "imperiale" Gesamtgewalt zusammenbrach. Diese Freiheiten wurden von der Zentrale als dysfunktionale Eigensucht wahrgenommen.

Einleitung

Längst steht außer Frage, dass Michail Gorbatschow in die Geschichte eingehen wird. Nur geschieht das sicher aus anderen Gründen und mit anderen Kommentaren, als er wollte. Die Bilanz seines Wirkens ist nicht umstritten. Allenfalls bleibt kontrovers, ob er und mit ihm die Sowjetunion eher Opfer der Wirtschaftskrise wurde, die ihren Höhepunkt im Winter 1989/90 erreichte, oder ob ihm vor allem die Unabhängigkeitsbewegungen zum Verhängnis wurden, die sich im Vorfeld der ersten freien Wahlen in der Sowjetunion überhaupt seit Frühjahr 1989 in fast allen Republiken bildeten und schnell zur stärksten Kraft heranwuchsen.

Abgesehen davon liegt recht klar zutage, wie sich Soll und Haben verteilten. Gorbatschow erkannte als erster faktischer Staatschef der Sowjetunion, dass der schweren Wirtschaftskrise - das Wachstum tendierte schon Ende der 1970er Jahre gegen Null - mit Teilreformen, wie man sie seit den Zeiten Nikita Chruschtschows mehrfach unternommen hatte, nicht beizukommen war. Sie mussten bloße Kosmetik bleiben, weil sie nur an Stellschrauben des Plansystems, an Preisen, Löhnen und Produktionsziffern drehten. Gorbatschow verortete das Kernübel zu Recht in der mangelnden Motivation und trägen Routine der Gesellschaft insgesamt. Wer die Wirtschaft aufrichten wollte, musste ein Mindestmaß an Eigeninteresse und öffentlicher Bewegungsfähigkeit zulassen; ein agiler homo oeconomicus schien ohne ein Minimum an geistiger Freiheit und politischer Artikulationsmöglichkeit nicht denkbar. In dieser Einsicht hatte die neue (nach wie vor begrenzte) Freiheit des Wortes, die glasnost' (wörtlich: Transparenz), ebenso ihren Ursprung wie die säkulare Entscheidung vom Juni 1988, einen Volksdeputiertenkongress einzuberufen und dessen Abgeordnete (teilweise) in freier Wahl bestimmen zu lassen. Zugleich gab sich Gorbatschow alle Mühe, die Sowjetunion von der Last ihrer Weltmachtrolle, von den untragbar gewordenen Kosten des Wettrüstens und der Stationierung großer Armeen in Osteuropa, zu befreien. Darin lag das Hauptmotiv für die Entspannungspolitik, die er schon bald nach seinem Amtsantritt im März 1985 auf den Weg brachte.

Doch damit ist die Erfolgsliste des Generalsekretärs, der angetreten war, die Sowjetunion aus dem sklerotischen "Stillstand" der Breschnew-Ära herauszuführen, auch schon erschöpft. Neue Strukturen hat er nicht schaffen können. Der Versuch, das Fundament seiner Macht von der Partei, die sich in fortgeschrittener Auflösung befand, auf den Staat zu verlagern, blieb halbherzig; Gorbatschow scheute das Risiko einer Direktwahl, die ihm unbestreitbare Legitimation und Autorität hätte verleihen können. Gegen die starken Sezessionstendenzen in den Republiken fand er kein wirksames Mittel. Und eine Entscheidung in der Kern- und Überlebensfrage: über die künftige wirtschaftliche Verfassung des "umgebauten" Staates, schob er mehrfach auf - so lange, bis sie ihm durch den Putsch vom August 1991 aus der Hand genommen wurde. Den Rubikon zwischen Sozialismus und Marktwirtschaft wollte Gorbatschow nicht überschreiten. Er hatte die alte Ordnung so weit verändert, dass sie nicht mehr funktionierte, erst recht nicht nach dem Austritt lebenswichtiger Republiken (der baltischen ebenso wie der Ukraine) aus der Union; aber es fehlte ihm an Entschlusskraft, eine neue an ihre Stelle zu setzen. Er war eher ein "Zerstörer" des Systems als "Erbauer" eines neuen.

Jelzins Bilanz

Letztlich gilt dies auch für seinen faktischen Nachfolger Boris Jelzin, der die Geschicke der Russischen Föderation als wichtigstem Erbstaat (auch im völkerrechtlichen Sinn) bis zum Jahrtausendwechsel lenkte. Dabei begann dessen Ära ganz anders. Im Rückblick tritt klarer zutage, als dies wohl die meisten Zeitgenossen gesehen haben, dass Russland und die Welt vor allem ihm das Entscheidende zu verdanken haben: den alles in allem friedlichen Übergang zu einem neuen, grundsätzlich demokratischen, durch eine geschriebene Verfassung regulierten Regime, dessen Führungspersonal für festgelegte Amtsperioden mit einigermaßen klar definierten Kompetenzen durch Wahlen bestimmt wird. Es ist niemand anderes zu erkennen, der über die Autorität und das nötige Durchsetzungsvermögen verfügt hätte, um diesen Kraftakt zu bewältigen. Jelzin stützte sich auf eben jene neuartige Legitimation, auf die Gorbatschow im Frühjahr 1990 verzichtet hatte, weil er sich seines Sieges nicht mehr sicher sein konnte: auf seine direkte Wahl zum Präsidenten der Russischen Föderation, des Kernstaates der in Auflösung begriffenen Union, am 12. Juni 1991 (während sich Gorbatschow noch nach altsowjetischer Art indirekt hatte wählen lassen). Kein stärkeres Mandat war denkbar als diese "basisdemokratische" Übertragung von Vertrauen und Macht. Sie bildete die Voraussetzung für jenen Sprung auf den Panzer vor dem "Weißen Haus" (dem russischen Parlament) am 19. August, von dem aus er zum Widerstand gegen den dilettantischen Putsch sowjettreuer Regierungsmitglieder gegen Gorbatschow aufrief. Das Bild dieser Szene ging um die Welt; sie machte ihn endgültig zu einer charismatischen Leitfigur, der man zutraute, Russland zu neuen Ufern zu führen.

Jelzin hat diese Rolle angenommen. Die beiden folgenden Jahre markieren den Höhepunkt seines politischen Wirkens. In dieser Zeit zwischen dem Putsch vom August 1991 und der Erstürmung des "Weißen Hauses" durch die präsidialen Truppen Anfang Oktober 1993, die als Phase des Übergangs von der sowjetischen Einparteiendiktatur zur neuen Demokratie gelten kann, hat Jelzin nicht nur nationale, sondern auch Weltgeschichte geschrieben. Sie fand ihren Abschluss in der Annahme einer Verfassung und den ersten Parlamentswahlen auf ihrer Grundlage am 12. Dezember. Bei allen Änderungen dieser Vorgaben - etwa der Zusammensetzung der zweiten Parlamentskammer, des Föderationsrates, und allen schwerwiegenden Defiziten der Demokratie, von denen noch die Rede sein wird, verdient der Umstand gleiche Beachtung, dass sie nicht wieder aufgehoben wurde. Vielmehr erreichte sie eine solche Unantastbarkeit und Verbindlichkeit, dass sich selbst Putin fügte und sich nach Ablauf seiner maximalen Amtszeit temporär zurückzog, statt sie zu seinen Gunsten zu ändern.

Damit endet indes die Liste der konstruktiven Leistungen in Jelzins Bilanz. Was danach kam bzw. nur deutlicher wurde, weil seine Wurzeln schon in die Anfangsjahre zurückreichten, gibt allen Anlass zur Kritik. Dabei urteilte man im Westen meist gnädig, kopfschüttelnd, aber nachsichtig, weil Jelzin das Tor nach Europa weiter aufstieß und man ihm deshalb ähnlich gewogen war wie zuvor Gorbatschow. Die eigene Bevölkerung sah das jedoch zunehmend anders und wandte sich vom einstigen Helden ab. Sie hatte die Folgen seiner Politik zu tragen, sowohl unvermeidlicher Härten - darüber wird gestritten - als auch offenkundiger Missgriffe und Defekte, die zunahmen. Am schlimmsten traf sie die Bank- und Währungskrise 1998, welche die Geldvermögen drastisch schrumpfen ließ, viele um ihre Ersparnisse und angesichts ausbleibender Löhne und Gehälter an den Rand der Armut brachte. Der Absturz wirkte wie ein Schock und kostete Jelzin die Reste seiner Popularität.

Im Einzelnen hat man ihm vor allem vier Fehlentwicklungen angekreidet.

(1) Jelzin wäre nicht der dickschädelige Machtpolitiker gewesen, der er war, wenn er die herausgehobene, singuläre Position, die ihm nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland zufiel, gleich wieder geräumt hätte. Stattdessen tat er das Gegenteil und schnitt die Kompetenzverteilung zwischen den Organen des neuen Staates nach seinen Bedürfnissen zu. Die Verfassung, die er im schließlich gewaltsam ausgetragenen Konflikt mit dem Obersten Sowjet (alter Art) der Russischen Föderation (dem "Weißen Haus") ausarbeiten ließ, räumte dem Präsidenten eine überaus starke, konkurrenzlose Stellung ein. Häufig hat man darauf hingewiesen, dass sie die gaullistische Präsidialverfassung der V. Republik in Frankreich zum Vorbild nahm. So richtig die Analogie sein mag, sie bleibt formal. Denn die Duma, die trotz beschränkter Rechte theoretisch ein Gegengewicht zur Exekutive hätte bilden können, hat diese auch in ihren Anfangsjahren, als es noch oppositionelle Parteien gab und Meinungsgegensätze offen ausgetragen wurden, nie ausfüllen können. Es gab in Russland - anders als in der Tschechoslowakei oder Polen - keine pluralistische politische Tradition, an die man hätte anknüpfen können; die konstitutionalistischen Jahre des ausgehenden Zarenreichs (1905-1914) waren dafür zu kurz und lagen zu lange zurück. So aber setzte Jelzin, zugespitzt gesagt, fort, was er kannte. Er konzentrierte nicht nur alle Macht an der Staatsspitze, sondern schuf darüber hinaus eine Präsidialverwaltung, die zu einer zweiten Regierung wurde und bald größer war als der alte ZK-Apparat, dem sie strukturell auf frappierende Weise ähnelte.

(2) Dazu passte, dass Jelzin einen ausgesprochen selbstherrlichen Herrschaftsstil entwickelte. Die ironische Rede vom "Zaren Boris" besaß einen wahren Kern. Angesichts vieler Fraktionen und divergierender Interesse auch in seiner unmittelbaren Umgebung griff er zur bewährten Strategie des divide et impera. Er ließ seine Entourage streiten und sicherte seine Autorität durch intensiven, oft abrupten Personaltausch. Die Amtszeit der meisten Ministerpräsidenten - mit der Ausnahme von Viktor Tschernomyrdin - war kurz; in seinen beiden letzten Amtsjahren (1998-2000) "verbrauchte" er fünf Ministerpräsidenten, und manch einen zauberte er aus dem Hut wie Trickkünstler Kaninchen. Solch bizarre Unberechenbarkeit ignorierte nicht nur die gerade in Russland dringende Notwendigkeit, die junge Demokratie zu hegen und eine politische Kultur zu entwickeln, die geeignet war, sie zu verstetigen. Sie bewirkte sogar das Gegenteil. Indem Jelzin sich über das Tagesgeschäft erhob, öffnete er seinem Apparat großen Spielraum; indem er der oppositionellen Duma keinen Stich ließ, schwächte er eben jene Einrichtung, die der Übermacht des Präsidenten hätte Paroli bieten sollen. Zwar konnte er einen erheblichen Situationszwang für sich in Anspruch nehmen. Zweifellos steckte er in einer Zwickmühle, weil die Kommunistische Partei Russlands und die rechtsradikalen "Liberaldemokraten" (Wladimir Schirinowskis) in der Duma mit einem Stimmenanteil von 12,4 bzw. 22,9 Prozent den Ton angaben. Aber das Resultat der Missachtung blieb dasselbe: Die Macht lag im neuen Russland beim Präsidenten, nicht beim Parlament.

(3) Was Gorbatschow versäumt hatte, holte Jelzin allzu schnell nach. Die Marktwirtschaft kam von einem Monat auf den anderen in Gestalt der neoliberalen Lehre US-amerikanischer Prägung. Die rasche Privatisierung durch Ausgabe von Anteilscheinen an den Staatsbetrieben an jeden volljährigen Bürger, gleichsam die Rückerstattung des Volksvermögens an seine eigentlichen Besitzer, mochte gut gemeint gewesen sein. Nur hatte sie die vorhersehbare Folge, dass einige wenige mit diesen Aktien mehr anfangen konnten als die meisten anderen, weil sie ihren tatsächlichen Wert und überhaupt die Chance der Stunde Null erkannten und weil sie (woher auch immer) über Geld verfügten, das sie in die Lage versetzte, armen Ahnungslosen die vermeintlich nutzlosen Papier-Coupons abzukaufen. So entstanden in wenigen Jahren märchenhafte Vermögen und jene winzige, aber einflussreiche Schicht, für die man flugs die Bezeichnung "Oligarchen" prägte. Kaum zufällig fanden sich darunter besonders viele ehemalige "rote Direktoren". Sie konnten das Potential der privatisierten Unternehmen am besten einschätzen und wussten, was auf dem Weltmarkt begehrt war. Die "Eunuchen", wie man plastisch formuliert hat, kamen endlich an die begehrten Fleischtöpfe, die ihnen der Sozialismus vorenthalten hatte. Bei alledem ging die große Mehrheit der Bevölkerung nicht nur leer aus. Sie musste darüber hinaus die Kosten der Preisfreigabe und der Aufgabe des Bestandsschutzes für unrentable Betriebe tragen. An soziale Absicherung dachten die liberalen Ökonomen nicht. Für die Masse der Bevölkerung kam die Marktwirtschaft als Schock. Sie brachte wohl Freiheit, aber auch Verarmung keine günstige Voraussetzung für eine belastbare Zustimmung zur neuen Demokratie.

(4) Jelzin duldete nicht nur, dass sich einige wenige den Löwenanteil des ehemaligen Staatsvermögens unter den Nagel rissen; er ging auch ein regelrechtes Bündnis mit diesen Neureichen ein. Dafür hatte er ebenfalls verständliche Gründe. Denn die Härte des Übergangs erzeugte so viel nostalgische Sympathie für die Anwälte der alten Ordnung, dass er um seine Wiederwahl bangen musste. Ob sein Gegenkandidat, der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Gennadi Sjuganow, tatsächlich realistische Chancen hatte, gewählt zu werden, mag man bezweifeln. In jedem Fall versicherte sich Jelzin der Unterstützung der Superreichen. Auf Auktionen ging im Vorfeld der Wahl vom Juni 1996 weiterer Staatsbesitz, namentlich Erdölfelder und sonstige Rohstofflagerstätten jenseits des Ural, zu Spottpreisen (in Relation zum tatsächlichen Wert) in private Hände über. Damit wurde eine Allianz immer sichtbarer, die ebenfalls wenig geeignet war, die Masse der Bevölkerung für die neue Ordnung zu gewinnen. Im Gegenteil, sie bestätigte die antikapitalistischen Ressentiments geradezu, die das alte Regime zur Ideologie erhoben hatte.

Hinzu kam, dass Jelzin nun auch physisch erkennbar abbaute. Sein Alkoholproblem war seit langem bekannt. Kurz nach seiner Wiederwahl musste ihm ein mehrfacher Bypass gelegt werden. Offensichtlich wurde, dass er seinem Amt nicht mehr gewachsen war. Das hätte der neuen Ordnung nicht schaden müssen, wenn sein Verfall nicht der eines royalen Regenten gewesen wäre, der die beinahe üblichen Erscheinungen hervorbrachte: unkontrollierte Macht für Gehilfen und Satrapen in der hohen Bürokratie samt Vetternwirtschaft und Korruption. Was in der späten Breschnew-Ära notorisch war, kehrte nun zurück. Bei Großaufträgen für die Kreml-Renovierung siegte, wer am meisten zahlte. In der Schweiz tauchten limitlose Kreditkarten des Jelzin-Clans auf. Die "Familie", in bewusster Analogie zur Mafia so genannt, zu der auch millionenschwere Geschäftsfreunde wie Boris Beresowski gehörten, wurde zur Krake von Staat und Wirtschaft. Im April 2000 ergab eine demoskopische Stichprobe, dass nur 18 Prozent der Befragten positiv über den ersten Präsidenten des neuen Russland urteilten. Und dennoch wird man sich schwer tun, Jelzin und seine Politik gänzlich für gescheitert zu erklären. Man muss in Rechnung stellen, dass er unter schwierigen Bedingungen antrat und einem riesigen Staat eine neue politische Ordnung geben musste, dessen Gesellschaft zutiefst zerrissen war. Wer hätte diese Herkulesaufgabe besser und mit weniger Opfern bewältigen können? Vielleicht wäre er gut beraten gewesen, die Macht schon 1996, als der sichtbare Verfall begann, abzugeben. Aber an wen?

Putins Bilanz

Diese ambivalente Bilanz trat nicht zuletzt in der Art und Weise zutage, wie Jelzin seine Nachfolge regelte. Denn es war bezeichnend, dass er es offenbar auf einen demokratischen Wahlkampf nicht ankommen lassen wollte. Stattdessen entschied er sich, vorzeitig zurückzutreten und die präsidialen Kompetenzen bis zum kurz bevorstehenden Ende der Amtsperiode einem Bevollmächtigten zu übergeben. Auch diesen Auserkorenen, den er damit zugleich für die Neuwahlen im März 2000 in eine Favoritenrolle brachte, zog er aus dem Hut. Wladimir Putin, der mit dem ersten Tag des neuen Jahrtausends die kommissarischen Amtsgeschäfte übernahm, war zwar kein Anonymus, sondern vormaliger Chef des Geheimdienstes FSB (dessen Vorläuferorganisation KGB er angehört hatte) und aktueller Ministerpräsident. Aber als solcher amtierte er erst seit September. Ein weithin bekannter und erfahrener Politiker war auch Putin nicht. Aber der neue Mann hatte sich nach verheerenden Terroranschlägen auf Wohnblocks in Moskau, die fast 250 Todesopfer forderten, als Krisenmanager bewährt und Jelzin beeindruckt. Bereits in diesem, vom beginnenden zweiten Tschetschenienkrieg begleiteten Wahlkampf setzte er sich als Mann von Recht und Ordnung in Szene und erzeugte jenes Bild von sich, dem er seine Popularität verdankte: einer zupackenden Führungspersönlichkeit, die versprach, dem Staat wieder Autorität zu verschaffen, den Ausverkauf der nationalen Reichtümer zu beenden und den inneren wie äußeren Niedergang der einstigen Supermacht aufzuhalten. Damit trat Putin mit einem Programm an, das faktisch ankündigte, die Scherben wieder zusammenzufügen, die sein Förderer hinterlassen hatte. Er war Jelzins Kreatur und Antipode zugleich - und vielleicht deshalb innenpolitisch unleugbar erfolgreich.

Man wird Putin nicht vorwerfen können, untätig geblieben zu sein. Im Gegenteil, die ersten konkreten Schritte folgten schon im Sommer 2000. Sie ließen schnell erkennen, worin die angekündigte "grundlegende Erneuerung" des Staates bestehen sollte: vor allem darin, die Macht wieder und weiter beim Präsidenten zu bündeln. Zugleich ließ Putin die Einrichtungen und grundlegenden Bestimmungen der Verfassung unangetastet; formal blieben Demokratie und Gewaltenteilung als Kennzeichen und Errungenschaft der postsowjetischen Ordnung erhalten. Man hat diese Doppelbödigkeit mit dem Begriff des "Para-Konstitutionalismus" zu kennzeichnen versucht. Was gemeint ist, liegt auf der Hand: dass man nach außen hin den Schein wahrte, aber die Kompetenzen der regulären Organe aushöhlte, indem man sie neuen, vom Präsidenten geschaffenen und abhängigen Gremien übertrug.

Vor allem folgende Maßnahmen haben zu diesem Ergebnis geführt:

(1) Nicht zufällig zuerst hat Putin die Zusammensetzung des Föderationsrats verändert. Diese zweite Kammer des Parlaments war 1993 zusammen mit der Duma eingerichtet worden, um den Regionen eine Stimme zu geben. Sie spiegelte eine Entwicklung aus den letzten Unionsjahren, die man durchaus als neues Selbstbewusstsein bezeichnen kann. Im Maße, wie die Zentralgewalt verfiel und ihre hauptsächlichen Klammern: Partei, Armee und Geheimdienst ihren Dienst versagten, klagten nicht nur die Republiken ihr (seit 1924) verfassungsmäßig verbrieftes Recht auf Austritt aus der Union ein. Auch russische Regionen forderten mehr Eigenständigkeit, um (wie Jakutien) größere Verfügungsrechte über ihre Rohstoffressourcen (und deren Verkauf) zu erhalten. Im Zuge der Bildung des neuen Staates hatte Jelzin - wie zuvor Gorbatschow - Zugeständnisse machen müssen, die ihr Ziel (mit Ausnahme Tschetscheniens) nicht verfehlten, die Beschenkten von einer Sezession abzuhalten. Komplementr zur Schwäche des Zentrums entstand in Russland ein Regionalismus, wie es ihn in seiner gesamten Geschichte nur im letzten halben Jahrhundert des Zarenreichs gegeben hatte. Keiner Begründung bedarf, dass Demokraten in und außerhalb des Landes darin eine große Chance erkannten. Der Föderationsrat, in den die 83 territorialen Einheiten des immer noch riesigen neuen Staates je zwei Delegierte entsenden, verlieh dem Ausdruck.

Eben dieser Föderalismus war Putin und seiner Mannschaft ein Dorn im Auge. Sie hielten die regionale Unabhängigkeit für überzogen und betrachteten sie als wesentliche Ursache für "anarchische" Fehlentwicklungen. Das Remedium war einfach. Zum einen veränderte er die Zusammensetzung des Föderationsrats, nicht quantitativ, sondern "qualitativ". Statt der Gouverneure und regionalen Parlamentspräsidenten selber nahmen seit August 2000 nur noch deren Delegierte, mit weniger Gewicht und weniger Kompetenzen, auf seinen Bänken Platz. Zugleich schuf Putin eine neue Zwischenebene aus sieben "Föderationskreisen" mit Generalgouverneuren an der Spitze, die von ihm ernannt wurden und den Gouverneuren vorgesetzt waren. Da ein so riesiger Staat wie der russische aber ohne Mitwirkung der Regionen nicht zu regieren ist, war er klug genug, eine Art Ersatzgremium einzurichten. Der "Staatsrat" nützte beiden: der Zentrale, um sich zu informieren und lokale Kompetenz in Anspruch zu nehmen, den Regionen, um ihre Interessen zu äußern - aber als Bitte in einer präsidialen Kommission, nicht als Anspruch in einer Parlamentskammer.

Nach dieser Entmachtung der Gouverneure ließ Putin sich mit der förmlichen Zeit. Sie blieb aber nicht aus: Er nutzte das Geiseldrama von Beslan im September 2004, um im "Kampf gegen den Terrorismus" auch die Zentralisierung voranzutreiben. Im folgenden Jahr wurde die 1996 von Jelzin eingeführte Direktwahl der Gouverneure wieder abgeschafft; seither werden sie "auf Vorschlag" des Präsidenten von den Regionalparlamenten gewählt, also faktisch zentral ernannt.

(2) Entschiedener als Jelzin, der dies nach 1996 ebenfalls schon betrieben hatte, gingen Putin und seine Umgebung daran, eine eigene Partei zu gründen, um die Duma zu kontrollieren. Aus "Unser Haus Russland" wurde im Dezember 2001 das "Einige Russland". Die alt-neue Partei bewährte sich schon bei den Wahlen zwei Jahre später, als sie knapp 37,6 Prozent der Stimmen errang. Vier Jahre später erreichte Putin endgültig, was er wollte - eine Zweidrittelmehrheit der Mandate (bei 63,5 Prozent der Stimmen) und vollständige Kontrolle. Konkurrierende Parteien, ohnehin eine Minderheit, wurden an den Rand gedrängt. Politischer Pluralismus ist im System Putin nicht erwünscht. Der nichtssagende Name spricht Bände. Einzige Aufgabe von "Einiges Russland" ist es, Zustimmung für den Präsidenten zu mobilisieren, nicht etwa, eine kritische Kontrollfunktion auszuüben.

(3) Ähnlich energisch ging Putin gegen den politischen Einfluss der "Oligarchen" vor. Gerade hier ist bemerkenswert, dass er sich damit gegen jene wandte, die seinen Aufstieg mitgetragen haben. Auch das mag die Verbitterung erklären, mit der dieser Machtkampf geführt wurde (und wird). Beresowski floh ins Ausland. Der einst reichste Russe, Michail Chodorkowski, sitzt für lange Jahre hinter Gittern und darf realistischerweise nicht darauf hoffen, freigelassen zu werden, solange Putin regiert. So sehr lag dem Präsidenten an der Niederringung dieses Gegners, dass er die Instrumentalisierung der Justiz für seine Zwecke nicht scheute. Nirgendwo ging er ein so großes Risiko ein, die Fiktion von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zu entlarven, wie in diesem Verfahren.

Die anderen Superreichen haben diese Lektion verstanden. Zwar ist die Allianz von Geld und Macht nicht beendet. Putin hat keine Anstalten gemacht, die Wirtschaftsordnung zu Ungunsten ihrer größten Profiteure zu ändern, und Letztere hüten sich, mit der ohnehin kaum wahrnehmbaren Opposition zu liebäugeln. Aber das Bündnis hat sich in eine Hierarchie verwandelt, in der klar ist, wer befiehlt und wer gehorcht.

Auch wenn das Machtinteresse außer Frage steht, sollte man nicht übersehen, dass Putin bei der Disziplinierung der "Oligarchen" auf breite Zustimmung der Bevölkerung rechnen konnte. So wie er die geistige Leerstelle, die der Bankrott der kommunistischen Ideologie hinterließ, durch nationalistische Parolen füllte, so war er Populist genug, um den tief sitzenden Soupçon der einfachen Leute zu nutzen, die Anhäufung so märchenhafter Reichtümer in so kurzer Zeit könne nicht mit rechten Dingen zugegangen sein. Dass sich viel Geld aus dunklen Kanälen in schnelles Gold verwandelte und die Steuermoral der neuen Milliardäre sehr zu wünschen übrig ließ, war gängige Meinung. Ob Putin dies tatsächlich geändert und auch die Loyalen, die sich unterwarfen, gezwungen hat, ihren fiskalischen Pflichten korrekt nachzukommen, weiß nur der Finanzminister. Vor allem in seinen ersten Amtsjahren, letztlich aber bis zur internationalen Bankenkrise war er auch nicht gezwungen, jeden Rubel einzutreiben. Die Explosion des Ölpreises bescherte dem Staat unerwartete Einnahmen. Putin war gut beraten, diese auch für Rentenerhöhungen und sonstige Hilfen für die große Masse armer Leute und die einfache Bevölkerung zu verwenden. Diese dankte es ihm; an seiner tatsächlichen Popularität ist nicht zu zweifeln.

Dies gilt, obwohl Putin (4) nicht zuletzt auch gegen die "vierte Gewalt" im Staat, Presse und Medien, vorging. Faktisch ungeschützt, weil keine Instanz zu sehen ist, die eingreifen könnte, ist sie von der geballten Macht des Kreml und staatsnaher Konzerne weitgehend gleichgeschaltet worden. Die Besitzer kritischer (oppositioneller wäre schon zu viel gesagt) Fernsehsender wurden ausgebootet und an die Kandare gelegt. Mehrere Journalisten - nicht nur die bekannteste, Anna Politkowskaja - mussten ihren Mut mit dem Leben bezahlen. Zwar darf die ein oder andere Zeitung noch abweichende Meinungen äußern, aber sie bedienen damit nur einen kleinen Leserkreis. Auch die freie Meinungsäußerung, in der Perestroika einst Symbol des Abschieds vom Alten, existiert inzwischen nicht mehr.

Die Hoffnung war groß, dass sich manches an diesem System mit dem Ende der zweiten Amtszeit Putins und dem Übergang der Präsidentschaft an Dmitri Medwedew ändern würde. Der neue Mann zeigte ein freundlicheres Gesicht und hielt manche Rede, die auf Reformen hoffen ließ. Aber tatsächlich verändert hat er nichts. Der letzte Optimist dürfte indes enttäuscht worden sein, als das Tandem - Freunde seit ihren Studienjahren, was man nicht vergessen sollte - vor wenigen Monaten ankündigte, im kommenden Jahr die Rollen tauschen zu wollen. Diese Variante hat es im neuzeitlichen Russland noch nicht gegeben: eine einvernehmliche Doppelherrschaft.

Urteil

Aus historischer Perspektive liegt immer die Versuchung nahe, die skizzierte Entwicklung an Traditionen und Strukturen der longue durée zurückzubinden. Wenn man ihr nachgibt - durchaus im Bewusstsein, dass sich das Urteil in wenigen Jahren ändern kann , fällt natürlich ins Auge, was überall nachzulesen ist: Der autoritär-bürokratische Zentralstaat ist zurück.

Demokratie, Regionalismus und Föderalismus gaben sich ein kurzes Stelldichein, als die "imperiale" Gesamtgewalt zusammenbrach. Aber sie brachten eine Freiheit und ein Eigenleben hervor, die aus zentraler Sicht nicht als Vielfalt, sondern als dysfunktionale, den Gesamtstaat gefährdende Eigensucht wahrgenommen wurden. Korruption, Schlendrian, Verarmung und die Aversion gegen eine hauchdünne Minderheit von Gewinnlern taten ein Übriges, um tief eingewurzelten, historisch dominanten Gegenkräften breite Unterstützung und wieder Oberhand zu verschaffen.

In Russland hat es nie eine starke, eigentätige und politisch aktive Gesellschaft gegeben. Ansätze waren vor 1914 sichtbar geworden, aber Revolution und Bürgerkrieg (1917-1921) haben ihre Träger vernichtet oder in die Emigration getrieben. Die Perestroika hat dies, wie man mit Hinweis auf den Massenwiderstand gegen den August-Putsch behauptet hat, geändert. Putins "koordinierte Demokratie" und "Vertikale der Macht" lehren, dass diese Mobilisierung einer wachsamen, active society wohl von geringer Nachhaltigkeit war.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Archie Brown, Seven Years that Changed the World. Perestroika in Perspective, Oxford 2007.

  2. Kategorien bei: George W. Breslauer, Gorbachev and Yeltsin as Leaders, Cambridge 2002.

  3. Beste Biographie: Timothy J. Colton, Yeltsin. A Life, New York 2008.

  4. Vgl. G.W. Breslauer (Anm. 2), S. 308.

  5. Vgl. Richard Sakwa, Putin. Russia's Choice, London-New York 2004, S. 16.

  6. Vgl. T.J. Colton (Anm. 3), S. 447.

  7. Vgl. G.W. Breslauer (Anm. 2), S. 312.

  8. Vgl. R. Sakwa (Anm. 5), S. 12ff.

  9. Text ebd., S. 251ff., hier: S. 254.

  10. Vgl. Richard Sakwa, Putin's Leadership: Character and Consequences, in: Europe-Asia Studies, 60 (2008), S. 889.

  11. Vgl. Richard Sakwa, A Cleansing Storm: The August Coup and the Triumph of Perestroika, in: Journal of Communist Studies, 9 (1993), S. 131-149; Margareta Mommsen, Putins "gelenkte Demokratie": "Vertikale der Macht" statt Gewaltenteilung, in: Matthias Buhbe/Gabriele Gorzka (Hrsg.), Russland heute. Rezentralisierung des Staates unter Putin, Wiesbaden 2007.

Dr. phil., geb. 1948; Professor für Osteuropäische Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen, Platz der Göttinger Sieben 5, 37073 Göttingen. E-Mail Link: m.hildermeier@phil.uni-goettingen.de