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Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit | Nach dem Ende der Sowjetunion | bpb.de

Nach dem Ende der Sowjetunion Editorial Über die Krise - Essay Das Ende der Sowjetunion in der Historiographie Von Gorbatschow zu Medwedew: Wiederkehr des starken Staates Macht und Recht in Russland: Das sowjetische Erbe Russische Medien zwischen Vielfalt und Bedrohung Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit Stalinismus und Erinnerungskultur 22. Juni 1941: Kriegserinnerung in Deutschland und Russland

Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit

Thomas Vogel Thomas Kunze

/ 18 Minuten zu lesen

Die Sowjetunion zerfiel Anfang der 1990er Jahre. Die 15 früheren Sozialistischen Sowjetrepubliken, aus denen sich die UdSSR zusammensetzte, wurden selbständig und gingen unterschiedliche Wege.

Einleitung

Vor 20 Jahren verschwand die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) von den Landkarten. Eduard Schewardnadse, ihr letzter Außenminister, erinnert sich: "Es zerbrach das letzte Imperium des 20. Jahrhunderts, die Sowjetunion, dieses blutige, utopische, gegen den Willen Gottes und die Gesetze der Natur entstandene Reich." Ganz plötzlich tauchten neue Staaten auf. Ihre "Mutter", die Sowjetunion, war über lange Zeit so abgeschottet gewesen, dass für viele vor dem Eisernen Vorhang die Sowjetunion einfach "russisch" war. Die Vielfalt des riesigen Vielvölkerreiches, die sich bei dessen Zerfall 1991 Bahn brach, wurde erst langsam sichtbar.

Die Sowjetunion zerfiel in ihre Einzelteile. Kam dieser Zerfall für viele überraschend und plötzlich, so war doch die Lähmung des Regimes seit Beginn der 1980er Jahre unübersehbar gewesen. Das innenpolitische Klima hatte sich durch die Unterdrückung von Regimegegnern verhärtet, Reformversuche waren steckengeblieben, außenpolitisch stemmte sich die Großmacht gegen jede Veränderung, und ökonomisch lag sie am Boden. Der Rüstungswettlauf mit den USA bedeutete für die Volkswirtschaft eine Anstrengung, der sie nicht mehr gewachsen war. Die Reforminitiative mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umgestaltung), eingeleitet durch Michail Gorbatschow, konnte das Ende der Sowjetunion nicht mehr aufhalten. Im Gegenteil, Gorbatschow wirkte letztendlich als Wegbereiter der Auflösung der Sowjetunion. 1987 verwarf er die Breschnew-Doktrin und erklärte bei einem Besuch in Prag, dass das gesamte Rahmenwerk der politischen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten auf Unabhängigkeit basieren müsse. Jede Nation solle ihren Weg selbst wählen und über ihr Schicksal, ihr Territorium und ihre Ressourcen selbst bestimmen können. Nicht nur in den Staaten des Warschauer Paktes horchte man auf, auch in den verschiedenen Sowjetrepubliken.

Die baltischen Staaten waren die ersten, die sich von der Sowjetunion lossagten. Am 11. März 1990 erklärten Litauen, am 20. und 21. August 1991 Estland und Lettland ihre Unabhängigkeit. Dabei hatten die baltischen Sowjetrepubliken immer den Ruf genossen, etwas Besonderes zu sein. In den Zwischenkriegsjahren zu Nationalstaaten geworden, wurden sie 1940 wieder ihrer Selbstständigkeit beraubt. In der Sowjetunion galten sie als potentieller Unruheherd, was durch die Ansiedlung einer russischen Minderheit und mit Massendeportationen bekämpft wurde. Ihre Kultur wurde zurückgedrängt und ihre Geschichte neu interpretiert, doch ist es vor allem die Interpretation ihrer Vergangenheit, auf die sich ihr Anspruch stützt, zu Europa zu gehören und dorthin zurückzukehren. Bereits 1989 nutzten sie den wind of change in Form von Gorbatschows Perestroika, um den gesamten Verbund der UdSSR in Frage zu stellen. Obwohl die Sowjetunion die Unabhängigkeit der baltischen Staaten am 6. September 1991 anerkannte, befürchteten die Litauer, Letten und Esten, dass ihre Unabhängigkeit nicht von langer Dauer sein könnte. Deshalb drängten die drei Staaten schon in den 1990er Jahren in Richtung NATO und Europäische Union (EU), denen sie 2004 schließlich beitraten. Als einzige Nachfolgestaaten der Sowjetunion haben sich die baltischen Staaten in den Westen, seine ökonomischen und politischen Institutionen sowie seine Sicherheitsstrukturen integriert. Im Verlauf des Jahres 1991 folgten die Unabhängigkeitserklärungen Georgiens, Weißrusslands, der Ukraine, Moldaus, Kirgistans, Usbekistans, Tadschikistans und Armeniens sowie schließlich Aserbaidschans und Turkmenistans und zuletzt, am 16. Dezember 1991, Kasachstans. Viele dieser Staaten können auf keine Erfahrungen mit eigener Staatlichkeit zurückblicken. Losgelöst von der Sowjetunion, die durch die Schaffung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) am 21. Dezember 1991 offiziell aufhörte zu existieren, waren die alten Strukturen zerrissen, aber noch keine neuen geschaffen. Die Transformation zu Marktwirtschaft und Demokratie, aber auch die nationale Identitätsbildung stellen bis heute große Herausforderungen dar.

Anders die Russische SFSR (Sozialistische Föderative Sowjetrepublik): Sie erklärte formal ihre Souveränität, nicht aber die Unabhängigkeit. Russland wurde Rechtsnachfolger der Sowjetunion bei den Vereinten Nationen, einschließlich des Sicherheitsrates. Auch Russland strebte die Transformation an. Unter Präsident Boris Jelzin schaffte es Russland nach 1991 aber nicht, Anschluss an den zügiger verlaufenden Demokratisierungs- und Transformationsprozess in Osteuropa zu finden.

Neue Gemeinsamkeiten?

1991 wurde die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet. Anders als die Sowjetunion ist die GUS ein loser Zusammenschluss ehemaliger Teilrepubliken der UdSSR (ohne die baltischen Staaten). Für Russland war von Beginn an klar, dass mit der GUS "kein Staat" zu machen sei. Wladimir Putin, ein Freund der klaren Aussprache, brachte es auf den Punkt: "Die GUS wurde gebildet, um einen zivilisierten Scheidungsprozess zu ermöglichen. Alles andere ist Beiwerk." Ihre Erlässe und Verträge sind oft Papiertiger geblieben, Mitglieder werden immer wieder abtrünnig. Putins und auch Dmitri Medwedjews Politik zielt auf veränderte Strukturen: Beide wollen die GUS durch ein Geflecht neuer politischer und wirtschaftlicher Beziehungen ersetzen, bei denen Russland eine zentrale Position einnimmt und versucht, einzelne Staaten stärker an sich zu binden. Beispiele sind die angestrebte Union mit Weißrussland, die 1999 vereinbart wurde, oder die Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Weißrussland. Putins Idee ist die Gründung einer Eurasischen Union, die alle ehemaligen Sowjetrepubliken mit Ausnahme der baltischen Staaten umfassen soll. Dabei hat er sich einen höheren Grad an Integration als den in der EU zum Ziel gesetzt. Dies sei ein Weg aus der globalen wirtschaftlichen Krise. Zweifel an der Durchführbarkeit dieses Projekts kommen jedoch auf, da viele der potentiellen Mitglieder schlichtweg kein Interesse zeigen.

Sicherheitspolitisch überschneiden sich heute die Interessen Russlands und des Westens. Die Neuorientierung der amerikanischen Außenpolitik, die 2009 einsetzte, zeigt, dass man zu einer gemeinsamen, weltweiten Bedrohungsanalyse finden und gemeinsam auf diese Bedrohungen reagieren kann. Der Westen ist auf ein stabiles Russland zur Abwehr islamistischer Gefahren angewiesen und kann aus wirtschaftlichen Gründen auf den großen Markt nicht verzichten. Insofern ist es durchaus vorstellbar, dass sich Europa und Russland in zehn oder 15 Jahren in einer neuen europäischen Partnerschaftsstruktur wiederfinden, welche auch die transatlantischen Beziehungen neu definiert.

Trotz des Zerfalls der UdSSR und des Entstehens neuer Bündnisse bleiben Gemeinsamkeiten zwischen den Nachfolgestaaten der UdSSR bestehen. Die gemeinsame Sowjetvergangenheit wirkt in ihren ehemaligen Teilrepubliken nach. Sei es die Erinnerung an die Stalinzeit oder an den Afghanistankrieg, sei es die russische Sprache oder gemeinsame Traditionen: Vieles verbindet noch heute. Die Menschen, die in den Nachfolgerepubliken der Sowjetunion leben, sind durch Gewohnheiten und Erinnerungen aus den Nischen der Sowjetdiktatur miteinander verbunden geblieben. Von der Ukraine bis nach Kirgistan hört man die gleiche Musik, mag die gleichen Filme, pflegt die gleichen Bräuche und versteht die gleichen Witze.

Die gemeinsame Sozialisierung in der Sowjetunion verbindet die Menschen - bis hin zu einer weit verbreiteten Sowjetnostalgie. Obwohl die Zustimmung zur Sowjetunion in Russland am höchsten ist, betrachtet man mittlerweile auch in anderen Nachfolgerepubliken die Sowjetunion mit nostalgischen Gefühlen. Selbst in Litauen, das sich 1990 zuerst und am kraftvollsten von Moskau losgesagt hatte, gaben 2009 über 50 Prozent der Befragten an, "dass es zu Sowjetzeiten mehr Demokratie und ein besseres Gesundheitssystem gab und dass Menschenrechte mehr respektiert wurden als heute". Bei den vorgezogenen Parlamentswahlen in Lettland im September 2011 wurde der von ethnischen Russen dominierte Parteienblock "Harmoniezentrum" Wahlsieger. Erstmals wird damit eine dem linken Teil des Spektrums zugerechnete Partei, die noch dazu als pro-russisch gilt, stärkste Kraft. Obwohl der Wahlsieger nicht der Regierung angehören wird, stellt das Wahlergebnis eine deutliche Absage an die politische Elite und deren Politik seit der Finanz- und Wirtschaftskrise dar.

Nationale Identitäten

Um ein selbständiges Nationalbewusstsein zu begründen und ihre eigene nationale Identität zu legitimieren, griffen manche ehemalige Sowjetrepubliken auf Personen, Volksgruppen oder Reiche zurück, die vormals auf ihrem Staatsgebiet existierten. Ihre neue Unabhängigkeit untermauern sie mit dem Verweis auf eine historische "Goldene Ära". Oftmals stießen die postsowjetischen Republiken auf Schwierigkeiten, an eine frühere Identität anzuknüpfen, da die heutigen Grenzen zumeist auf die Grenzziehungs- und Nationalitätenpolitik der Sowjetunion zurückzuführen sind. Zur Legitimation des neuen Nationalstaates mussten deshalb manchmal fragwürdige historische Rückgriffe vorgenommen oder einfach die nötigen Traditionen erfunden werden. Orte, Symbole und Ereignisse wurden mitunter aus dem historischen Kontext gerissen und in eine nationale Geschichte eingerückt. Doch ohne Rückgriff auf Mythen oder Legenden und ohne Zukunftsvisionen wäre es nicht möglich gewesen, ein Zugehörigkeitsgefühl zu einem neuen Staatsvolk zu schaffen.

Für

Russland

als Nachfolgestaat der Sowjetunion war die Suche nach nationaler Identität und nach dem Konzept eines neuen Staatsverständnisses besonders schwierig. Die Russische Föderation stand nicht nur innenpolitisch und ökonomisch vor enormen Transformationsaufgaben. Geopolitisch musste sich die einstige Weltmacht damit abfinden, diese Rolle auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte verloren zu geben, was bei den Eliten, aber auch bei der Mehrheit der Bevölkerung ein psychologisches Trauma auslöste. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde bereits in der Jelzin-Ara der Ruf nach Rückerlangung verlorener Stärke und Macht laut.

Viele haben Boris Jelzin vor allem wegen seines Alkoholkonsums und einiger peinlicher Auftritte im Ausland in Erinnerung. Unter seiner Präsidentschaft schlitterte Russland von einer Krise in die nächste. Vom Westen als Demokrat gefeiert, betrachten die meisten Russen die 1990er Jahre unter Jelzin im Rückblick als eine Zeit, in der sie durch einen De-facto-Staatsbankrott im Jahre 1998 nicht nur ihr Hab und Gut verloren, sondern in der Clanwirtschaft und Oligarchentum entstanden. Jelzins Nachfolger Wladimir Putin schaffte es, Russland zu konsolidieren. Unter ihm wurde das Land wieder zu einem ernst zu nehmenden Akteur auf der Weltbühne. Die Popularität, die Putin in Russland genießt, verdankt er auch geschickten Rückgriffen auf die Sowjetvergangenheit. Als er für die von Jelzin verbannte Nationalhymne der Sowjetzeit 2001 einen neuen Text dichten und sie wieder zur Hymne der Russischen Föderation erheben ließ, waren ihm die meisten Russen zutiefst dankbar. Mit dieser Hymne verbanden sie nicht nur Heimat, sondern auch Größe. Sergej Michalkow, der Textdichter der Sowjethymne, schrieb bereitwillig auch die neuen Verse.

Das ideologische Vakuum, das es nach dem Ende der Sowjetunion gab, wird in Russland zunehmend auch von der Russisch-Orthodoxen Kirche ausgefüllt. Der 1990 von der Heiligen Synode zum Patriarchen und damit Kirchenoberhaupt gewählte Alexej II., ein Kirchenmann mit vermuteter KGB-Vergangenheit, wurde trotz dieses Hintergrundes zu einem Symbol der Wiedergeburt der Orthodoxie und des Christentums nach der langen Zeit der inneren Diaspora während des Kommunismus. Kyrill, sein "Außenminister", war nicht nur für die Außenbeziehungen des Patriarchats der Russisch-Orthodoxen Kirche zuständig, er war ihr intellektueller Vordenker. Eine charismatische Persönlichkeit, genauso sehr Machtpolitiker wie Kirchenmann, ist er fest davon überzeugt, dass Russland seine moralische Stärke wiedergewinnen und der Westen, den er mittlerweile eher für schwach hält, die Allianz mit Russland in absehbarer Zukunft brauchen wird. Als Alexej II. im Jahr 2008 starb, wurde Kyrill sein Nachfolger. Überall im Land werden nun die Kirchen restauriert. Das Bild russischer Städte wird heute mehr und mehr von goldenen Kirchenkuppeln geprägt. Kyrill spart nicht an Geld für Kirchen in anderen früheren Sowjetrepubliken, deren Russisch-Orthodoxe Gemeinden seinem Patriarchat unterstehen. An Schulen lässt er den Religionsunterricht wieder einführen. Auf diese Weise wird eine Brücke zum vorrevolutionären Russland geschlagen und die Kontinuität der russischen Nation untermauert.

Auf weltlicher Seite dienen historische Figuren wie Alexander Newski, Dmitri Donskoi, Peter der Große und Katharina II. diesem Ziel. Die monströse Skulptur Peters des Großen am Ufer der Moskwa, geschaffen vom georgisch-russischen Bildhauer und Maler Surab Zereteli, hätten die Moskauer wohl nicht als Ausdruck ihrer neuen nationalen Identität akzeptiert. Sie wurden jedoch nicht gefragt. Zereteli war der Lieblingskünstler des ehemaligen Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow. Trotz der Symbolkraft Peters des Großen für die russische Geschichtsschreibung kann zumindest dieser Versuch, ein neues Nationalbewusstsein aus Kupfer zu gießen, als gescheitert betrachtet werden.

Solche Probleme sind in

Weißrussland

unbekannt. Dort mussten die sowjetischen Denkmäler erst gar nicht neuen Standbildern weichen. Lenin weist nach wie vor an seinem angestammten Platz, direkt vor dem Regierungssitz, den Weg in die Zukunft. Zunächst gab es nach der Unabhängigkeit Bemühungen, sich bei der nationalen Selbstfindung auf das Großfürstentum Litauen zu berufen, das bis 1791 Teile des heutigen Weißrusslands umfasste. Zwischen 1991 und 1995 führte Weißrussland die Pahonja, das Staatswappen dieses alten Reiches, wieder ein. Doch dann beschloss der autoritäre Präsident Aljeksandr Lukaschenka, keine grundsätzliche Abkehr vom sowjetischen Geschichtsverständnis zuzulassen. Während in den anderen postsowjetischen Staaten die Abgrenzung zur Sowjetzeit betont wird, knüpfte Lukaschenka an die alte Symbolik an. Die in einem Referendum 1995 eingeführte neue Staatsflagge entspricht exakt der Flagge aus der Zeit der Weißrussischen Sowjetrepublik, allein Hammer und Sichel wurden entfernt. Weißrussland ist den meisten Westeuropäern unter dem Etikett "letzte Diktatur Europas" geläufig. Für Lukaschenkas Regime zeichnet sich trotz der wirtschaftlichen Schwierigkeiten, in dem sich die größtenteils immer noch nach planwirtschaftlichen Prinzipien geleitete Wirtschaft derzeit befindet, kein Ende ab. Der Präsident hat es über Jahre hinweg geschafft, Russland und die EU gegeneinander auszuspielen.

In der

Ukraine

schwanken nationalistische Politiker, Journalisten, Schriftsteller und Historiker seit 1991 zwischen den Extremen. Manche sehen in der Kiewer Rus keinen russischen, sondern einen ukrainischen Staat und beschreiben damit das heutige Russland indirekt als Nachfolger eines ukrainischen Staatsgebildes. Andere wollen generell alles Russische verbannt sehen. 2008 wurde die Forderung erhoben, russische Fernsehkanäle aus den Standardnetzen der Kabelfernsehfirmen zu entfernen; in einem Land, in dem Russisch im Gegensatz zur Staatssprache Ukrainisch als Mutter- oder als Zweitsprache von fast allen Bewohnern gesprochen und verstanden wird, ein absurdes Anliegen. Da die Ukraine kulturell in einen sehr russlandfreundlichen Ost- und einen ukrainischstämmigen, eher europaorientierten Westteil zerrissen ist, konnten sich solch extreme Forderungen nicht durchsetzen.

Die Entwicklungen in der Ukraine in den 1990er Jahren standen in Bezug auf Chaos, Clanwirtschaft und der Entstehung eines Oligarchensystems denen in Russland in nichts nach. Allerdings löste sich die Ukraine erst relativ spät von ihrer Sowjetvergangenheit. Die Sowjetverfassung wurde erst 1996 ersetzt. 2004, nach Ende der Ära des Präsidenten Leonid Kutschma, nahm die "Orangene Revolution" ihren Lauf. Der "große Nachbar" Russland wurde durch diese Revolution bis ins Mark getroffen. Viele Russen empfanden damals: Je mehr sich die Ukraine dem Westen zuwendet, desto mehr verliert Russland von seiner Geschichte. Heute weht unter Wiktor Janukowitsch als Präsident wieder ein autoritärerer und pro-russischer Wind. Die Ukraine schwankt weiter zwischen Europa und Russland.

Eine Sonderrolle kommt

Litauen

,

Estland

und

Lettland

zu. Fest in die Strukturen der EU integriert, haben die drei baltischen Staaten heute die größten Fortschritte bei der Demokratisierung und der Durchsetzung der Marktwirtschaft erreicht. Seit Ende der 1990er wuchs die Wirtschaft der drei Republiken zusehends. Ein böses Erwachen gab es 2008 im Zuge der weltweit einsetzenden Wirtschaftskrise: Offenbar hatte man lange über seine Verhältnisse gelebt. Für Litauen und vor allem für Lettland führte dies fast zum Staatsbankrott. Auch Estlands Wirtschaft war stark betroffen, doch das Land ist nach wie vor der Musterschüler des Baltikums. Die Esten gelten als "vorbildliches Nordlicht". Nichts machte Estland so berühmt wie seine elektronische Revolution. Das Land wirbt mit dem Logo "e-Estonia" für sich. Der weltweite Siegeszug des Internettelefondienstes Skype begann in Tallinn. Der estnische Staat garantiert den kostenlosen Zugang zum Internet. Die meisten Einwohner erledigen ihre Bankgeschäfte online. Mit einigen Mausklicks bekommt man Einblick in seine Krankendatei. Wer eine Firma gründen will, profitiert von der in Europa einmaligen Digitalisierung des Staates. Das zog ausländische Kapitalgeber an wie kaum anderswo. Seit 2011 kann man in Estland mit dem Euro zahlen.

Die Republik

Moldau

liegt wie die beiden anderen, direkten östlichen Nachbarn der EU, die Ukraine und Weißrussland, im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU. Moldau ist seit der Unabhängigkeit ein gespaltenes Land. Nachdem es 1992 zu bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen moldauischen und transnistrischen Einheiten kam, griff Russland ein. Seitdem sind russische Truppen in Transnistrien stationiert, und Transnistrien ist de facto von Moldau unabhängig, eine Unabhängigkeit, die international nicht anerkannt wird. Dieses Schicksal teilt die Regierung in der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol mit den Regierungen anderer separatistischer Gebiete auf dem Gebiet der früheren Sowjetunion: Berg-Karabach, Abchasien und Südossetien.

In den Kaukasusrepubliken

Georgien

,

Armenien

und

Aserbaidschan

waren Konflikte und Kriege in den vergangenen Jahren an der Tagesordnung. Sezessionsbewegungen von Abchasien über Südossetien zu Berg-Karabach machen den Südkaukasus zur kompliziertesten Konfliktregion der untergegangenen Sowjetunion. Vor allem in Berg-Karabach brechen alte und zur Zeit der Sowjetunion unterdrückte Konflikte wieder auf. Schon zu Sowjetzeiten hat Armenien für eine Angliederung des hauptsächlich von Armeniern besiedelten Gebietes an die eigene Sowjetrepublik geworben, was jedoch scheiterte. Heute stehen sich Armenien und Aserbaidschan nach wie vor unnachgiebig gegenüber, dem jeweils anderen die Schuld an der Situation zuschiebend. In Berg-Karabach sind armenische Truppen stationiert. Das Gebiet ist von Armeniern bewohnt. Dennoch gehört es weiterhin zu Aserbaidschan. Auch in Georgien kennt man diese Probleme, der Konflikt mit den abtrünnigen Provinzen Südossetien und Abchasien spitzte sich im August 2008 dermaßen zu, dass er in eine militärische Auseinandersetzung mit Russland mündete. Was das Nationalgefühl angeht, so dreht sich in Georgien alles um den Heiligen Georg, den Schutzpatron des Landes. Seit 2005 zieren fünf sogenannte Georgskreuze die Nationalflagge des südkaukasischen Landes.

Die fünf mittelasiatischen Staaten

Usbekistan

,

Kasachstan

,

Turkmenistan

,

Kirgistan

und

Tadschikistan

, in denen heute über 63 Millionen Menschen mit über hundert ethnischen Zugehörigkeiten leben, existierten vor Gründung der UdSSR nicht. Mittelasien war in so genannte Khanate, aus Stämmen bestehende Staatsgebilde, aufgeteilt, die zum Großraum Turkestan gehörten. Bei der Aufgliederung der Region in fünf Sowjetrepubliken wurden die einstigen Khanatsgrenzen bewusst unberücksichtigt gelassen und die Völkerschaften vermischt. Ziel war es, regionale Spannungen zu schaffen, um die Völker von Aggressionen gegen die Zentralmacht in Moskau abzuhalten. Heutige ethnische Konflikte liegen in Mittelasien wie auch im Kaukasus unter anderem in dieser Nationalitätenpolitik Stalins begründet, die seine Nachfolger fortsetzten.

Viele Länder haben sich mit ihren neuen Nationalideologien übernommen. In Taschkent steht das Denkmal von Amir Timur - im Westen bekannt als Timur Lenk oder Tamerlan -, dem Nationalhelden des neuen Usbekistan, auf demselben Sockel, auf dem zunächst der zaristische Generalgouverneur für Turkestan, Konstantin von Kaufmann, danach Josef Stalin und dann Karl Marx thronten. 1991, als in Usbekistan die marxistisch-leninistische Geschichtsschreibung verschwand, wurden in allen Teilen des Landes Historiker gesucht, die sich mit der Geschichte der Timuridenzeit auskannten. Derer gab es nicht viele. Tamerlan, der Mongolenführer aus dem 14. Jahrhundert, der nun der Nationalheld des neuen Usbekistan ist, hatte nicht zu den Arbeiterhelden der Sowjetgeschichtsschreibung gehört.

Auf einem der zentralen Plätze der Hauptstadt Turkmenistans, Aschgabat, stand die 40 Meter hohe Statue des neuen turkmenischen Nationalhelden, des Turkmenbaschi ("Führer der Turkmenen"). Ihr architektonisch zweifelhafter Unterbau ähnelte einer Raketenabschussrampe. Darauf drehte sich ein vergoldeter Mann sonnengottähnlich um die eigene Achse und breitete seine Hände segnend über sein geliebtes Volk. Der Turkmenbaschi war niemand Geringeres als der damals noch lebende turkmenische Präsident Saparmurat Nijasow. Als KP-Chef hatte er das Land schon zu Sowjetzeiten regiert. Mangels anderer verfügbarer turkmenischer Nationalhelden entschied er sich, diesen Platz selbst einzunehmen. Sein Nachfolger, Gurbanguly Berdimuchamedow, seit 2007 an der Macht, beseitigte zwar einige der Auswüchse des Personenkultes, ohne aber das System als solches in Frage zu stellen.

In Kirgistan diente der sagenumwobene Volksheld Manas zur Neu-Identifikation. Die persischsprachigen Tadschiken hingegen betrachten sich als arisches Volk und pflegen diesen Kult. Selbst ein "Haus der Arier" ist zu besichtigen. Den größten finanziellen Aufwand zur Stärkung der nationalen Identität seines Landes trieb Kasachstans Präsident Nursultan Nasarbajew mit der kompletten Verlegung der Hauptstadt von Alma-Ata in die Steppe im Jahr 1999. Für mehrere Milliarden Dollar wurde die neue Metropole Astana mit futuristischer Architektur zum Zentrum Eurasiens und Mittelpunkt des kasachischen Heimatlandes stilisiert.

Clanstrukturen und tiefe Spuren, die die Sowjetherrschaft in den Köpfen der Menschen hinterlassen hat, prägen zusammen mit neuen, mehr oder weniger stark ausgeprägten marktkapitalistischen Strukturen das Bild in allen Staaten der Region. Die Menschen sind patriotisch, Traditionen spielen im alltäglichen Leben eine große Rolle. Die Bevölkerungen Mittelasiens glauben an starke Führer und Autoritäten, Sippen- und Claninteressen herrschen vor, Meinungsvielfalt und Kompromissfähigkeit werden oft als Zeichen von Schwäche interpretiert. In der mittelasiatischen Region sind die Regierungssysteme autoritärer geprägt als in den übrigen postsowjetischen Staaten.

Eine wichtige Ursache der Probleme in Zentralasien liegt in der Vernachlässigung regionaler Kooperationen in solch lebenswichtigen Bereichen wie der Regelung der Wasserverteilung oder der Bekämpfung des Drogenhandels. In einer funktionierenden regionalen Kooperation lägen große Chancen. Durch gemeinsames Handeln könnte sie die politischen und ökonomischen Voraussetzungen für eine spätere Weltmarktöffnung schaffen. Doch die fünf Staaten streben lediglich formal eine stärkere wirtschaftliche Integration an. Zwar sind sie Mitglieder in verschiedenen Integrationsgemeinschaften (GUS, Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft, Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit). Eine Politik, die zu einer funktionierenden regionalen Integration führt, ist aber nicht in Sicht, noch immer herrschen Misstrauen und Egoismus vor.

Ausblick

Die Sowjetunion, einst flächenmäßig das größte Land der Erde, zerfiel Anfang der 1990er Jahre. Die 15 früheren Sozialistischen Sowjetrepubliken, aus denen sich die UdSSR zusammensetzte, wurden selbständig und gingen unterschiedliche Wege. Die baltischen Länder gehören seit 2004 zur EU. Die Russische Föderation hat nach einer Schwächeperiode zu neuer Stärke gefunden. Weißrussland, die Ukraine und Moldau befinden sich im Spannungsfeld zwischen Russland und der EU. Die südkaukasischen Republiken Armenien, Georgien und Aserbaidschan tragen bis heute ungelöste Territorialkonflikte aus. Die mittelasiatischen Staaten hoffen, durch autoritäre Staatsführung Stabilität in einem muslimischen Umfeld und in unmittelbarer Nahe zu Afghanistan, Pakistan und zum Iran bewahren zu können.

Lassen wir in Gedanken weitere 20 Jahre vergehen: Die Geschwindigkeit, mit der sich politische Entwicklungen vollziehen, macht Prognosen nicht einfach. Vieles wird davon abhängen, wie sich der Westen entwickelt. Unsere Beziehungen zum postsowjetischen Raum befinden sich am Scheideweg. Lediglich Estland, Lettland und Litauen sind im Westen verankert. Doch wohin tendieren Russland, Weißrussland, die Ukraine und Moldau, wohin die Staaten des Südkaukasus? Am spannendsten, aber vielleicht auch am risikoreichsten wird die Entwicklung in Mittelasien verlaufen. Werden es die dort Regierenden schaffen, den militanten Islamismus einzudämmen und ihre Staaten Teil der modernen Welt werden zu lassen?

Wir wagen eine Vorausschau: Russland, das untrennbar mit der europäischen Kultur und Zivilisation verbunden ist, wird in 20 Jahren zu einem Europäischen Haus gehören, das größer ist als die EU und eigene Strukturen ausgebildet hat. Es wird sich unserem Modell von Freiheit und Demokratie annähern, wenn wir verstehen, dieses Modell zu verteidigen und attraktiv zu gestalten. Weißrussland und die Ukraine würden dann nicht mehr zwischen der EU und Russland hin- und hergerissen sein. Sie hätten eine Zukunft in einem Europa, das keinen ideologisch geprägten Umgang mehr mit Russland pflegt, sondern zu dem Russland wie selbstverständlich dazugehört. Die Republik Moldau könnte eine Sonderrolle spielen und schon früher, etwa durch eine Vereinigung mit dem Nachbar Rumänien, Teil der EU werden.

Im Kaukasus dürfte es dagegen eher unruhig bleiben. Zwar werden Georgien, das heute noch mit Russland verfeindet ist, und Armenien vermutlich in die Strukturen des größer werdenden Europäischen Hauses streben, doch genauso gut sind Rückschläge und neue Konflikte möglich. Russische Nordkaukasusprovinzen wie Tschetschenien und Dagestan könnten sich abspalten und die gesamte Region in einen Unruheherd verwandeln. In Mittelasien werden sich die Länder unterschiedlich entwickeln. Kasachstan, das heute schon durch eine Zollunion mit Russland verbunden ist, dürfte sich noch stärker dem großen Nachbarn und damit Europa annähern, was durch den enormen Ressourcenreichtum des Landes für alle Beteiligten gewinnbringend sein dürfte.

Weiter südlich könnte die Entwicklung anders aussehen: Die Bindungen an Russland lockern sich, der radikale Islam erstarkt, und der Kampf um Wasserressourcen führt zu Auseinandersetzungen mit den Nachbarländern, die kriegerisch ausgetragen werden. Usbekistan wird möglicherweise islamischer und weniger säkular sein als heute. Ob es dann noch eine stabilisierende Rolle in der Region spielen kann, ist ungewiss. Kirgistan könnte in zwei Teile zerfallen und das persischsprachige Tadschikistan in die Einflusssphäre eines erstarkten Iran geraten, so dass Teile Mittelasiens wieder mit dem Mittleren Osten verschmelzen, zu dem sie vor Jahrhunderten einmal gehörten.

Ein solcher Vorausblick gehört natürlich ins Reich der Spekulationen und der politischen Phantasie. Welche Entwicklungen eintreten werden und welche nicht, ist von vielen unwägbaren Faktoren abhängig. Fest steht jedoch, dass es den großen Block der alten Sowjetunion nicht mehr geben wird und von dem sozialistischen Experiment bald nur noch die Alten sprechen werden. Ein Zurück gibt es nicht.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Eduard Schewardnadse, Als der Eiserne Vorhang zerriss. Begegnungen und Erinnerungen, Duisburg 2007, S. 208.

  2. Die Breschnew-Doktrin war Ausdruck des sowjetischen Anspruches auf Vorherrschaft. Sie wurde am 12. November 1968 verkündet und sollte den Einmarsch in die Tschechoslowakei nachträglich rechtfertigen. Die Doktrin besagte, dass die Mitgliedstaaten des Warschauer Vertrages nur begrenzt souverän waren und dass bei einer Gefährdung des Sozialismus in einem Mitgliedstaat die Sowjetunion intervenieren würde.

  3. Zit. nach Russland-aktuell vom 26.8.2005, online: www.aktuell.ru/russland/politik/gus-gipfel_kasan_wird_1000_jahre_alt_gus_nicht
    _2899.html (31.10.2011).

  4. Katharina Kloss, Vilnius' Kinder der (N)Ostalgie, Reportage, in: Cafebabel. Das Europamagazin vom 25.6.2009, online: www.cafebabel.de/article/30555/litauen-vilnius-kinder-der-sowjet-nostalgie.html (31.10.2011).

  5. Vgl. Andreas Stein, Ukrainische Kulturschaffende fordern radikale Ukrainisierung, in: Ukraine Nachrichten vom 7.5.2008, online: http://ukraine-nachrichten.de/ukrainische-kulturschaffende-fordern-radikale ukrainisierung_435_gesellschaft _nachrichten (31.10.2011).

  6. Sascha Rose, Vorbildliches Nordlicht, in: Focus Money, Nr. 25 (2010), online: www.focus.de/finanzen/boerse/estland-vorbildliches-nordlicht_aid_520080.html (31.10.2011).

  7. Vgl. http://estonia.eu/about-estonia/economy-a-it/e-estonia.html (31.10.2011).

  8. Vgl. Thomas Kunze/Thomas Vogel, Von der Sowjetunion in die Unabhängigkeit. Eine Reise durch 15 frühere Sowjetrepubliken, Berlin 2011, bes. Kapitel 4: "Von der UdSSR zu neuen Bündnissen".

Geb. 1959; Journalist; Redakteur der Nachrichtensendung "10 vor 10" des Schweizer Fernsehens (SF), Zürich/Schweiz. E-Mail Link: thomas.vogel@srf.ch

Dr. phil., geb. 1963; Leiter des Regionalprogramms Zentralasien der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS), Sarbog 38, 100031 Taschkent/Usbekistan. E-Mail Link: info.zentralasien@kas.de