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In rauen Gewässern | USA | bpb.de

USA Editorial Auf der Suche nach Heilung. (Wie) kann Joe Biden die Gräben überbrücken? Die amerikanische Lektion. Wie Polarisierung der Demokratie schaden kann The Hill They Climb. Die größten innenpolitischen Herausforderungen für Joe Biden und Kamala Harris Die USA zurück auf der multilateralen Bühne In rauen Gewässern. Was bedeutet Bidens Chinapolitik für Europa? Die Trump-Präsidentschaft: Eine Bilanz

In rauen Gewässern Was bedeutet Bidens Chinapolitik für Europa?

Josef Braml

/ 15 Minuten zu lesen

Die Corona-Pandemie, die seit dem Winter 2019/20 den Erdball überzieht, hat die bestehenden geoökonomischen Rivalitäten zwischen den USA und China nochmals verstärkt. Durch die Auswirkungen der Seuche ist auch Chinas Kommunistische Partei in Gefahr geraten – weshalb sie im Innern die Debatte über das Virus unterdrückte und mit einer aggressiven Außenpolitik davon ablenkte. Ebenso benötigte der damalige US-Präsident Donald Trump einen äußeren Feind, um zu Hause die Reihen zu schließen: Indem er mit scharfer Rhetorik China für die Ausbreitung des Virus verantwortlich machte, versuchte er vom eigenen Versagen abzulenken und seine Wiederwahl zu retten. So sprach er vom "China-Virus", dessen Ursprung er medienwirksam in chinesischen Labors vermutete, und von einem "Angriff", der schlimmer als Japans Überfall auf Pearl Harbor oder die Terrorattacken vom 11. September 2001 sei. Eine kritische Haltung gegenüber China nahm indes auch sein demokratischer Herausforderer Joe Biden ein: Wie Trump machte er China zu einem zentralen Wahlkampfthema, und beide Kandidaten versuchten, sich mit ihrer China-Kritik gegenseitig zu überbieten.

Auch nach der Wahl Bidens zum US-Präsidenten sollten deutsche und europäische Entscheidungsträger also mit einem härteren Vorgehen der USA gegenüber China rechnen, was auch Europas Wirtschaft und Außenpolitik beeinträchtigen wird. Mittlerweile artikulieren die politischen Verantwortlichen sowohl der Republikaner als auch der Demokraten mit immer schärferen Worten die merklich negativer gewordenen Haltungen ihrer Wählerinnen und Wähler gegenüber China.

Entkopplung statt Einbindung

In Washington gibt es einen parteiübergreifenden Konsens darüber, dass dem strategischen Rivalen China künftig auch nicht mehr durch wirtschaftlichen Austausch geholfen werden darf, ökonomisch und technologisch aufzusteigen. Vielmehr soll mit allen Mitteln verhindert werden, dass China die USA in den technologischen Schlüsselbereichen überholt. Chinas technologische Fähigkeiten verbreiten in Washington heute einen ähnlichen Schrecken wie im Herbst 1957 der Start des sowjetischen Satelliten "Sputnik 1". Um Chinas ökonomische und militärische Modernisierung zu drosseln, forcieren die Vereinigten Staaten anstelle der früheren Politik der Einbindung und Integration insbesondere seit der Amtszeit Trumps eine Strategie der wirtschaftlichen "Entkopplung" (decoupling).

In dem immer dominanter werdenden geoökonomischen Denken der Weltmächte sind wirtschaftliche Verflechtung und weltweite Arbeitsteilung nicht mehr notwendigerweise Garanten für Wohlstand und Frieden. Stattdessen werden sie zum Risiko, da Ungleichgewichte in der gegenseitigen Abhängigkeit ausgenutzt werden können. Wertschöpfungsketten und Handelsbeziehungen sind weaponizeable geworden: Das heißt, sie werden zum Objekt geostrategischer Ambitionen und können wie Waffen genutzt werden. Insbesondere international agierende deutsche Unternehmen sind in das Fadenkreuz geoökonomischer Strategien der Großmächte USA und China geraten. Denn Deutschland ist eine der international verflochtensten und somit am meisten verwundbaren Volkswirtschaften der Welt.

Steigende chinesisch-amerikanische Spannungen werden nicht nur spaltende Wirkung auf multilaterale Organisationen und regionale Handelsvereinbarungen, sondern auch erhebliche Auswirkungen auf "Dual-Options"-Länder wie Deutschland haben, die starke nationale Sicherheitsbeziehungen zu den USA unterhalten, aber ebenso umfangreiche wirtschaftliche Beziehungen mit den USA und China pflegen. Die Kosten dieser Doppelstrategie werden in Zukunft steigen, wie dies bereits im Technologiesektor sichtbar wird.

Der transatlantische Streit um die 5G-Mobilfunktechnologie des chinesischen Anbieters Huawei ist nur die Spitze des Eisbergs grundlegender Rivalitäten im technologischen Bereich. Big Data und die Fähigkeit, große Datenmengen mit künstlicher Intelligenz (KI) für wirtschaftliche Entwicklung sowie politische und militärische Macht nutzbar zu machen, sind die eigentlichen Game-Changer: Denn sie werden den Ausschlag darüber geben, wer im künftigen wirtschaftlichen und militärischen Wettbewerb führen und dann auch die Spielregeln, die Welt(wirtschafts)ordnung, in seinem Interesse bestimmen wird. Beim Konfliktthema 5G/Huawei werden die USA demzufolge gegenüber ihren Verbündeten unnachgiebig bleiben.

Im Kampf um technopolitische Einflusssphären, in denen die künftige wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft auf dem Spiel steht, wird Washington den Druck auf Drittländer wie Deutschland und deren Unternehmen erhöhen und sie vor die Wahl stellen, entweder Geschäfte mit China oder den USA preiszugeben. Eine in chinesische und amerikanische Standards und Systeme zweigeteilte Welt ist die Folge.

In dieser verschärften geoökonomischen Rivalität sind Deutschland und Europa in die Zwickmühle geraten, denn China ist ebenso im Begriff, die gegenseitigen Abhängigkeiten und Verflechtungen mit den USA zu minimieren, indem es seine Währungsreserven aus der sogenannten Dollar-Falle nimmt, seine Absatzmärkte diversifiziert, geopolitisch Raum greift und neue Abhängigkeiten schafft – nicht zuletzt auch in Europa.

Chinas raumgreifende Aktivitäten

Während die Vereinigten Staaten unter Trump damit beschäftigt waren, sich ökonomisch in das nationalistische Schneckenhaus zurückzuziehen und eigene Alliierte zu verprellen, zeigte sich China äußerst aktiv, was diplomatische Initiativen und wirtschaftliche Investitionen angeht, um den Welthandel zu seinen Bedingungen neu zu ordnen. Die umfassende sogenannte Seidenstraßeninitiative ("One Belt, One Road") ist dafür nur das bekannteste Beispiel.

Mittlerweile ist es China sogar gelungen, seine Initiative zur Regionalen Umfassenden Wirtschaftspartnerschaft (Regional Comprehensive Economic Partnership, RCEP) auszubauen. Die RCEP wurde am 15. November 2020 auf einem virtuellen Gipfel des Verbandes Südostasiatischer Nationen (ASEAN) unterzeichnet und umfasst neben China und den zehn ASEAN-Ländern Brunei, Indonesien, Kambodscha, Laos, Malaysia, Myanmar, Philippinen, Singapur, Thailand und Vietnam auch Australien, Japan, Neuseeland und Südkorea. Im Rahmen dieser von China vorangetriebenen Partnerschaft werden in der Wachstumsregion Asien-Pazifik, in der etwa ein Drittel der weltweiten Wirtschaftsleistung erbracht wird, Zölle gesenkt, Handelsregeln festgelegt und nicht zuletzt auch der Trend zu regionalen Wertschöpfungsketten verstärkt. Die RCEP verdeutlicht zudem, dass selbst die asiatisch-pazifischen Verbündeten der USA skeptisch gegenüber Washingtons Forderungen sind, sich technologisch und wirtschaftlich von China zu "entkoppeln".

Um sich gegen die von Washington betriebene wirtschaftliche Entkopplung zu wappnen, hat China nach siebenjährigen Verhandlungen mit Europa schließlich eingelenkt und zum Jahresende 2020 einer Investitionspartnerschaft zugestimmt. Künftig sollen hüben wie drüben die Investitionsbedingungen verbessert, weil fairer gestaltet werden – sobald Europas Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger diesem in seinen Details noch nicht ausgehandelten Deal zugestimmt haben werden. Trotz dieses vorläufigen "Erfolges" werden Europas Beziehungen zu China auf absehbare Zeit – auch im Hinblick auf die transatlantischen Beziehungen – ambivalent bleiben. In einem Strategiedokument vom März 2019 benannten die Europäische Kommission und die damalige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, vier Beziehungsebenen im Verhältnis der EU mit China: So ist China in einigen Politikfeldern, etwa beim Klimaschutz, ein Kooperationspartner und in anderen ein Verhandlungspartner, mit dem ein Interessenausgleich gefunden werden kann. Gleichwohl gilt China auch als Wettbewerber, wenn es etwa um technologische Innovation und Infrastruktur geht, und sogar als systemischer Rivale, der ein alternatives Global-Governance-Modell verfolgt. Chinas Seidenstraßeninitiative, die in europäischen Hauptstädten lange Zeit übersehen oder nicht ernst genommen wurde, wird nunmehr auch auf dem "Alten Kontinent" als geoökonomische Bedrohung gesehen. Denn Chinas Infrastrukturinvestitionen in weit über hundert Ländern machen auch vor Europa nicht halt und unterminieren mittlerweile sogar die Handlungsfähigkeit der EU in einer sich verschärfenden Systemrivalität.

Bislang gibt es auch noch keine gemeinsame Haltung europäischer Staaten gegenüber dem Ansinnen des chinesischen Tech-Giganten Huawei, seine 5G-Technologie in den Netzinfrastrukturen europäischer Länder zu integrieren – und diese, so insbesondere die Befürchtung Washingtons, dadurch für Chinas Einfluss und mögliche Industriespionage zu öffnen. Deutschland, dessen wirtschaftliche Beziehungen mit der Volksrepublik besonders umfangreich sind, kann durch seine Entscheidungen die Spaltung innerhalb der EU – und im transatlantischen Verhältnis – vertiefen oder sie überwinden helfen. Nicht zuletzt aufgrund des massiven Drucks der USA ist mittlerweile auch in der deutschen Debatte klarer geworden, dass die noch ausstehende Entscheidung für oder gegen den chinesischen Anbieter Huawei nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine geoökonomische und sicherheitspolitische Zukunftsfrage ist. Die US-Regierung unter Trump drohte bereits offen damit, Deutschland keine Geheimdienstinformationen mehr zu geben und deutsche Firmen, die mit Huawei weiterhin Geschäfte machen, zu sanktionieren. Unter der Biden-Administration ist diesbezüglich nur eine Änderung im Ton zu erwarten, jedoch nicht in der Sache.

Es steht viel auf dem Spiel: Sollte es China gelingen, sein autoritär-digitales Modell über Teile Asiens und Afrikas hinaus weltweit zu verbreiten, würde dies nicht nur europäische und transatlantische Bemühungen untergraben, gemeinsame globale Standards bei aufstrebenden Technologien und KI zu entwickeln, sondern auch autoritären Versuchungen Vorschub leisten – selbst bei (bislang) demokratischen Staaten. Chinas Export von Überwachungstechnologie und Techniken sozialer Kontrolle hilft zugleich, illiberale Governance- und Gesellschaftsvorstellungen zu popularisieren. Nicht zuletzt etabliert China neue internationale Foren und Organisationen, die seinen eigenen Werten und Ordnungsvorstellungen entsprechen. Darüber hinaus sollten Chinas Desinformationskampagnen, beispielsweise um die westliche Corona-Krisenbekämpfung schlecht und sich selbst in einem guten Licht erscheinen zu lassen, seine Cyberangriffe sowie seine territorialen Ansprüche und Aggressionen im Südchinesischen Meer den EU-Verantwortlichen sicherheitspolitisch zu denken geben.

Amerikas Hinwendung nach Asien

Die Region Asien-Pazifik ist im vitalen amerikanischen Sicherheits- und Wirtschaftsinteresse. Washington will in jedem Fall verhindern, dass ein möglicher Rivale den USA die See- oder Lufthoheit im eurasischen Raum streitig macht und wirtschaftliche Aktivitäten der USA unterbindet oder ihnen den Zugang zu Ressourcen verwehrt. Obwohl dies selten offen ausgesprochen wird, haben die Militäroperationen und diplomatischen Aktivitäten der USA in den vergangenen Jahrzehnten genau dieses zentrale Ziel verfolgt – so die Analyse des Congressional Research Service, des überparteilichen wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses.

Die USA und China manövrieren sich immer mehr in ein Sicherheitsdilemma: Das individuelle Streben der beiden Protagonisten nach mehr Sicherheit erzeugt am Ende mehr Unsicherheit auf beiden Seiten. Die schon seit Längerem gehegte Befürchtung amerikanischer Sicherheitsstrategen, China wolle in Ostasien eine exklusive Einflusssphäre etablieren, wird durch Chinas zunehmend aggressiven Expansionsdrang genährt. Um die für seine Wirtschaft – und seine politische Stabilität – überlebenswichtigen indopazifischen Seewege abzusichern, baut Peking seine sogenannte Blue-Water-Navy auf, das sind hochseetaugliche Marine-Einheiten, die über die Küstenverteidigung hinaus auch eine globale Machtentfaltung zur See ermöglichen sollen. Im Zuge dieser "aktiven Verteidigung" soll zunächst der Raum innerhalb der "ersten Inselkette" kontrolliert werden, der das durch Korea und Japan begrenzte Gelbe Meer, den westlichen Teil des Ostchinesischen Meeres mit Taiwan und das Südchinesische Meer umfasst. Im Anschluss soll auch der erweiterte Raum, die "zweite Inselkette", unter eigene Kontrolle gebracht werden, der sich weiter östlich von den Kurilen über Japan und südostwärts über die Bonin-Inseln und die Marianen bis zu den Karolinen-Inseln erstreckt.

Chinas raumgreifende Aktivitäten beunruhigen vor allem seine Nachbarn und drängen diese zur Zusammenarbeit in der indopazifischen Region – nicht zuletzt auch mit den USA als Schutzmacht. Dieses Auftreten Chinas in der Region hat bereits dazu geführt, dass die 2007 ins Leben gerufene Quadrilaterale Allianz (QUAD) zwischen Australien, Indien, Japan und den USA reaktiviert wurde – ein bislang informeller Sicherheitsdialog, um dem wachsenden chinesischen Einfluss im Indischen und Pazifischen Ozean entgegenzuwirken. Während die USA schon seit Längerem engere Sicherheitsbeziehungen mit Japan und Australien pflegen, war Indien bislang um Äquidistanz zu den beiden Großmächten USA und China bemüht, um seine Unabhängigkeit zu wahren und seine Beziehungen zu China nicht zu belasten. Doch die jüngsten Spannungen zwischen China und Indien haben "die größte Demokratie" der Welt, Indien, bewogen, sich der "ältesten Demokratie", den USA, wirtschaftlich und militärisch anzunähern. Ebenso wollen Indien und Australien ihre Wirtschafts- und Verteidigungsbeziehungen stärken.

Die Biden-Administration wird in der Region Asien-Pazifik weitere Anstrengungen unternehmen – auch um das Vertrauen in die USA wiederherzustellen, das von der Vorgängerregierung schwer beschädigt wurde. Die US-Regierung unter Trump hatte einen radikalen außenpolitischen Kurswechsel vollzogen und die asiatischen Verbündeten im Regen stehen lassen, nachdem diese sich zuvor, nicht zuletzt auf Druck der Obama-Regierung, für die USA und gegen ihre wirtschaftlichen Interessen mit China entschieden hatten. Zum Entsetzen seiner Alliierten hatte Trump in einer seiner ersten Amtshandlungen im Januar 2017 die US-Teilnahme an der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) gekündigt. Damit verunsicherte er die Alliierten umso mehr in der für sie existenziell wichtigen Frage, ob die USA weiterhin für ihren Schutz sorgen würden. Denn das stärkste Argument der USA unter Obama, mit dem sie Länder wie Japan dazu bewegen konnten, sich gegen ihre wirtschaftlichen Interessen mit China zu entscheiden und sich der amerikanischen TPP-Initiative anzuschließen, war der Schutzschild der USA. China wiederum antwortete auf die Ausgrenzungsversuche der USA mit der Gründung der RCEP, bei der die USA außen vor blieben.

Die Transpazifische Partnerschaft war während der Amtszeit Obamas ein Kernstück von Amerikas vielbeachteter "Hinwendung nach Asien" ("Pivot to Asia"). Dem damaligen US-Handelsbeauftragten zufolge ging es dabei längst nicht nur um ökonomische, sondern auch um strategische Ziele in der asiatisch-pazifischen Region: "In wirtschaftlicher Hinsicht würde TPP eine Gruppe zusammenbinden, die 40 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und ein Drittel des Welthandels repräsentiert. Strategisch gesehen ist TPP der Weg, über den die USA in Zusammenarbeit mit knapp einem Dutzend weiterer Länder (ein weiteres halbes Dutzend in Wartestellung) eine Führungsrolle einnehmen können, um die Regeln in einer entscheidenden, im Wandel begriffenen Region zu bestimmen." Der damalige US-Verteidigungsminister Ashton Carter brachte noch schwereres rhetorisches Geschütz in Stellung: Für ihn sei das transpazifische Handelsabkommen "genauso wichtig wie ein weiterer Flugzeugträger". Angesichts der ökonomischen und geopolitischen Perspektiven in der Wachstumsregion Asien-Pazifik gerieten der "Alte Kontinent" und die transatlantischen Freihandelsgespräche, namentlich die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (TTIP), mit den Europäern ins Hintertreffen.

Die Biden-Administration wird versuchen, die innenpolitisch schon damals schwierige, aber geoökonomisch umso dringlicher gewordene Transpazifische Partnerschaft neu zu beleben. Im härter werdenden Wettbewerb in der Region Asien-Pazifik geht es zuvorderst darum, Trumps größten strategischen Fehler zu korrigieren, der darin bestand, die TPP-Beteiligung und -Führung der USA aufzugeben. Schon für Präsident Obama und den damaligen Vizepräsidenten Biden war – zum Entsetzen der Europäer – TPP wichtiger als TTIP, um Chinas Handelspolitik einzudämmen und von ihren Verbündeten wirtschaftlichen Tribut zu fordern. Amerikas "Hinwendung nach Asien", der bereits unter der Obama/Biden-Regierung eingeschlagene "Pivot-to-Asia"-Kurs, wird von der Biden/Harris-Regierung somit wieder fortgeführt – weiterhin auf Kosten von TTIP und europäischen Interessen.

Europa muss Farbe bekennen

Obwohl die transatlantische Wirtschafts- und Sicherheitsgemeinschaft künftig auch durch die Biden-Regierung auf eine Nagelprobe gestellt werden könnte, wie der französische Präsident Emmanuel Macron befürchtet, wären eine Äquidistanz Europas zwischen den USA und China oder gar eine stärkere Annäherung an China in keinem Fall sinnvolle Optionen, allein schon wegen der Werte-Distanz zu China und der sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA. Gleichwohl sollten sich Europas Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger auf härtere Markt-Macht-Bedingungen Amerikas einstellen, die bereits von Präsident Trump forciert wurden. Die Vereinigten Staaten werden auch unter Bidens Führung ihre Wirtschafts- und Militärmacht als kompetitiven Wettbewerbsvorteil einsetzen; das gilt erst recht gegenüber schutzbedürftigen Ländern in Europa. Für militärischen und sicherheitsdienstlichen Schutz werden die USA in Verhandlungen mehr ökonomische Gegenleistungen fordern.

Um die in den USA parteiübergreifend immer deutlicher artikulierten Forderungen an die Verbündeten nach höheren Militärausgaben zu entkräften und für die eigene Sicherheit zu sorgen, sollten europäische Regierungen den seit 2017 bestehenden Verteidigungsfonds, den European Defence Fund (EDF), aufstocken. Damit sollten Rüstungsanstrengungen ausgebaut werden – auch in Kooperation mit amerikanischen Unternehmen. So könnten die in Washington bereits seit den 1990er Jahren gehegten Befürchtungen, dass Europa die USA bei Auftragsvergaben diskriminiert, die Fähigkeiten der USA gewissermaßen dupliziert und sich damit sicherheitspolitisch von der Schutzmacht emanzipieren will, als unbegründet zerstreut werden. Im Gegenzug sollten die Europäer Sicherheitsgarantien einfordern. Damit die europäischen und asiatischen Alliierten in strategischer Sicht auch künftig bereit sind, ihre wirtschaftlichen Interessen, vor allem auch mit China, preiszugeben, um weiterhin Schutz von den USA zu erhalten, wird die Schutzmacht ihrerseits dafür sorgen müssen, dass die "Pax Americana" in den Augen der Alliierten wieder glaubwürdiger und verlässlicher wird.

Damit könnte einmal mehr die Nato gefragt sein – und wiederholt dazu aufgefordert werden, sich den neuen Sicherheitsbedingungen des 21. Jahrhunderts anzupassen. Nachdem Donald Trump die Allianz mit einem "Rammbock" malträtierte (so Joe Biden) und sie auch in den Augen vieler anderer US-Beobachter zu zerstören drohte, sieht der neue US-Präsident in Allianzen nach wie vor ein nützliches Instrument, um Amerikas Macht zu vermehren und Lasten zu teilen. Neben einem klaren beiderseitigen Bekenntnis zu einer möglicherweise zu erweiternden, globalen Nato (Stichwort: "Allianz der Demokratien") wäre auch die Aufnahme europäischer Staaten in die bislang exklusive Geheimdienstallianz der "Five Eyes" denkbar, der neben den USA bislang nur Australien, Kanada, Neuseeland und das Vereinigte Königreich angehören.

Gleichzeitig sollten sich die Europäer aber nicht nur auf die Schutzmacht USA verlassen. Worthülsen wie "strategische Unabhängigkeit" oder "Autonomie" kaschieren bislang den Mangel an Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der EU, die dringend nötig wäre, um sich auf die neue, durch den sino-amerikanischen Großkonflikt geprägte Weltordnung einzustellen. Die EU ist in besonderem Maße anfällig für "Teile und herrsche"-Strategien der Großmächte. Um diese Schwäche zu überwinden und die eigene "Weltpolitikfähigkeit" zu stärken, sollte die EU in der Außen- und Sicherheitspolitik von der Illusion der Einstimmigkeit hin zu einer realistischeren Konsenssuche in Form einer qualifizierten Mehrheitsentscheidung finden. Nur ein entscheidungsfähiger europäischer Verbund gewährleistet Marktmacht und Handlungsoptionen, damit Europas Länder weiterhin selbstbestimmt wirtschaften und leben können.

Teile dieses Beitrags erschienen im Januar 2021 bereits in der Zeitschrift "Die Bundeswehr".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Der Begriff "Geoökonomie" bezeichnet nicht-militärische Instrumente staatlichen Handelns, "non-military instruments of statecraft", wie es Stuhlberg bezeichnete: Adam N. Stuhlberg, Moving Beyond the Great Game. The Geoeconomics of Russia’s Influence in the Caspian Energy Bonanza, in: Geopolitics 1/2005, S. 1–25. Vgl. auch Robert D. Blackwill/Jennifer M. Harris, War by Other Means: Geoeconomics and Statecraft, Cambridge MA 2016.

  2. So die Einschätzung des Politikwissenschaftlers Walter Russell Mead im Interview mit Anna Sauerbrey, "Trumps Weg zur Wiederwahl führt durch Peking", 2.5.2020, Externer Link: http://www.tagesspiegel.de/25791216.html.

  3. Vgl. Trump Says Coronavirus Worse "Attack" than Pearl Harbor, 7.5.2020, Externer Link: http://www.bbc.com/news/world-us-canada-52568405.

  4. Vgl. Laura Silver/Kat Devlin/Christine Huang, Republicans See China More Negatively Than Democrats, Even as Criticism Rises in Both Parties, 30.7.2020, Externer Link: http://www.pewresearch.org/fact-tank/2020/07/30; Deb Riechmann/Jonathan Lemire, Trump, Biden Try to Outdo Each Other On Tough Talk on China, 12.7.2020, Externer Link: https://apnews.com/article/025d0fea834a4c0c60b33fe56e632758.

  5. Laut einer Umfrage des Pew Research Center von Juni/Juli 2020 haben 73 Prozent der Wahlberechtigten in den USA eine schlechte Meinung von China. Das sind 26 Prozentpunkte mehr als 2018. Unter den Amerikanern herrscht ein weit verbreitetes Gefühl, dass China für den Ausbruch und auch die Ausbreitung des Corona-Virus in den USA verantwortlich ist. Vgl. Laura Silver/Kat Devlin/Christine Huang, Americans Fault China for Its Role in the Spread of COVID-19, 30.7.2020, Externer Link: http://www.pewresearch.org/global/2020/07/30.

  6. Seit der von den USA ausgegangenen Finanzkrise 2008 gilt der US-Dollar in den Augen von Chinas Entscheidungsträgern nicht mehr als "sicherer Hafen". China sieht sich deshalb in der "Dollar-Falle": Wenn Peking damit anfinge, in größerem Umfang US-Staatsanleihen zu verkaufen, würde der Dollar-Kurs merklich sinken und die bestehenden Bestände entwerten. Man würde damit nicht nur den USA, sondern auch sich selbst massiven Schaden zufügen und ist deshalb bemüht, das "ökonomische Gleichgewicht des Schreckens" nicht nachhaltig zu stören. Gleichwohl versucht China seit geraumer Zeit, sich langsam, aber sicher aus dieser "Falle" zu lösen.

  7. European Commission/High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy, EU-China – A Strategic Outlook, Joint Communication to the European Parliament, The European Council and the Council, Straßburg, 12.3.2019.

  8. Weitere Denkanstöße für die Europäer liefert ein Bericht des US-Kongresses: The United States Senate Committee on Foreign Relations, The United States and Europe: A Concrete Agenda for Transatlantic Cooperation on China, Majority Report, Washington, D.C., November 2020.

  9. Vgl. Ronald O’Rourke, A Shift in the International Security Environment. Potential Implications for Defense – Issues for Congress, Congressional Research Service (CRS), CRS Report for Congress, Washington, D.C., 14.7.2015, S. 8.

  10. 90 Prozent der chinesischen Handelsgüter sowie 40 Prozent des nach China eingeführten Erdöls werden über See befördert. Vgl. Gabriel B. Collins, China’s Dependence on the Global Maritime Commons, in: Andrew S. Erickson/Lyle J. Goldstein/Nan Li (Hrsg.), China, the United States, and 21st Century Seapower, Annapolis 2010, S. 14–37, hier S. 18.

  11. Vgl. Michael Paul/Marco Overhaus, Sicherheit und Sicherheitsdilemmata in den chinesisch-amerikanischen Beziehungen, in: Barbara Lippert/Volker Perthes (Hrsg.), Strategische Rivalität zwischen USA und China, Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP-Studie 1/2020, S. 22–26, hier S. 24.

  12. Vgl. Michèle Flournoy, Treat China’s Border Clash With India as a Clarion Call, 19.6.2020, Externer Link: http://www.ft.com/content/3757b62e-8882-4b53-8fd0-75a9bad2bc3e. Flournoy war in der Clinton-Administration Deputy Assistant Secretary of Defense for Strategy und Hauptautorin des Quadrennial Defense Review (QDR) vom Mai 1997.

  13. Michael Froman, The Strategic Logic of Trade. Remarks by Ambassador Froman at the Council on Foreign Relations, New York, 16.6.2014.

  14. Zit nach Jane Perlez, U.S. Allies See Trans-Pacific Partnership as a Check on China, 6.10.2015, Externer Link: http://www.nytimes.com/2015/10/07/world/asia/trans-pacific-partnership-china-australia.html.

  15. "We amplify our own strength, extend our presence around the globe, and magnify our impact while sharing global responsibilities with willing partners. We need to fortify our collective capabilities with democratic friends beyond North America and Europe by reinvesting in our treaty alliances with Australia, Japan, and South Korea and deepening partnerships from India to Indonesia to advance shared values in a region that will determine the United States’ future." Joseph R. Biden Jr., Why America Must Lead Again: Recusing U.S. Foreign Policy after Trump, in: Foreign Affairs 2/2020, S. 64–76, hier S. 73.

  16. Diese in ihren Grundzügen von der Clinton-Administration inspirierte Idee wurde auch schon seit Längerem von Demokraten und ihnen nahestehenden Experten in Thinktanks befürwortet. Vgl. Ivo Daalder/James Lindsay, An Alliance of Democracies. Our Way or the Highway, in: Financial Times, 6.11.2004, Externer Link: http://www.brookings.edu/opinions/an-alliance-of-democracies-our-way-or-the-highway.

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ist promovierter Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Center for Advanced Security, Strategic and Integration Studies (CASSIS) der Universität Bonn sowie Generalsekretär der deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. E-Mail Link: jbraml@uni-bonn.de, Externer Link: http://www.usaexperte.com