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Von den Deutschen lernen? - Essay | Geschichte und Erinnerung | bpb.de

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Von den Deutschen lernen? - Essay

Susan Neiman

/ 13 Minuten zu lesen

"Ein Buch mit diesem Titel würde ich niemals lesen." Einige potenzielle deutsche Leser haben mir dies ins Gesicht gesagt, ohne zu fragen, was ich mit dem provokanten Titel "Von den Deutschen lernen" im Sinn hatte. Solche Menschen, ob sie sich "antideutsch" nennen oder nicht, sind von vornherein überzeugt, dass es nichts, aber auch gar nichts von den Deutschen zu lernen gebe. Im Gegenteil: Deutsche Geschichte vor 1933 sei Vorgeschichte der NS-Herrschaft, und der Umgang mit dieser Herrschaft nach 1945 sei skandalös verlogen. – Solche Vorwürfe bestätigen meine Hauptthese, denn kein anderes Land der Welt würde ein Lob, und sei es auch so verhalten, sofort zurückweisen. Doch anstatt zu fragen, was hinter diesem Titel steckt, gingen viele davon aus, dass ich als gebürtige Amerikanerin unfähig sei, hinter den pietätvollen Beteuerungen von Schuld und Sühne den wahren Charakter der Deutschen zu erblicken. Sind Amerikaner nicht bekanntlich naiv?

Weit gefehlt. Wie alle Juden, die in Deutschland gelebt haben, könnte ich ein ganzes Buch mit den antisemitischen Erfahrungen füllen, die ich hierzulande gemacht habe. Solche Bücher kommen ja in Deutschland gut an. Dafür müsste ich nicht auf die Erfahrungen zurückgreifen, die ich in West-Berlin in den 1980er Jahren gemacht habe und die schließlich dazu führten, dass ich Ende 1988 zurück nach Amerika ging. Wie sollte ich Kinder in einem Land großziehen, wo mir eine Tagesmutter sagte: "Hätte ich gewusst, dass ihr Juden seid, hätte ich ihn nie genommen"? Die Frau war nicht besonders antisemitisch, nur besonders ehrlich. "Nicht, dass ich etwas gegen Juden habe", führte sie fort. "Schließlich könnt ihr nichts dafür. Aber ich hätte ihn nicht als normales Kind behandeln können. Jetzt, wo ich ihn kenne, ist er ein Kind wie jedes andere." Es fiel mir verdammt schwer, Berlin gegen New Haven zu tauschen, eine endlos faszinierende Großstadt gegen eine Kleinstadt, die neben einer bekannten Universität nur ein armes, verwüstetes schwarzes Ghetto zu bieten hatte. Doch wie sollte ich in einem Land bleiben, wo meine Kinder und ich ständig unsere Identität verstecken müssten?

Ein Jahrzehnt verging, ein Land wurde wiedervereinigt, eine Regierung gewechselt. Mit der rot-grünen Regierung hatte ich den Eindruck, dass die Deutschen, die es ernst mit der Vergangenheitsaufarbeitung meinten, nun an der Macht waren. Dazu kamen weitere eigene Erfahrungen: Nach Jahren als Philosophieprofessorin in New Haven und dann in Tel Aviv wurden mir die Nachteile des Lebens in anderen Ländern bewusster. Im Jahr 2000 nahm ich einen Ruf als Direktorin des Einstein Forums an.

Das hieß aber keineswegs, dass die antisemitischen Vorfälle aufhörten. Der erste fiel mir vor dem Unterzeichnen meines Arbeitsvertrags auf. Nun hatte ich Einsicht in die Akten des Instituts und war erschrocken, dass der Haushalt noch kleiner als erwartet war. Man hatte mir durchaus klargemacht, dass Fundraising zu meinen Aufgaben gehören würde. Doch wie sollte ich damit anfangen, wenn nicht einmal ein bescheidenes Spesenkonto vorhanden war, um potenzielle Spender zum Mittagessen einzuladen? "Sie sind Jüdin", erwiderte die Beamtin, eine Westdeutsche, die sich für Holocaust-Literatur interessierte. "Das werden Sie schon schaffen."

Ähnliche Bemerkungen kommen immer noch vor, und ich möchte nicht wissen, wie oft das Wort "Quotenjüdin" hinter meinem Rücken gefallen ist. Auch meine Versuche, selbstbewusst mit der Identität umzugehen, treffen auf Widerstand. Oft werde ich angefragt für Interviews zu Themen, wo das Jüdisch-Sein relevant ist; in solchen Fällen betone ich es.

"Als Jüdin glaube ich, dass … ."

"Wir wissen, dass Sie aus einer jüdischen Familie kommen", unterbrach mich neulich ein Journalist.

"Ich komme aus einer jüdischen Familie, und das heißt, dass ich Jüdin bin. Für Juden ist es kein Schimpfwort."

"Kein Schimpfwort, um Gotteswillen, aber ich weiß doch nicht, was Ihre religiösen Praktiken sind."

Meine religiösen Praktiken sind scheißegal. Spätestens seit 1935 ist bekannt, dass selbst getaufte Juden Juden bleiben. Das Judentum ist sowohl eine religiöse Gemeinschaft als auch ein Volk, dessen Geschichte dermaßen kompliziert ist, dass auch Juden seit Jahrhunderten darüber debattieren, was überhaupt jüdisch sei. Was es aber definitiv nicht ist: der unsichere, posttraumatische Umgang mit dem Thema, der zu hilflosen Ausdrücken wie "Mitbürger jüdischer Abstammung" oder "Mitmenschen jüdischen Glaubens" führt. Schon Albert Einstein hat sich über solche Euphemismen lustig gemacht. Das hat niemanden daran gehindert, ihn während des Einstein-Jahres 2005 so zu beschreiben; ein Jahr, für das man 20 Millionen Euro ausgab, um ihn zu ehren.

Mit sanften Formen des Antisemitismus lernt man umzugehen, zumal einige nicht wirklich antisemitische Vorurteile reproduzieren, sondern hilflose Unwissenheit ausdrücken. Die Unwissenheit über Juden ist nicht die gleiche, die man in Ländern – etwa Mozambik oder Peru – erlebt, wo nur wenige Juden leben. Denn die Deutschen wissen schon etwas über Juden, nämlich: Wir haben sie ermordet, auf schreckliche Weise. Dieses Wissen ist so schmerzhaft, dass es oft weitere Möglichkeiten, Wissen zu erlangen, blockiert. Das ganze Thema "Juden" ist mit Scham und Schuld verhaftet. Wen überrascht es, dass die Mehrheit der Deutschen keine Lust hat, sich weiter damit zu beschäftigen? Man hat die Lektion gelernt, kann die Namen der Hauptlager aufzählen, weiß von Krupp und anderen Großindustriellen, die von der Versklavung und dem Mord an den Juden profitierten. Muss man sich auch noch dazu mit real existierenden Juden auseinandersetzen?

Doch schlimmer als der Mangel an Wissen, der oft zur Bestätigung antisemitischer Klischees führt, sind härtere Formen des Antisemitismus. Dafür musste ich nicht auf Halle warten. Im eigenen Wohnhaus hatte ich einen oft alkoholisierten Nachbarn, der nachts gern rechten Rap spielte, antisemitische und rassistische Parolen schrie und oftmals versuchte, meine Tür einzuschlagen, nachdem ich mich über seinen Verhalten beschwert hatte.

"Das nächste Mal komme ich mit einer Kettensäge", brüllte er einmal. Daraufhin ließ ich eine Stahltür einbauen, denn die sympathischen Beamten der Neuköllner Polizei kamen immer, konnten aber nichts machen, bis nach drei Jahren die Zahl der Strafanzeigen den Staatsanwalt überzeugte, Anklage zu erheben.

Die Beispiele müssen reichen, um zu zeigen, dass mir die Unzulänglichkeiten der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung sehr wohl bekannt sind. Dennoch hindern mich zwei Gründe, in den Chor der Antideutschen einzustimmen oder die Arbeit der vergangenen Jahrzehnte für nutzlos zu erklären. Erstens: Ich bin alt genug, um Fortschritt zu sehen. Die Lage der Juden in Deutschland wie die Lage derjenigen, die einst "Ausländer" hießen, sind meilenweit entfernt von den Bedingungen, die in den 1980er Jahren herrschten, geschweige denn in den 1950er Jahren. Letztere habe ich zwar nicht miterlebt, aber wenn man liest, wie Remigranten und Nazis in der Bundesrepublik damals behandelt wurden, stehen einem die Haare zu Berge. Die Fortschritte zeigen sich in Gesetzen, in der Sprache, in dem Umgang mit Vielfalt. Reicht das? Natürlich nicht, wie die oben genannten Beispiele bezeugen. Aber niemand wird sich anstrengen, weitere Fortschritte zu machen, wenn man alle bisherigen kleinredet. Um den Antisemitismus und andere Formen des Rassismus zu bekämpfen, muss man anerkennen können, dass frühere Versuche, dies zu tun, nicht umsonst waren. So beurteile ich die heutige Vergangenheitsaufarbeitung aus einer zeitlichen Perspektive heraus und freue mich über jeden Fortschritt, auch wenn ich mich über die Unvollkommenheit ärgern kann. Noch dazu: Ich beurteile die Aufarbeitung im Vergleich zu dem, was in anderen Nationen passiert, und da fällt mein Urteil deutlich aus. Kein Land der Welt hat sich den Verbrechen seiner Geschichte auch nur annähernd so gestellt wie Deutschland. Das ist der Hauptgrund, warum ich "Von den Deutschen lernen" geschrieben habe.

Normal ist es, die eigenen Vorfahren als Helden zu betrachten. Wenn das unmöglich wird, sehen wir unsere Vorfahren als Opfer, was gleich suggeriert: Sie wären wohl Helden gewesen, wenn die Geschichte es erlaubt hätte; leider haben die Umstände sie zu Opfern gemacht. So dachte die Mehrheit der Deutschen nach 1945, so denkt die Mehrheit der Nachfahren der Konföderierten im Süden der USA bis heute. Wenn auch widerwillig und langsam, so haben die Deutschen doch eine andere Haltung angenommen: die des Täters. Zusammengefasst in Richard von Weizsäckers Rede von 1985 hieß es: Wir haben zwar gelitten, aber andere haben noch mehr gelitten, und ihr Leid ist unsere Schuld. Die Transformation des Selbstbilds von Helden zu Opfern zu Tätern ist bis heute historisch einmalig.

Die Schuld war doch auch historisch einmalig? Zur Frage der Singularität des Holocausts gibt es eine lang andauernde Debatte, die nun wieder aufgeflammt ist. Darüber habe ich schon anderswo viel geschrieben. Was den meisten Deutschen unbekannt ist: Diese Debatte gibt es auch unter Juden. Diejenigen, die die Singularität des Holocausts infrage stellen, sind keineswegs Antisemiten oder Menschen, die versuchen, die Verantwortung für den Holocaust zu mindern, weil andere Nationen ja auch Völkermord begingen. Das waren die Motive derjenigen, wie Ernst Nolte und Andreas Hillgruber, die den ersten Historikerstreit begannen. Universalistische Juden wie ich wollen den Holocaust nicht relativieren, sondern Verantwortung auch für das Leid von anderen übernehmen.

Aber es hat so lange gedauert, bis Deutsche Verantwortung für den Holocaust übernahmen! In der Tat. Und die wichtigste Lektion, die andere aus der deutschen Erfahrung lernen können, ist eben dies: Vergangenheitsaufarbeitung ist schwer. Kein Mensch will seine Vorfahren als Täter sehen. Und wenn ein Teil einer Nation darauf besteht, dass sich die Nation zu ihren Verbrechen bekennt, wird es Widerstand geben. "Nestbeschmutzer" wird der mildeste Vorwurf sein.

Als "Von den Deutschen lernen" 2019 auf Englisch erschien, waren nur 19 Prozent der Briten der Meinung, es gebe irgendetwas an dem Imperialismus ihrer Vorväter, wofür sie sich schämen sollten. Die Lage in den Vereinigten Staaten war noch schlimmer. Da werden schwarze Bürger regelmäßig ermordet von Männern, die die Fahnen der Konföderierten schwenkten – Fahnen, die auch während des Angriffs auf das Kapitol am 6. Januar 2021 zu sehen waren. Für Europäer, die amerikanische Nachrichten nicht im Original verfolgen, ist es schwer zu glauben und dennoch wahr: Es droht ein neuer Bürgerkrieg, weil der erste nie aufgearbeitet wurde. Nachfahren der Menschen, die für die Erhaltung der Sklaverei kämpften, behaupten bis heute, im Krieg sei es nicht um die Versklavung der Schwarzen gegangen, sondern um die Freiheit der Weißen – auch wenn das einzige Recht der Weißen, das tangiert wurde, das angebliche Recht war, andere Menschen zu besitzen. Es sind die gleichen Leute, die während Obamas Amtszeit skandierten, dass das Weißes Haus weiß bleiben solle, und einen rassistischen Schurken als seinen Nachfolger wählten.

Derzeit gibt es noch keinen Bürgerkrieg, aber "Geschichtskriege", wie die Amerikaner sagen. Sie finden nicht nur in den Feuilletons, sondern auch auf parlamentarischer Ebene der Bundesstaaten statt, wo beispielsweise entschieden wird, ob Texte von Martin Luther King in Schulklassen gelesen werden dürfen. Denn viel zu spät, aber dafür umso entschlossener, hat 2015 eine amerikanische Vergangenheitsaufarbeitung begonnen.

Man kann den Beginn auf den 26. Juni 2015 datieren, als Präsident Obama eine Rede auf der Trauerfeier für die neun ermordeten Kirchgänger in Charleston hielt. Diese Rede, die eine Verbindungslinie zwischen der Gewalt der Gegenwart und der Verdrängung der Gewalt der Vergangenheit zieht, wird vermutlich so bedeutend für die amerikanische Geschichte werden wie die von Weizsäckers für die Deutschen. Weder durch Weizsäckers Rede noch durch Obamas Rede wurde ein nationaler Konsens hergestellt, wie mit der Vergangenheit umgegangen werden sollte. So wie es auch zehn Jahre nach Weizsäckers Rede heftige Widerstände gegen die Wehrmachtsausstellung gab, gibt es Widerstände gegen die Versuche, die amerikanische Geschichte aufzuarbeiten. Man kann nur hoffen, dass die meisten davon gewaltfrei bleiben.

Als ich 2016 in den tiefen Süden ging, um die aufkeimende Aufarbeitung dort zu studieren, fühlten sich weiße Amerikaner von dem Gedanken provoziert, sie hätten irgendetwas von den Deutschen zu lernen. Kein Schwarzer fand den Vergleich problematisch. 2019 machte ich eine lange Lesereise quer durch die USA. Nach drei Jahren Trump war es auch weißen Zuhörern klar, dass die amerikanische Vergangenheit dringend aufgearbeitet werden muss. Auffallend war – vor allem nach der Ermordung von George Floyd – dass viele Holocaust-Museen und -Forschungszentren hören wollten, was sie aus der deutschen Erfahrung lernen könnten. Der Drang nach Solidarität war viel stärker als der Impuls, die Singularität des Holocausts zu behaupten.

Denn auch wenn der Begriff des Literaturwissenschaftlers Michael Rothbergs "multidirektionale Erinnerung" nur einigen Forschern bekannt war, gibt es diese Erfahrung seit den Sklavenzeiten. Versklavte Afrikaner schöpften Hoffnung aus biblischen Geschichten der Hebräer, die Sklaven in Ägypten waren. Die Gospel-Lieder, die diese Hoffnungen reflektieren, werden heute noch gesungen. Nach dem Bürgerkrieg etablierten jüdische Unternehmer Tausende von Schulen für die befreiten Afrikaner, denen Lesen und Schreiben während der Sklavenzeit verboten war. In den 1930er Jahren berichteten afroamerikanische Zeitungen von der Verfolgung der Juden in Deutschland und zogen Parallelen zu der eigenen Erfahrung. Viele Professoren, die aus Deutschland und Österreich emigrieren mussten, fanden Stellen an schwarzen Colleges. Albert Einstein war nur der bekannteste Emigrant, der sich, kaum den Nazis entronnen, stark für die Bürgerrechtsbewegung engagierte. Obwohl sie nur zwei Prozent der Bevölkerung stellten, machten Juden 30 Prozent aller Weißen aus, die in den 1960er Jahren im tiefen Süden für die Bürgerrechte der Schwarzen kämpften, als solches Engagement oft tödlich war.

Während der späten 1960er Jahre sind Spannungen zwischen beiden Gruppen entstanden, die bis heute nachhallen; beide Gruppen hatten Anteil daran. Dennoch sind die geteilten Erinnerungen nie verschwunden. Sie waren nicht zu übersehen, als bei den Senatswahlen in Georgia im Januar 2021 ein jüdischer und ein schwarzer Kandidat zum ersten Mal in der Geschichte dieses Südstaats eine Wahl gewonnen haben. Sie traten zusammen auf, und ihre Wahlreden haben die lange Geschichte der Solidarität zwischen Schwarzen und Juden beschworen. In Georgia wissen noch die meisten, dass der Ku-Klux-Klan Menschen aus beiden ethnischen Gruppen gelyncht hat. So haben Raphael Warnock und Jon Ossof – jedenfalls vorläufig – Bidens Chancen auf eine erfolgreiche Amtszeit gesichert. Für Amerikaner ist der Holocaust der Inbegriff des Bösen. Das hindert sie aber nicht daran, diesen zusammen mit anderen Verbrechen anzuerkennen. Von Paul Robeson über Bob Dylan zu Toni Morrison gehört es zur amerikanischen Kultur, diese geteilten Erinnerungen wachzuhalten.

Selbstverständlich gibt es Unterschiede zwischen der Verfolgung der Juden und der Verfolgung der Schwarzen. Die Vorurteile gegenüber beiden Gruppen sind höchst unterschiedlich, und die Abneigungen gegenüber Asiaten oder indigenen Völkern sind wiederum anders. Methoden von Verfolgung und Mord variieren je nach Kultur und Zeitalter. Solche Unterschiede können von Historikern, Anthropologen und Soziologen endlos untersucht werden. Moralisch gesehen sind aber solche Unterschiede belanglos. Wird ein Mensch wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe verfolgt, ist es Rassismus, der bekämpft werden soll. Die Intensität, mit der einige Forscher heute die Singularitätsthese verteidigen, ist verwunderlich.

Es verwundert umso mehr, wenn man sich an einen der größten Fehler der deutschen Vergangenheitsaufarbeitung erinnert: das Ausblenden des Antifaschismus der DDR nach der "Wende". Mehr noch: Der nach dem ersten Historikerstreit etablierte Konsens, dass der Holocaust nicht einmal mit Stalins Verbrechen verglichen werden darf, wurde vollkommen vergessen. In vielen Orten wurden die Wörter "die zwei deutschen Diktaturen" buchstäblich in Stein gemeißelt. Erst seit es nicht mehr um Kommunisten, sondern um people of color geht, haben die Deutschen die Singularität des Holocaust wiederentdeckt.

Dabei habe ich in "Von den Deutschen lernen" gezeigt, dass die DDR der Bundesrepublik in vielem voraus war, was die Anerkennung und Ahndung von Nazi-Verbrechen betrifft. Natürlich war der dortige Antifaschismus oftmals instrumentalisiert, um Unterdrückung in der DDR zu rechtfertigen. Und dennoch war die Botschaft "Die Nazis waren Verbrecher und der 8. Mai war eine Befreiung" nur in einem deutschen Staat zu vernehmen – was noch wichtiger ist als die Zahlen, die zu belegen scheinen, dass in der DDR mehr Nazis verklagt, verurteilt und aus Ämtern entfernt worden sind als in der Bundesrepublik. Es ist eine Schande, dass es bis heute keine gesamtdeutsche Erinnerungskultur gibt: Ostdeutsche haben vollkommen andere Wahrnehmungen in der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus als Westdeutsche.

Dies ist nicht nur von historischer Bedeutung. Der Antifaschismus der DDR hat nie auf der Singularität des Holocausts bestanden. Stattdessen wurde beispielweise auch der 14 Millionen ermordeten slawischen Zivilisten gedacht. Infolgedessen wurde das Gedenken manchmal als antisemitisch zurückgewiesen. Gerade als Jüdin ist mir dieser Vorwurf fremd. Historiker können Unterschiede zwischen dem Mord an den Juden und dem Mord an anderen Völkern aufzählen. Doch wie schon in meinem Buch "Das Böse denken" argumentiert, gibt es keine festen Kriterien, um Verbrechen zu vergleichen. Als Toni Morrison ihren Roman über die Sklavenzeit "den 60 Millionen und mehr" widmete, wollte die Nobelpreisträgerin darauf hinweisen, dass mehr Afrikaner durch die Sklavenzeit ihr Leben verloren als Juden im Holocaust. Aber auch Zahlen begründen keine eindeutigen Urteile.

Wenn wir über die Zulässigkeit des Vergleichens reden, müssen wir auch fragen: Wozu wird verglichen? Beim Historikerstreit war es klar: Nolte und seine Mitstreiter suchten Entlastung. Schon vor dem Krieg gehörte diese Strategie zum Nazi-Repertoire. Hitler führte den amerikanischen Raubmord an den indigenen Völkern ins Feld, um seinen Drang nach Osten zu rechtfertigen. Carl Schmitt hat 1942 den britischen Imperialismus nicht deshalb angeprangert, um zum Helden der Antikolonialisten zu werden; mitten im Ostfeldzug wollte er argumentieren, dass Deutschlands Gegner auch nicht besser seien. Die Kinder der Nazis und ihrer Mitläufer mussten nicht erst Schmitt oder Nolte lesen, um diese Abwehrgeste zu verabscheuen. Sie haben erlebt, wie die Vergleiche ihrer Eltern immer dazu dienten, deutsche Schuld zu verkleinern. Aus diesen Gründen ist die Singularitätsthese entstanden.

Wenn wir uns die Zusammenhänge des Historikerstreits vor Augen führen, wird klar, dass die Singularitätsthese als moralisches Gebot überholt ist. Es ist keine Relativierung des Holocausts, wenn wir der Verfolgung und dem Terror gegenüber anderen Völkern heute ins Gesicht schauen – und versuchen, sie soweit wie möglich wiedergutzumachen.

ist Professorin für Philosophie und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam.