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Koloniale Ursprünge? Zur Debatte um mögliche Wege von Windhuk nach Auschwitz

Jonas Kreienbaum

/ 16 Minuten zu lesen

Was der "christliche Bourgeois (…) Hitler nicht verzeiht", schrieb Aimé Césaire 1950 in seinem berühmten "Discours sur le Colonialisme", sei "nicht das Verbrechen an sich, das Verbrechen gegen den Menschen (…), nicht die Erniedrigung des Menschen an sich, sondern das Verbrechen gegen den weißen Menschen, die Erniedrigung des weißen Menschen und dass er, Hitler, kolonialistische Methoden auf Europa angewendet hat, denen bislang nur die Araber Algeriens, die Kulis Indiens und die Neger Afrikas ausgesetzt waren". Für Césaire, den bedeutenden, auf Martinique geborenen Dichter der Négritude, waren die Verbrechen der Nationalsozialisten und damit auch der Holocaust keinesfalls präzedenzlos, sondern im europäischen Kolonialismus vorweggenommen. Nur ein Jahr später veröffentlichte die Philosophin Hannah Arendt im amerikanischen Exil ihre umfangreiche Studie "The Origins of Totalitarianism", in der sie argumentierte, dass die Ursprünge totaler Herrschaft in der Geschichte des Antisemitismus und des Imperialismus zu finden seien. In den afrikanischen Kolonien habe sich erstmals der "Wunsch nach systematischer Ausrottung ganzer Rassen" entwickelt.

In der Bundesrepublik spielte die Erinnerung an die eigene Kolonialvergangenheit in den Nachkriegsjahren hingegen kaum eine Rolle. Historiker*innen sprechen mitunter von einer langen Phase der "kolonialen Amnesie". Anders als in Großbritannien, Frankreich oder Belgien gab es keine Welle der Dekolonisierung nach 1945, die eine Beschäftigung mit der Kolonialvergangenheit hätte herausfordern können; die Kolonien waren bereits nach dem Ersten Weltkrieg verlorengegangen. In Westdeutschland dominierte die "Bewältigung" der nationalsozialistischen Vergangenheit und seit den 1980er Jahren speziell des Holocaust die Erinnerung. Dabei diente, so argumentieren eine Reihe von Wissenschaftler*innen, auch das Postulat der Singularität der Schoa eine wichtige Rolle, da es erlaube, "andere historische Verbrechen auszublenden" – etwa jene der Kolonialzeit.

Seit der Jahrtausendwende lässt sich sowohl in der historischen Forschung als auch in der deutschen Öffentlichkeit eine verstärkte Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit feststellen. Dabei wurden auch die eingangs genannten Überlegungen von Césaire und Arendt aufgenommen, wurde über mögliche Kontinuitäten von kolonialer und nationalsozialistischer Herrschaft und Gewalt nachgedacht. Besonders nachdrücklich hat der Historiker Jürgen Zimmerer argumentiert, es gebe Verbindungen "von Windhuk nach Auschwitz". Für ihn basieren sowohl der europäische Kolonialismus wie auch "die nationalsozialistische Expansions- und Mordpolitik, auf im Grunde ähnlichen Konzepten von Rasse und Raum". Hinzu kommen bestimmte geteilte Herrschaftstechniken, vom Verbot von sogenannten Mischehen über Lager bis hin zum Genozid. Um diese Kontinuitätsthese entwickelte sich in den 2000er Jahren eine scharfe akademische Debatte, wobei etwa Birthe Kundrus, Robert Gerwarth und Stephan Malinowski den Vertreter*innen dieser These vorwarfen, sie würden die Bedeutung des Ersten Weltkrieges als "Schule der Gewalt" ignorieren, einen nationalen deutschen Sonderweg genozidaler Gewalt konstruieren und mit unpräzisen Begrifflichkeiten operieren.

In den vergangenen Monaten ist diese Debatte – vor dem Hintergrund einer ohnehin verstärkten öffentlichen Auseinandersetzung um koloniale Vergangenheit – mit Macht in den deutschsprachigen Feuilletons wieder zum Vorschein gekommen. Die Einladung des postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe als Eröffnungsredner der Ruhrtriennale 2020, die Übersetzung von Michael Rothbergs Arbeit zum "Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung" und A. Dirk Moses’ Essay "Der Katechismus der Deutschen" haben Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus, nach der Einzigartigkeit und Vergleichbarkeit des Holocaust und ihrem Platz in der Erinnerung der Deutschen zum Gegenstand zahlreicher Beiträge gemacht. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden die Frage erörtert, ob der europäische Kolonialismus ein Vorläufer nationalsozialistischer Gewalt war. Zunächst wird die Forschung zur Kontinuität von Rasse- und Raumdenken zusammengefasst, um schließlich am Beispiel des Konzentrationslagers als einer geteilten Herrschaftstechnik zu verdeutlichen, wie wichtig die genaue empirische Arbeit bei der Auseinandersetzung mit der Kontinuitätsfrage ist.

Vorstellungen von Rasse und Lebensraum

Als Rassismus versteht Zimmerer "nicht nur Zuschreibungen verschiedener Eigenarten an und davon abgeleitet eine bestimmte Wertigkeit der Rassen innerhalb einer angenommenen Hierarchie der Ethnien", sondern in Anlehnung an Ulrich Herbert ein Weltbild, das durch eine umfassende "Biologisierung des Gesellschaftlichen" gekennzeichnet ist. In der Forschung zur Geschichte des Rassismus herrscht eine gewisse Uneinigkeit, seit wann das Phänomen existiert. Gehen einige Forscher*innen davon aus, dass rassistische Vorstellungen bereits in der Antike feststellbar sind, halten andere die Reconquista der iberischen Halbinsel im 15. Jahrhundert oder die europäische Aufklärung für entscheidend. Große Einigkeit besteht hingegen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Rassismus und der Geschichte der europäischen Expansion gibt. Die flächendeckende Kolonialherrschaft, auf deren Höhepunkt am Ende des langen 19. Jahrhunderts Europäer (und Amerikaner und Japaner) weite Teile des Erdballs formal in Besitz genommen hatten, war ohne Rassismus nicht vorstellbar. Diese Form der Herrschaft war Produkt rassistischer Vorstellungen, sie basierte auf rassistischen Vorstellungen, und sie produzierte neuen Rassismus.

Im 19. Jahrhundert etablierte sich zusehends die Idee einer globalen Rassenhierarchie, die davon ausging, dass es zur Natur der kolonisierenden Nationen gehöre, zu herrschen, und für Kolonisierte natürlich sei, beherrscht zu werden. Eng verwandt war der Topos des "white man’s burden", der Zivilisierungsmission der Kolonialnationen, deren moralische Pflicht es sei, Kolonien zu "erwerben", die "rückständigen" Völker zu erziehen und auf eine höhere Stufe der Entwicklung zu bringen. Diese Zivilisierungsmission, so schreibt der Historiker Sebastian Conrad, "war der ideologische Kern des kolonialen Projektes". Auch wenn der Gedanke der Zivilisierungsmission besonders radikale rassistische Vorstellungen ausschloss, die von der Unerziehbarkeit der Kolonisierten und der Dominanz unveränderbarer biologischer Faktoren ausging, so unterlag ihm eine rassistische Idee der Höher- beziehungsweise Minderwertigkeit "rassischer" Gruppen. Auch war das Ziel der Zivilisierungsmission nicht die Gleichstellung der Kolonisierten mit den Kolonisatoren, nicht die Erziehung zu "schwarzen Europäern", sondern zu "perfekten Eingeborenen". Gerade in Siedlerkolonien wie in Australien oder dem südlichen Afrika, in denen Siedler und Kolonisierte in einem direkten Konkurrenzverhältnis um Land standen, spielte Erziehung kaum eine Rolle. Hier legitimierten die Kolonisierer die Landnahme damit, dass es Aborigines und Afrikaner versäumt hätten, das Land zu kultivieren. Ihre Rolle im Konkurrenzkampf mit den Weißen war im Extremfall die der "dying races", die das Kolonialland bald freigeben würden.

Die Kolonialherrschaft selbst war dann ebenfalls durch eine strikte rassistisch grundierte Einteilung in Kolonisierer und Kolonisierte gekennzeichnet, die der indische Politikwissenschaftler Partha Chatterjee mit der berühmten Formulierung der "rule of colonial difference" bezeichnet hat. Ein einschlägiges Beispiel ist die duale Rechtsordnung in den Kolonien. Während für Europäer das Recht des Mutterlandes galt, gab es für die Kolonisierten ein "Eingeborenenrecht", das sich angeblich an lokalen Gebräuchen orientierte. Dieses sah unter anderem rigide körperliche Strafen vor, die für Europäer schon seit Längerem abgeschafft worden waren, bot keine Berufungsmöglichkeiten und überließ die Rechtsprechung den Bezirksamtsmännern. Praktizierter Rassismus schlug sich aber auch in der Planung von Kolonialstädten nieder. Von Delhi über Algier bis Windhuk waren diese durch eine Segregation der Lebenswelten gekennzeichnet. Überall wurden exklusive Viertel für Weiße errichtet, die von den Vierteln der Einheimischen durch sogenannte cordons sanitaires abgegrenzt waren. So verlegten die deutschen Kolonialbehörden die afrikanische Bevölkerung Windhuks Anfang des 20. Jahrhunderts in eine neue Lokation zwei Kilometer außerhalb der Stadt. Schließlich förderte Kolonialherrschaft auch neuen Rassismus, etwa wenn die Kolonisierten sich nicht an die Regeln der "zivilisierten Kriegsführung" hielten und damit in den Augen europäischer Militärs ihre Minderwertigkeit bestätigten.

Dass Rassismus nicht nur für den Kolonialismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zentral war, sondern auch für die nationalsozialistische Ideologie, ist offenkundig. Schon in "Mein Kampf" hatte Hitler geschrieben, der völkische Staat habe die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu setzen. Er habe eine eugenische Politik umzusetzen, die dafür Sorge trage, dass sich nur die Gesunden fortpflanzen, um das deutsche Volk zu stärken und auf den unvermeidlichen Rassenkampf vorzubereiten. Erst dieser globale Kampf ums Dasein werde in letzter Instanz entscheiden, welche Rasse die Beste sei. Hauptgegner in dieser Auseinandersetzung war das "Weltjudentum". Der Antisemitismus stand im Zentrum nationalsozialistischer Ideologie, aber auch Slawen, Sinti und Roma, Afrikaner und schwarze Deutsche wurden als "artfremde Blutsangehörige" diskriminiert, verfolgt und zum Teil ermordet. Umstritten ist in der Forschung, inwiefern sich der NS-Antisemitismus sinnvoll als eine spezielle Form des Rassismus fassen lässt oder ob er etwa angesichts seiner "wahnhaft-weltverschwörerischen" Qualität davon kategorisch zu unterscheiden sei.

Inwiefern ein direkter Zusammenhang zwischen Kolonial- und NS-Rassismus existierte, kann hier nur anhand eines Beispiels angedeutet werden, der Biografie des Rassenbiologen Eugen Fischer. 1908, ein Jahr, nachdem der genozidale Krieg gegen Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika beendet war, reiste dieser für anthropologische Feldforschungen in die Kolonie. Fünf Jahre später veröffentlichte er dann seine Untersuchung über die "Rehobother Bastards", die Nachfahren weißer Farmer und afrikanischer Nama-Frauen, die im 19. Jahrhundert aus der britischen Kapkolonie ins zentralnamibische Rehoboth ausgewandert waren. In dieser Studie warnte er eindringlich vor einer möglichen "Rassenmischung", da "jeder Tropfen Blut von farbigen Rassen, der in unserm Volkskörper Aufnahme findet, uns schädigt, unheilbar schädigt". Auf dieser Arbeit zum "Bastardierungsproblem beim Menschen" gründete sein wissenschaftliches Renommee, das ihn zum Professor und schließlich Rektor der Berliner Universität machte und ihm auch den Direktorenposten des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik einbrachte. Das Institut entwickelte sich ab 1933 zur "maßgeblichen Denkfabrik für die NS-Rassen- und Bevölkerungspolitik", und NS-Kommentatoren der Nürnberger Rassegesetze von 1935 bezogen sich ausdrücklich auf Fischers Forschungen.

Eng mit den rassistischen Vorstellungen eines Kampfes ums Dasein zwischen den Völkern verknüpft war sowohl im kolonialen Kontext der Jahrhundertwende wie bei den Nationalsozialisten die Idee des "Lebensraums". Denn, wie Zimmerer schreibt, war es der Lebensraum, der einem Volk vor allem fehlte, "dessen Größe in der Zahl seiner ‚rassisch gesunden‘ Mitglieder lag". Es war dieser Gedanke, der von Befürwortern eines deutschen Kolonialerwerbs in den 1880er Jahren unter anderem ins Feld geführt wurde. Anstatt jährlich 200.000 Deutsche durch Auswanderung nach Amerika zu verlieren, gelte es, diese Migrationsströme in eigene Siedlungskolonien umzulenken und für das Vaterland zu erhalten. Vor diesem Hintergrund, so schrieb der Historiker Heinrich von Treitschke 1884, werde "die Kolonisation zur Daseinsfrage". Deutschland erschien als "Volk ohne Raum", um den Titel des berühmten Romans und Bestsellers von Hans Grimm aus dem Jahr 1926 zu zitieren. Dieses Schlagwort adaptierten bald die Nationalsozialisten, allerdings lag der zu erobernde Lebensraum für sie nicht mehr wie bei Grimm im südlichen Afrika, sondern in Osteuropa. Zahlreiche Historiker*innen haben in den vergangenen Jahren argumentiert, dass es sich bei den nationalsozialistischen Eroberungs- und Siedlungsplänen für das "Ostland" um ein gigantisches und extrem radikalisiertes siedlungskoloniales Projekt gehandelt habe. Den radikalsten Ausdruck fanden die NS-Planungen im sogenannten Generalplan Ost, der in verschiedenen Versionen vorliegt und die Ermordung oder Deportation von etwa 30 Millionen Slawen aus Ostmittel- und Osteuropa vorsah. Das frei gemachte Land sollte anschließend von ein paar Millionen deutschstämmigen Siedlern in Besitz genommen werden.

Das Konzentrationslager als geteilte Herrschaftstechnik

Lassen sich durchaus Ähnlichkeiten im Rasse- und Raumdenken für Kolonialismus und Nationalsozialismus konstatieren, soll nun die Kontinuitätsfrage an einer konkreten Herrschaftstechnik im Detail überprüft werden. Im Fokus des folgenden Abschnittes steht mit dem Konzentrationslager eine koloniale Erfindung, die zum Emblem des NS-Terrors werden sollte.

Die ersten concentration camps errichteten die Briten im Jahr 1900 im Zuge des Südafrikanischen Krieges (1899–1902), den sie gegen die zuvor unabhängigen Burenrepubliken des Oranje-Freistaates und des Transvaal führten. Als die Buren, Nachfahren europäischer Siedler, die seit dem 17. Jahrhundert nach Südafrika gekommen waren, den Krieg ab Mitte 1900 als Guerillas fortführten, reagierte das britische Militär mit einer "Strategie der verbrannten Erde". Britische Kolonnen durchkämmten das Land, brannten alle Häuser und Felder nieder, trieben das Vieh ab und deportierten die Zivilbevölkerung, Buren und Afrikaner, in neu errichtete Lager. Ohne die Unterstützung der Zivilisten, die die burischen Kommandos zuvor mit Unterschlupf, Nahrung, neuen Rekruten und Informationen über Feindbewegungen versorgt hatten, so das militärische Kalkül, würde der Krieg bald zu Ende sein. Die Primärfunktion der britischen Konzentrationslager war also die Beendigung eines langwierigen Kolonialkrieges. Ganz ähnlich gingen zeitgleich US-Militärs auf den Philippinen und bereits einige Jahre zuvor die Spanier auf Kuba vor – nur dass sie die Zivilbevölkerung in existierenden Ortschaften und nicht in Lagern internierten. Ab 1904/05 errichtete schließlich auch die deutsche "Schutztruppe" Konzentrationslager in Südwestafrika, die ebenfalls primär der Beendigung des Krieges gegen Herero und Nama dienen sollten.

In der historischen Forschung sind diese kolonialen Konzentrationslager – und zwar vor allem die deutschen – vielfach mit verschiedenen NS-Lagern in Bezug gesetzt worden. Am weitesten ging sicherlich Benjamin Madley, der das deutsche Koloniallager auf der Haifischinsel als "grobes Modell für spätere Nazi-Vernichtungslager (…) wie Treblinka und Auschwitz" bezeichnet hat. Der einzige Zweck von Vernichtungslagern wie Treblinka oder Sobibor war die sofortige Ermordung praktisch aller Neuankömmlinge – in der überwältigenden Mehrheit Juden – binnen weniger Stunden. Eine Entsprechung hat es im kolonialen Rahmen nicht gegeben. Zwar war die Sterblichkeit in den kolonialen Konzentrationsstätten enorm – mit etwa 50.000 Toten unter 250.000 Internierten in Südafrika und einer Mortalität von über 40 Prozent unter den schätzungsweise 25.000 Gefangenen in Deutsch-Südwestafrika. Doch starben die Internierten hier an Mangelversorgung, Krankheiten und Zwangsarbeit, nur in Ausnahmefällen durch direkte Ermordung.

Sinnvoller ist der Vergleich mit den "normalen" nationalsozialistischen "Konzentrationslagern im ‚Dritten Reich‘, etwa Buchenwald oder Dachau", wie ihn Joachim Zeller vorgeschlagen hat. Doch auch hier offenbart ein genauer Blick gewichtige Unterschiede. Die Ursprungsfunktion kolonialer Lager war – wie oben beschrieben – eine militärische. Es ging um die Beendigung langwieriger Kolonialkriege, die häufig als Guerillakriege geführt wurden. Die Nationalsozialisten errichteten ihre Konzentrationslager 1933 hingegen zunächst als Instrumente zur Bekämpfung innenpolitischer Opposition. Mit dieser unterschiedlichen Primärfunktion ging eine Reihe von phänomenologischen Differenzen einher. Koloniale Konzentrationslager waren an den Kolonialkriegszustand gebunden und verschwanden, sobald der Krieg beendet war. Sie waren reine Provisorien. Die britischen Burenlager etwa bestanden meist ausschließlich aus Zelten, die schnell auf- und schnell wieder abgebaut waren. Nationalsozialistische Konzentrationslager erfüllten als innenpolitische Kampfinstrumente, die bald auch weitere Funktionen übernehmen sollten, hingegen einen dauerhaften Auftrag und waren ab Mitte der 1930er Jahre als permanente Institutionen angelegt. Sie verfügten, wie etwa das neu errichtete Lager Sachsenhausen, über eine vergleichsweise aufwändige Infrastruktur mit Häftlingsbaracken, Krankenbauten, Küchen und Waschräumen aus Stein. Gleichzeitig waren die Insassenzahlen in den Koloniallagern, wo ganze Bevölkerungen interniert wurden, lange viel höher als im nationalsozialistischen KZ-System. Während in allen NS-Konzentrationslagern zusammen Mitte 1935 gerade einmal 4.000 Häftlinge eingesperrt waren, waren es in Südafrika nach einigen Monaten 200.000 und in Kuba sogar die doppelte Anzahl. Solche Zahlen erreichten die Nationalsozialisten erst in der zweiten Kriegshälfte. Geringere Häftlingszahlen und bessere Infrastruktur helfen darüber hinaus den erstaunlichen Befund zu erklären, dass die Sterblichkeit in den kolonialen Lagern jene in den NS-Konzentrationslagern lange deutlich überstieg. Auch hier zog das KZ-System erst in der zweiten Kriegshälfte gleich, um im letzten Kriegsjahr alles in den Schatten zu stellen.

Neben diesen gewichtigen Unterschieden zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Konzentrationslagern sei abschließend auf eine interessante funktionale Gemeinsamkeit verwiesen: Die Ausbeutung der Arbeitskraft der Internierten gewann mit der Zeit in den deutschen Koloniallagern und bei den Nationalsozialisten enorm an Bedeutung. In der zweiten Kriegshälfte bildete sich in den NS-Lagern ein System der Häftlingsvermietung heraus. Die Hauptlager dienten nun vor allem dazu, neu ankommende Häftlinge auf die verschiedenen Außenlager zu verteilen, die jetzt häufig in der Nähe von großen Betrieben existierten. Die Firmen, die meist in der Rüstungsindustrie tätig waren, mieteten die Insassen gegen eine Gebühr vom Wirtschaftsverwaltungshauptamt der SS als Zwangsarbeiter*innen. Ein ganz ähnliches System der Vermietung hatte sich im kleineren Stil ab 1905 auch in den Lagern in Deutsch-Südwestafrika etabliert. Insgesamt aber überwiegen eindeutig die Unterschiede zwischen kolonialen und NS-Lagern.

Ein kausaler Zusammenhang?

Es lässt sich konstatieren, dass Rasse- und Raumdenken sowohl im Kolonialismus als auch bei den Nationalsozialisten eine wichtige Rolle spielte. Damit soll nicht gesagt werden, sie seien "deckungsgleich" gewesen. So spielte etwa der Gedanke der "Zivilisierungsmission" anders als in den Kolonien im NS-Antisemitismus praktisch keine Rolle. Aber eine gewisse Ähnlichkeit lässt sich schwerlich leugnen.

Gab es einen kausalen Zusammenhang, der diese Gemeinsamkeiten erklären kann? Die Biografien bestimmter Personen, wie Eugen Fischer, mögen eine Verbindung herstellen. Versuchten NS-Akteure darüber hinaus gezielt aus den kolonialen Erfahrungen des 19. Jahrhunderts zu lernen? In der Tat ist eine Reihe von Aussagen überliefert, die genau das suggerieren. So konstatierte Hitler in einem viel zitierten Monolog aus dem September 1941: "Der russische Raum ist unser Indien, und wie die Engländer es mit einer Handvoll Menschen beherrschen, so werden wir diesen unseren Kolonialraum regieren. Den Ukrainern liefern wir Kopftücher, Glasketten als Schmuck und was sonst Kolonialvölkern gefällt." Und bereits ein Jahr zuvor, im Januar 1940, hatte er während einer Rede im Berliner Sportpalast erklärt: "Damals [im Burenkrieg, J.K.] wurde das Konzentrationslager erfunden. In einem englischen Gehirn ist die Idee geboren worden. Wir haben nur im Lexikon nachgelesen und haben das dann später kopiert. Nur mit einem Unterschied: England hat Frauen und Kinder in diese Lager gesperrt. Über 20.000 Burenfrauen sind damals jämmerlich zugrunde gegangen."

Doch angesichts der gewichtigen Unterschiede zwischen kolonialen und nationalsozialistischen Konzentrationslagern, was hätten die Nationalsozialisten eigentlich von den britischen Lagern lernen sollen? Hitlers Aussage ist hier weniger als Hinweis auf einen tatsächlichen Lernprozess zu lesen, sondern als politische Propaganda. Angesichts des Krieges gegen England wollte er seine "Volksgenossen" darauf einstellen, dass die Briten auch vor dem Mord an Frauen und Kindern nicht zurückschrecken würden, der Krieg also auch von deutscher Seite nicht mit Samthandschuhen geführt werden könne. Gleichzeitig war der Hinweis auf die "englische Idee" eine elegante Möglichkeit, die britische Kritik an den NS-Konzentrationslagern zu entkräften. . Das Beispiel der Lager unterstreicht, dass die suggestive These von den Wegen, die von Windhuk nach Auschwitz führen, einer genauen empirischen Überprüfung bedarf, die bisher nur in Ansätzen erfolgt ist. Weitere quellengestützte geschichtswissenschaftliche Arbeiten können der öffentlich geführten Debatte um Kontinuität oder Singularität nur guttun.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Aimé Césaire, Über den Kolonialismus, Berlin 2017 (1950), S. 28f.

  2. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München–Zürich 200611 (1951), S. 407. Dennoch spricht Arendt vom Holocaust als "Verbrechen eines Völkermordes, der in der Geschichte ohne Beispiel ist". Ebd., S. 25.

  3. Jürgen Zimmerer, Kolonialismus und kollektive Identität: Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Bonn 2013, S. 9–37, hier S. 9. Vgl. auch Sebastian Conrad, Rückkehr des Verdrängten? Die Erinnerung an den Kolonialismus in Deutschland 1919–2019, in: APuZ 40–42/2019, S. 28–33; Andreas Eckert/Albert Wirz, Wir nicht, die Anderen auch. Deutschland und der Kolonialismus, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/M.–New York 2002, S. 372–392.

  4. A. Dirk Moses, Der Katechismus der Deutschen, 23.5.21, Externer Link: https://geschichtedergegenwart.ch/der-katechismus-der-deutschen. Vgl. auch Reinhart Kößler/Henning Melber, Völkermord – und was dann? Die Politik deutsch-namibischer Vergangenheitsbearbeitung, Frankfurt/M. 2017, S. 42–45.

  5. Jürgen Zimmerer, Holocaust und Kolonialismus. Beitrag zu einer Archäologie des genozidalen Gedankens, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51/2003, S. 1098–1119, hier S. 1102. Seine Beiträge zur Kontinuitätsfrage erschienen noch einmal gesammelt als ders., Von Windhuk nach Auschwitz? Beiträge zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust, Berlin 2011.

  6. Siehe etwa Birthe Kundrus, Kontinuitäten, Parallelen, Rezeptionen. Überlegungen zur "Kolonialisierung" des Nationalsozialismus, in: WerkstattGeschichte Jg. 43/2006, S. 45–62; Robert Gerwarth/Stephan Malinowski, Der Holocaust als "kolonialer Genozid"? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33/2007, S. 439–466. Als Überblick siehe Thomas Kühne, Colonialism and the Holocaust. Continuities, Causations, and Complexities, in: Journal of Genocide Research 15/2013, S. 339–362.

  7. Dazu u.a. Andreas Eckert, Postkoloniale Zeitgeschichte?, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 3/2020, S. 530–543; Randi Becker, Gleichheit und Differenz. Achille Mbembe, der Holocaust und das Judentum, in: Jan Gerber (Hrsg.), Die Untiefen des Postkolonialismus, Berlin 2021, S. 104–119.

  8. Siehe Michael Rothberg, Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin 2021; Jürgen Zimmerer/Michael Rothberg, Enttabuisiert den Vergleich!, 30.3.2021, Externer Link: http://www.zeit.de/2021/14/erinnerungskultur-gedenken-pluralisieren-holocaust-vergleich-globalisierung-geschichte; Moses (Anm. 4), und als eine beispielhafte Gegenstimme Götz Aly, "Es gibt nichts, das deckungsgleich mit dem Holocaust wäre", 13.7.2021, Externer Link: http://www.deutschlandfunkkultur.de/goetz-aly-es-gibt-nichts-das-deckungsgleich-mit-dem.1013.de.html?dram:article_id=500220.

  9. Zimmerer (Anm. 5), S. 1103.

  10. Zur Geschichte des Rassismus siehe Christian Geulen, Geschichte des Rassismus, München 20214; Karin Priester, Rassismus. Eine Sozialgeschichte, Leipzig 2003; Boris Barth, Rassismus, 12.3.2010, Externer Link: http://ieg-ego.eu/de/threads/europa-und-die-welt/rassismus.

  11. Vgl. Sebastian Conrad, Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 70–75; Boris Barth, Die Grenzen der Zivilisierungsmission. Rassenvorstellungen in den europäischen Siedlungskolonien Virginia, den Burenrepubliken und Deutsch-Südwestafrika, in: ders./Jürgen Osterhammel (Hrsg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 201–228.

  12. Partha Chatterjee, The Nation and Its Fragments. Colonial and Postcolonial Histories, Princeton 1993, S. 14–34.

  13. Vgl. Conrad (Anm. 11), S. 65–70; Rebekka Habermas, Skandal in Togo. Ein Kapitel deutscher Kolonialherrschaft, Frankfurt/M. 2016, S. 77–107.

  14. Vgl. Eric Lewis Beverly, Colonial Urbanism and South Asian Cities, in: Social History 4/2011, S. 482–497; Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 20093, S. 412–432; Dörte Lerp, Imperiale Grenzräume. Bevölkerungspolitiken in Deutsch-Südwestafrika und den östlichen Provinzen Preußens 1884–1914, Frankfurt/M.–New York 2016, S. 267–291.

  15. Vgl. Priester (Anm. 10), S. 237–246; Geulen (Anm. 10), S. 99–103; Birthe Kundrus, Von Windhoek nach Nürnberg? Koloniale "Mischehenverbote" und die nationalsozialistische Rassengesetzgebung, in: dies. (Hrsg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt/M.–New York 2003, S. 110–131.

  16. Steffen Klävers, Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, Berlin–Boston 2019, S. 219; siehe auch Philipp Lenhard, "Weiße Juden". Zum Unterschied von Rassismus und Antisemitismus, in: Jan Gerber (Hrsg.), Die Untiefen des Postkolonialismus, Berlin 2021, S. 47–72.

  17. Eugen Fischer, Die Rehobother Bastards und das Bastardierungsproblem beim Menschen, Jena 1913.

  18. Kathrin Roller, Der Rassenbiologe Eugen Fischer, in: Ulrich van der Heyden/Joachim Zeller (Hrsg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002, S. 130–133; Kundrus (Anm. 15).

  19. Zimmerer (Anm. 5), S. 1103.

  20. Zit. nach Conrad (Anm. 11), S. 25.

  21. Jürgen Zimmerer, Die Geburt des "Ostlandes" aus dem Geiste des Kolonialismus. Die nationalsozialistische Eroberungs- und Beherrschungspolitik in (post)kolonialer Perspektive, in: Sozial.Geschichte H. 19/2004, S. 10–43; zum Generalplan Ost siehe Götz Aly/Susanne Heim, Vordenker der Vernichtung. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, Frankfurt/M. 2013.

  22. Benjamin Madley, From Africa to Auschwitz: How German South West Africa Incubated Ideas and Methods Adopted and Developed by Nazis in Eastern Europe, in: European History Quarterly 3/2005, S. 429–464, hier S. 446.

  23. Jonas Kreienbaum, "Ein trauriges Fiasko". Koloniale Konzentrationslager im südlichen Afrika, 1900–1908, Hamburg 2015; Sara Berger, Experten der Vernichtung. Das T4-Reinhardt-Netzwerk in den Lagern Belzec, Sobibor und Treblinka, Hamburg 2013.

  24. Joachim Zeller, "Ombepera i koza – Die Kälte tötet mich". Zur Geschichte des Konzentrationslagers Swakopmund (1904–1908), in: Jürgen Zimmerer/ders. (Hrsg.), Völkermord in Deutsch-Südwestafrika. Der Kolonialkrieg (1904–1908) in Namibia und seine Folgen, Berlin 2003, S. 64–79, hier S. 76.

  25. Kreienbaum (Anm. 22), S. 293–309.

  26. Vgl. ebd.

  27. Aly (Anm. 8).

  28. Adolf Hitler, Monologe im Führerhauptquartier 1941–44. Die Aufzeichnungen Heinrich Heims herausgegeben von Werner Jochmann, Hamburg 1980, S. 60–64.

  29. Max Domarus (Hrsg.), Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945, Bd. 2/1: 1939–1940, München 1965, S. 1459.

  30. Vgl. Paul Moore, "And What Concentration Camps Those Were!" Foreign Concentration Camps in Nazi Propaganda, 1933–9, in: Journal of Contemporary History 3/2010, S. 649–674.

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ist habilitierter Historiker und als Privatdozent am Historischen Institut der Universität Rostock tätig.
E-Mail Link: jonas.kreienbaum@uni-rostock.de