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Arbeiterbewegung, Antisemitismus und jüdische Emanzipation | Jüdisches Leben in Deutschland | bpb.de

Jüdisches Leben in Deutschland Editorial 321: Das Exzerpt aus einem Brief und seine Folgen Arbeiterbewegung, Antisemitismus und jüdische Emanzipation Exklusion und Gewalt. Deutsche Juden im Ersten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit Jüdischer Sport und Antisemitismus. Geschichte und Gegenwart Jüdische Esskultur. Traditionen und Trends Generation wütend. Die Zeitschrift "Jalta" als Sprachrohr junger Jüd*innen "Ich weiß, dass sie existieren …" Kontexte der Begegnung junger Menschen mit jüdischem Leben

Arbeiterbewegung, Antisemitismus und jüdische Emanzipation

Riccardo Altieri Mario Keßler

/ 16 Minuten zu lesen

Die proletarische Emanzipation und der Kampf gegen den Antisemitismus gingen im 19. und 20. Jahrhundert eine spannungsreiche Beziehung ein. Proletarier und Juden gehörten zu den Benachteiligten der aufstrebenden bürgerlichen Gesellschaft. Der Grad der Benachteiligung war indes sehr unterschiedlich: Das materielle Elend der noch ins 19. Jahrhundert hinein in den Ghettos lebenden Juden war durchaus mit der schlimmen Lage des "Vierten Standes" (der Arbeiterklasse) vergleichbar. Doch in West- und Mitteleuropa war schon in der ersten Jahrhunderthälfte nach 1800 ein jüdisches Bürgertum entstanden, das zu Wohlstand gekommen war und dessen Angehörige die Rechtsgleichheit innerhalb der existierenden Gesellschaft einforderten, keineswegs jedoch deren Überwindung anstrebten, wie es die Arbeiterbewegung auf ihre Fahnen schrieb.

Die Entwicklungsetappen der deutschen Arbeiterbewegung sind eng verbunden mit den Zäsuren der deutschen Geschichte: Vier Jahre nach der Reichseinigung entstand 1875 die einheitliche Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), aus der 1890 die SPD wurde. Ihre legale Existenz wurde durch den Sturz des ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck und den Übergang zur Wilhelminischen Periode des Kaiserreichs ermöglicht. Die Spaltung der Partei fiel mit der Spaltung der deutschen Gesellschaft in der Endphase des Ersten Weltkriegs zusammen, ihr Verbot und ihre Neukonstituierung in Deutschland mit Aufstieg und Ende der NS-Diktatur.

Auch die antisemitische Bewegung ist in ihren Zäsuren an die politischen und wirtschaftlichen Konjunkturen in Deutschland gekoppelt. Das erste Erstarken des organisierten Antisemitismus fällt mit der langen Wirtschaftskrise der 1870er bis 1890er Jahre zusammen. In den Jahren des wirtschaftlichen Hochs, in denen Deutschland bis 1914 zur zweitstärksten Industriemacht der Welt wurde, trat der organisierte Antisemitismus hinter andere Manifestationen des Nationalismus zurück, ohne allerdings auszusterben. In der Not des Krieges erstarkten judenfeindliche Vorurteile, um schließlich in den Krisenjahren der Weimarer Republik zur politisch mitentscheidenden Kraft zu werden, die dazu beitrug, dass der erste Versuch einer Demokratie in Deutschland scheiterte.

Sozialdemokratie und jüdische Emanzipation im Kaiserreich

Arbeiterbewegung und Antisemitismus waren von ihren politischen und ideengeschichtlichen Ursprüngen her einander entgegengesetzt. Es genügt hier, auf die Schlüsselkategorie der Emanzipation zu verweisen, von der aus sich das gegensätzliche Selbstverständnis von sozialistischer Arbeiterbewegung und Antisemitismus gut erfassen lässt. Für die Juden, so der israelische Historiker Walter Grab, bedeutete Emanzipation ursprünglich "das Verlassen jener von uralten Religionsgesetzen geprägten Welt, in der der Rabbiner uneingeschränkte Autorität besaß. Infolge des Untergangs der ständischen Privilegienordnung war die jüdische Sonderexistenz nicht mehr aufrechtzuerhalten. Der Kampf um die Emanzipation der Juden war seit Anbeginn Teil des allgemeinen Kampfs von Aufklärern und Revolutionären um Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit: Sollte die gesellschaftliche Integration der Juden erfolgreich sein und allen politischen Wechselfällen standhalten, so musste die demokratische Idee und Lebensform im öffentlichen Bewusstsein fest verankert sein."

In Deutschland misslangen jedoch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Versuche, dem auf Volkssouveränität basierenden demokratischen Prinzip zum Sieg zu verhelfen. Dies war Ausdruck der politischen Defizite des 1871 durch "Blut und Eisen" zusammengeschmiedeten Kaiserreichs. Dieses krankte daran, wie der Historiker Arthur Rosenberg 1928 schrieb, dass der politische Kompromiss zwischen Junkern und Bürgertum "in der Form des bürokratischen Selbstherrschertums" verwirklicht wurde, was die Arbeiterklasse praktisch außerhalb der Staatsordnung stellte. Die Bourgeoisie hatte sich im Wesentlichen mit den wirtschaftlichen Machtpositionen zufriedengegeben, ohne der Monarchie und dem Junkertum die politische Entscheidungsgewalt abzuringen. Der Ruf nach einer Parlamentarisierung des Reichs wurde somit vor allem eine Sache der Sozialdemokratie.

Als soziokulturelle Minderheit waren die Juden trotz und gerade wegen ihrer Assimilationsbestrebungen besonders von der jeweiligen politischen Atmosphäre betroffen. Ende der 1870er Jahre entstand eine Reihe antisemitischer Gruppierungen, von denen die Christlich-Soziale Partei des Berliner Hofpredigers Adolf Stoecker die wichtigste wurde. Bis zur Mitte der 1890er Jahre blieben die Antisemiten ein politisch relevanter Faktor, bevor mit dem langen Wirtschaftsaufschwung ihre Bedeutung zunächst abnahm.

Zur Abwehr des Antisemitismus beriefen die Sozialdemokraten Anfang 1881 eine Massenversammlung nach Berlin ein. Der sozialdemokratische Theoretiker Eduard Bernstein schrieb über die enthusiastische Zustimmung der Arbeiter zu den Reden, die gegen "den mit der antisemitischen Agitation verbundenen Lug und Trug" gehalten wurden. Ein Beschluss der Versammlung wandte sich "gegen eine Schmälerung der den Juden verfassungsmäßig garantierten staatsbürgerlichen Gleichstellung" und warnte "alle städtischen und ländlichen Lohnarbeiter Deutschlands vor den Betörungsversuchen gewisser angeblicher Volksfreunde der verschiedensten Art, sich nicht zu einer Beteiligung an jener Bewegung verleiten und als Werkzeug für solche bewusst oder unbewusst volksfeindlichen Zwecke gebrauchen zu lassen".

In Reaktion auf den österreichischen und deutschen Antisemitismus warnte Friedrich Engels, der in London lebende Weggefährte des 1883 verstorbenen Karl Marx, am 9. Mai 1890 in der Wiener "Arbeiterzeitung" davor, sich von der antikapitalistischen Rhetorik der Antisemiten verführen zu lassen. Der Antisemitismus sei "nichts anderes als eine Reaktion mittelalterlicher, untergehender Gesellschaftsschichten gegen die moderne Gesellschaft, die wesentlich aus Kapitalisten und Lohnarbeitern besteht, und dient daher nur reaktionären Zwecken unter scheinbar sozialistischem Deckmantel; er ist eine Abart des feudalen Sozialismus, und damit können wir nichts zu schaffen haben. Ist er in einem Lande möglich, so ist das ein Beweis, dass dort noch nicht genug Kapital existiert. Kapital und Lohnarbeit sind heute untrennbar. Je stärker das Kapital, desto stärker auch die Lohnarbeiterklasse, desto näher also das Ende der Kapitalistenherrschaft. Uns Deutschen, wozu ich auch die Wiener rechne, wünsche ich also recht flotte Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaft, keineswegs deren Versumpfen im Stillstand.

Dazu kommt, dass der Antisemitismus die ganze Sachlage verfälscht. Er kennt nicht einmal die Juden, die er niederschreit. Sonst würde er wissen, dass hier in England und in Amerika, dank der osteuropäischen Antisemiten, und in der Türkei, dank der spanischen Inquisition, es Tausende und aber Tausende jüdischer Proletarier gibt; und zwar sind diese jüdischen Arbeiter die am schlimmsten ausgebeuteten und die allerelendesten. Wir haben hier in England in den letzten zwölf Monaten drei Streiks jüdischer Arbeiter gehabt, und da wollen wir Antisemitismus treiben als Kampf gegen das Kapital?"

Damit gab Engels nicht nur Hinweise auf ein präzises gesellschaftstheoretisches Erklärungsmodell für das Fortwirken antijüdischer Vorurteile in der damaligen Gegenwart, sondern wies auch auf die Hauptopfer der antisemitischen Kampagnen hin, auf die doppelt – national wie sozial – unterdrückten jüdischen Arbeiter. Doch unbeabsichtigt drückte Engels’ Brief auch die Illusion aus, der Antisemitismus sei dank der Fortentwicklung des Kapitalismus dazu bestimmt, sich auf sozusagen natürliche Weise aufzulösen.

Auf dem Kölner SPD-Parteitag 1893 hielt der Parteivorsitzende August Bebel ein viel beachtetes Referat, worin er den reaktionären Charakter der Judenfeindschaft sichtbar machte. Der Antisemitismus greife in seiner scheinbar antikapitalistischen Attacke gegen das "jüdische Ausbeuterthum" lediglich Erscheinungen der Klassenherrschaft, nicht aber diese selbst an. Wenn die Sozialdemokratie nur stärker werde, dann müssten die in judenfeindlichen Vorurteilen gefangenen antikapitalistischen Rebellen geradezu zwingend zu der Einsicht gelangen, dass "die Sozialdemokratie der entschiedenste Feind des Kapitalismus ist" und "die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen keine speziell jüdische, sondern eine der bürgerlichen Gesellschaft eigenthümliche Erwerbsform ist, die erst mit dem Untergang der bürgerlichen Gesellschaft endigt". Bebel begriff den Antisemitismus als ein Durchgangsstadium sozial entwurzelter und politisch ungeschulter Schichten, deren Unzufriedenheit von den Judenhassern ausgenutzt werde. Sobald diese Schichten jedoch bereit seien, der politischen Aufklärungsarbeit von Sozialdemokraten ihr Ohr zu leihen, ändere sich dies. Dann würden sie, wie Bebel voller Zuversicht meinte, "zur Erkenntnis kommen müssen, dass nicht bloß der jüdische Kapitalist, sondern die Kapitalistenklasse überhaupt ihr Feind ist und dass nur die Verwirklichung des Sozialismus sie aus ihrem Elende befreien kann".

Eine solch deterministische Sicht – wonach die Ausgebeuteten zu den von der Sozialdemokratie vertretenen Anschauungen gelangen "müssten" – machte die Stärke und die Schwäche der sozialistischen Argumentation aus. Anders als die bürgerlich-liberalen Gegner des Antisemitismus wie Theodor Mommsen oder Rudolf Virchow sahen die Sozialdemokraten "den Kern der Sache in der sozialen und wirtschaftlichen Struktur und zogen daraus Schlüsse, die in jedem Fall einleuchtend und logisch waren; die Liberalen hatten hauptsächlich ihren Kummer und ihre Abneigung in der Hoffnung gesucht, dass solche periodischen Wogen der Finsternis zurückweichen würden, wie sie gekommen waren".

Doch folgten die sozialdemokratischen Theoretiker und Politiker teilweise explizit, teilweise unausgesprochen zwei Prämissen, die die Problematik ihrer Position deutlich werden ließ: Zum einen galt der Antisemitismus zwar als moralisch verwerflich und bekämpfenswert, aber seine Gefährlichkeit wurde unterschätzt. Wenn es nur der sozialdemokratischen Agitation bedurfte, damit aus antisemitischen Rebellen Vorkämpfer für die Sache des Sozialismus wurden, hatte der Antisemitismus dann nicht gewissermaßen eine progressive Katalysator-Funktion? War er womöglich eine Vorbedingung für das Aufflammen antikapitalistischer Stimmungen, die dann von den Sozialdemokraten nur noch in die richtige Richtung gelenkt werden müssten? Victor Adler, Parteiführer der österreichischen Sozialdemokratie, selbst Jude und aus der deutschnationalen Bewegung zum Sozialismus gestoßen, meinte 1887, dass die antisemitischen Führer, von denen er einige gut kannte, "die Geschäfte der Sozialdemokratie" besorgen würden. Ähnlich äußerte sich der marxistische Publizist Franz Mehring, der um 1900 eine Reihe abschätziger Bemerkungen über Juden machte.

Zum anderen galt es für die Sozialdemokratie in Deutschland und Österreich um die Jahrhundertwende als ausgemacht, dass die Juden als eigenständige soziokulturelle Gemeinschaft im Laufe des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts notwendigerweise verschwinden, sich in die Gesamtbevölkerung unter Zurücknahme und schließlich Aufgabe ihrer Traditionen eingliedern würden. In der Tat schien die Assimilation großer Teile der Juden an die deutsche Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts weit gediehen. Daraus zogen so unterschiedliche Sozialisten und Kommunisten wie Karl Kautsky und Otto Bauer, Lenin und Stalin sowie Rosa Luxemburg den Schluss, die Juden seien keine Nation, sondern nur eine durch Religion und gemeinsames Schicksal geeinte Gemeinschaft. Der moderne Kapitalismus ebne jedoch diese Unterschiede ein. Dadurch verschlossen sich viele Sozialdemokraten auch der spezifischen Rolle der jüdischen Arbeiterbewegung in Osteuropa.

Karl Kautsky, Eduard Bernstein und der Zionismus

Zwei zentrale Protagonisten und persönliche Freunde innerhalb der Sozialdemokratie waren der Jude Eduard Bernstein und der Nicht-Jude Karl Kautsky. Doch seit dem parteiinternen Streit um Reform oder Revolution, dem sogenannten Revisionismusstreit zwischen 1896 und 1898, und bis zum Jahr 1912 sprachen die beiden nicht mehr miteinander. Während Kautsky sein Leben lang Antizionist blieb, nahm Bernstein seit dem Ersten Weltkrieg eine positivere Haltung zum Zionismus ein.

Karl Kautsky, um 1920. (© akg-images)

Die Auffassung eines kontinuierlichen, von den reaktionären Kräften zwar bekämpften, aber unaufhaltbaren Fortschritts durchzog das Werk von Kautsky. Dieser war vor 1914 die unbestrittene theoretische Autorität des internationalen Sozialismus, und er bekämpfte den Antisemitismus. Unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkriegs erschien seine Schrift "Rasse und Judentum", in der er seine Überlegungen zum Gegenstand zusammenfasste. Die Juden seien eine "Kaste", doch besäßen sie in Osteuropa Merkmale, die "den Schein einer jüdischen Nationalität" nahelegen würden. Die jiddische Kunst und Literatur seien durchaus "Produkte und Mittel eines nationalen Lebens der russischen Juden". Doch trage ihre kulturelle Entfaltung vorübergehenden Charakter, denn "das, was man die jüdische Nation nennt, kann nur siegen, um unterzugehen". Erst mit dem Sieg des Sozialismus, keineswegs mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft, würden die Bedingungen für die Absonderung der Juden dahinschwinden. Erst dann würde dem Antisemitismus die Existenzgrundlage entzogen und die Assimilation der Juden eingeleitet werden.

Bernstein widersprach Kautskys Antisemitismus-Analyse implizit. Der Antisemitismus sei keineswegs nur an niedergehende Gesellschaftsschichten gebunden. Zwar gebe es den "Radauantisemitismus" der im kapitalistischen Konkurrenzkampf zerriebenen Mittelklasse. Daneben sei aber eine subtile Variante des Antisemitismus gerade unter Intellektuellen zu beobachten, die potenziell gefährlicher sei. Gerade in Regierungskreisen und den sie unterstützenden Schichten verstärke sich der Judenhass. Dies liefere dem Zionismus Argumente, den die Sozialdemokratie zu Unrecht als ein totgeborenes Kind bezeichne. Das bedeute nicht, dass die SPD den Zionismus unterstützen solle. Schließlich sei dieser eine "Teilerscheinung der großen Welle nationalistischer Reaktion, die über die bürgerliche Welt sich ergossen hat und auch Eingang in die sozialistische Welt sucht". Inmitten des Ersten Weltkriegs betonte Bernstein: "Ich bin kein Zionist, ich fühle mich zu sehr als Deutscher, um es sein zu können."

Eduard Bernstein als Abgeordneter auf dem Weg zum Reichstag, Juni 1920. (© akg-images)

Doch die deutsche Kriegsniederlage, die erneut steckengebliebene bürgerliche Revolution, der diktierte Frieden von Versailles und nicht zuletzt das Engagement jüdischer Revolutionäre aufseiten der radikalen Linken sowie die Furcht der besitzenden Klassen vor dem Bolschewismus trieben dem Antisemitismus neue Kräfte zu. Neben den ärmeren und den besitzenden Klassen wurden nun vor allem die aus der Bahn geworfenen früheren Offiziere und Soldaten für den Antisemitismus empfänglich. Sie glaubten, das "Weltjudentum" sei für die soziale Notlage großer Teile des deutschen Volkes verantwortlich.

Gespaltene Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik

Die SPD galt als "die" Partei der Weimarer Republik; dies war ursprünglich abschätzig gemeint. Nicht zuletzt, weil sie als Ganzes an der Gegnerschaft zum Antisemitismus festhielt, entstand das böse Wort von der "roten Judenrepublik". Die inneren Spannungen, denen sich die seit 1917 durch den Abgang der USPD gespaltene Partei ausgesetzt sah, spiegelten sich jedoch auch in beleidigenden Äußerungen wider, die bis dahin in der Partei nicht zu hören gewesen waren. So wurde Bernstein, der sich für eine notgedrungene Annahme der Versailler Bedingungen aussprach, auf dem Weimarer SPD-Parteitag im Juni 1919 attackiert. Man vergaß ihm nicht, dass er im Krieg für zwei Jahre der USPD angehört hatte, und noch weniger vergaß man seine jüdische Herkunft. So rief sein Parteigenosse Adolf Braun ihm zu: "Sie müssen einmal hören, dass wir Ihnen in der talmudistischen Methode Ihrer Politik nicht folgen können." Hermann Müller, Mitglied des Parteivorstands und künftiger Reichskanzler, attackierte Bernstein mit den Worten: "Man darf eben nicht alle Dinge unter dem Gesichtspunkt des Rabbiners von Minsk behandeln, wenn man aktuelle Politik zu machen hat."

Wie andere Länder ging auch Deutschland in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einer äußerst restriktiven Einwanderungspolitik über. Die Beschäftigung von Ausländern wurde staatlicher Regelung unterworfen, wozu auch ein umständliches Genehmigungsverfahren für die Unternehmen, die Kontingentierung für ausländische Landarbeiter und die Einführung von Karenzzeiten gehörten. Die Deutschnationalen sowie die NSDAP verkündeten Ende 1920 programmatisch, Deutschland müsse von "rassefremden" Elementen freigehalten werden. Dem schloss die SPD sich zwar nicht an, aber einige ihrer Politiker entzogen sich dem nationalistischen Zeitklima auch nicht. Das folgende Beispiel ist nur eines von mehreren.

Auf Grundlage einer Beratung im Auswärtigen Amt im April 1919 gab der preußische Innenminister Wolfgang Heine von der SPD am 6. Mai einen Erlass heraus, demzufolge jüdische Einwanderer, die sich "auf nicht einwandfreie Art" ihren Lebensunterhalt verschafften oder auf andere Weise gegen Gesetze verstießen, auszuweisen seien. Am 1. November erließ Heine eine entsprechende Weisung an die preußischen Regierungspräsidenten, die auch Maßnahmen zur Sperrung der Grenzen einschloss. Sieben Monate später, am 1. Juni 1920, wurde in einem weiteren Erlass auf die Gefahr der Verbreitung "bolschewistischer Ideen" unter den Ostjuden hingewiesen. Obgleich die Gefahr von Pogromen in den Herkunftsländern der ostjüdischen Immigranten nicht verschwiegen wurde, sah die neue Verordnung eine weitere Verschärfung des Grenzregimes vor. Die Einbürgerung von Ostjuden wurde im SPD-regierten Preußen unter Hinweis auf den angeblich halbbarbarischen Charakter der Zuwanderer besonders restriktiv gehandhabt.

Zugleich erkannten SPD-Politiker durchaus, dass der Antisemitismus gegen die Republik insgesamt und besonders gegen die Sozialdemokratie gerichtet war. Schließlich wurden prominente SPD-Funktionsträger jüdischer Herkunft bevorzugte Angriffsobjekte der extremen Rechten. Das bekannteste Beispiel war der Fall des Berliner Polizeivizepräsidenten Bernhard Weiß, gegen den die Nazis und insbesondere der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels hetzten, indem sie ihn mit dem angeblich jüdischen Namen Isidor bedachten. Die SPD-Presseorgane entfalteten eine umfangreiche Aufklärungsarbeit gegen die anwachsende antisemitische Hetze.

Doch nur in der relativ stabilen Mittelphase der Weimarer Republik, zwischen 1924 und 1929, war der Antisemitismus einigermaßen eingedämmt. An den Universitäten, bei Studenten wie bei Professoren, blieb er virulent. Zielscheibe des akademischen Antisemitismus wurden besonders solche der Sozialdemokratie nahestehende Gelehrte wie Albert Einstein, Emil Julius Gumbel oder Theodor Lessing. In der krisenhaften Endphase der Weimarer Republik verstärkte sich der Antisemitismus derartig, dass die SPD dem in Einzelfällen Rechnung trug. Sie verzichtete im Sommer 1930 auf die Wahl eines jüdischen Parteimitglieds zum Berliner Stadtbaudirektor und zog ihn zugunsten eines nichtjüdischen Kandidaten zurück. Ein landesweit beachteter Korruptionsskandal, der "Fall Sklarek" (es ging um drei Brüder dieses Namens, von denen zwei SPD-Mitglieder waren), wurde von der Rechtspresse, keineswegs nur von den Nazis, zu massiven Angriffen gegen die angebliche Allianz von "jüdischem Spekulantentum" und SPD-"Bonzenwirtschaft" ausgenutzt.

Die Ende 1918 gegründete Kommunistische Partei Deutschlands, die KPD, stand in scharfer Opposition zur Weimarer Republik. Ihr revolutionärer Radikalismus führte zwischen 1918 und 1920 zu einem Zustrom vor allem junger, akademisch gebildeter Juden in die Partei oder zumindest zu einer Annäherung an diese. Zu ihnen gehörten die Philosophen Ernst Bloch und Georg Lukács, die Schriftsteller Egon Erwin Kisch und Arthur Holitscher, der Mediziner Felix Boenheim, der Historiker Arthur Rosenberg, der Jurist Felix Halle, die Politiker Iwan Katz, Werner Scholem und Fritz Wolffheim, der Ökonom Josef Winternitz, der Journalist Werner Hirsch, die Politikerinnen Rosi Wolfstein und Ruth Fischer sowie ihre beiden Brüder, der Komponist Hanns und der Journalist Gerhart Eisler. Ihre Altersgenossen Paul Levi und August Thalheimer, die zu führenden Köpfen der Partei wurden, waren schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Sozialdemokratie aktiv gewesen, lassen sich aber "habituell" dieser Gruppe zuordnen.

Die KPD sah den Versailler Vertrag als Teil einer "Nationalen Versklavung des deutschen Volkes". Demgemäß unterschied sie scharf zwischen der "proletarischen Nation" und "ausländischen Kapitalisten-Elementen". In dieser schwarz-weißen Sicht galten die Kapitalisten als Feinde des arbeitenden Volkes. Eine Clique ausländischer, miteinander eng verbundener Kapitalisten habe dem werktätigen deutschen Volk ihren Willen aufgezwungen; diese "Bankmagnaten", "Spekulanten" und "Börsenhaie" müssten verjagt werden. Solche Worte erinnerten an die antisemitische Agitation, obgleich die KPD die Judenfeindschaft strikt ablehnte. Judenhass und Antikommunismus verbanden sich fortan in der rechtsradikalen Agitation.

Doch nahm die KPD den virulenten Antisemitismus als eigenständige Größe innerhalb der deutschen Gesellschaft nur unzureichend wahr. Aus tagespolitischer Opportunität appellierten führende Kräfte der Partei indirekt sogar an antisemitische Ressentiments von Kleinbürgern und Studenten, besonders in der deutschen Staatskrise von 1923. Durch eine solche Anbiederung wollten sie diese für die kommunistische Sache gewinnen. So stellte Ruth Fischer in einer Rede, der kommunistische wie völkische Studenten zuhörten, am 25. Juli 1923 die demagogische Frage: "Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren?" Und ihre Antwort lautete: "Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. Aber, meine Herren, wie stehen sie zu den Großkapitalisten, den Stinnes, Klöckner … ?"

Zugleich prangerte die KPD den gewalttätigen Judenhass der Nazis an, unterschätzte aber, wie auch die SPD, das Ausmaß antisemitischer Denkfiguren in weiten Teilen der deutschen Gesellschaft. Sie hieß jüdische Werktätige als Bundesgenossen willkommen. Nur reiche Juden würden, ebenso wie nichtjüdische Kapitalisten, als Feinde der arbeitenden Menschen angesehen. Doch klang eine solche Versicherung recht plakativ angesichts der Tatsache, dass der Antisemitismus – nicht nur jener der Nazis – die jüdische Existenz in Deutschland generell infrage stellte. Den Zionismus sah die Partei als politische Totgeburt, hingegen könne die Sowjetunion durch die Errichtung des Jüdischen Autonomen Gebietes Birobidschan am Amur die "jüdische Frage" im sozialistischen Sinne lösen. Keine dieser Prognosen erwies sich als haltbar.

Ungeachtet aller Defizite war das Bekenntnis zum Internationalismus und zur Solidarität mit den Juden in der KPD wie auch der SPD nicht nur eine Phrase – denn die Liquidierung der deutschen Arbeiterbewegung war Voraussetzung für die Nazis, die Vernichtung des europäischen Judentums und das Projekt eines imperialistischen Rassenstaats in die Wege zu leiten.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Walter Grab, Der deutsche Weg der Judenemanzipation 1789–1938, München–Zürich 1991, S. 7.

  2. Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. u. mit einem Vorwort von Mario Keßler, Hamburg 2021, S. 39.

  3. Vgl. Günter Brakelmann, Adolf Stoecker als Antisemit, 2 Bde., Waltrop 2004.

  4. Eduard Bernstein, Geschichte der Berliner Arbeiterbewegung, Bd. 2, Berlin 1907, S. 60.

  5. Engels bezog sich offenbar auf Saloniki, das damals noch zum Osmanischen Reich gehörte und wo eine bedeutende, klassenmäßig gegliederte jüdische Gemeinde ansässig war.

  6. Friedrich Engels, Über den Antisemitismus (Aus einem Brief nach Wien), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 22, S. 49ff.

  7. Bebels Rede ist abgedruckt im Protokoll über die Verhandlungen der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, abgehalten zu Köln a. Rh. vom 22. bis 29. Oktober 1893, Berlin 1893, S. 223–240. Hieraus die Zitate; Orthografie modernisiert.

  8. Peter G.J. Pulzer, Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867–1914, Gütersloh 1966, S. 214.

  9. Victor Adler, Der Antisemitismus, in: Die Gleichheit, 7.5.1887, zit. nach ders., Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 8, Wien 1929, S. 347f.

  10. Zu Mehring vgl. Robert S. Wistrich, Anti-Capitalism or Anti-Semitism: The Case of Franz Mehring, in: Leo Baeck Institute, Yearbook XXII, London 1977, S. 35–51; Lars Fischer, "Es ist überall derselbe Faden, den ich spinne." Annäherungen an Franz Mehrings Haltung zu Antisemitismus und Judentum, in: Dieter Bähtz et al. (Hrsg.), Dem freien Geiste freien Flug. Beiträge zur deutschen Literatur für Thomas Höhle, Leipzig 2003, S. 129–154.

  11. Vgl. u.a. Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843–1943), Mainz 1995.

  12. Vgl. Yuval Rubovitch, Marxismus, Revisionismus, Zionismus. Eduard Bernstein, Karl Kautsky und die Frage der jüdischen Nationalität, Berlin–Leipzig 2021.

  13. Karl Kautsky, Rasse und Judentum. Ergänzungsheft zur "Neuen Zeit", Stuttgart 1914, S. 51, S. 61, S. 92f.

  14. Eduard Bernstein, Der Schulstreit in Palästina, in: Die Neue Zeit 32–1/1913–14, S. 752. Vgl. Rubovitch (Anm. 12).

  15. Eduard Bernstein, Die Aufgaben der Juden im Weltkriege, Berlin 1917, S. 32.

  16. Zit. nach Francis L. Carsten, Eduard Bernstein 1850–1932. Eine politische Biographie, München 1993, S. 178f.

  17. Vgl. Lothar Elsner, Zur Haltung der SPD gegenüber den sogenannten Ostjuden. Die Erlasse sozialdemokratischer preußischer Minister gegen asylsuchende "Ostjuden" 1919/20, in: Mario Keßler (Hrsg.), Arbeiterbewegung und Antisemitismus. Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert, Bonn 1993, S. 22f.

  18. Zit. nach ebd. S. 23.

  19. Zit. nach ebd.

  20. Vgl. Donald L. Niewyk, Socialist, Anti-Semite, and Jew. German Social Democracy Confronts the Problem of Anti-Semitism, 1918–1933, Baton Rouge, LA 1971; sowie jetzt Christian Dietrich, Im Schatten August Bebels. Sozialdemokratische Antisemitismusabwehr als Republikschutz 1918–1932, Göttingen 2021.

  21. Vgl. Dietz Bering, Von der Notwendigkeit politischer Beleidigungsprozesse. Der Beginn der Auseinandersetzungen zwischen Polizeivizepräsident Bernhard Weiß und der NSDAP, in: Walter Grab/Julius H. Schoeps (Hrsg.), Juden in der Weimarer Republik, Stuttgart–Bonn 1986, S. 305–329.

  22. Vgl. Rainer Marwedel, Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Darmstadt–Neuwied 1987; Christian Jansen, Emil Julius Gumbel. Portrait eines Zivilisten, Heidelberg 1991; Siegfried Grundmann, Einsteins Akte, Berlin 2004; Dieter Hoffmann, Einsteins Berlin, Weinheim 2006.

  23. Vgl. Jüdische Rundschau 35/1930, S. 358.

  24. Vgl. Stephan Malinowski, Politische Skandale als Zerrspiegel der Demokratie. Die Fälle Barmat und Sklarek im Kalkül der Weimarer Rechten, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 5, Frankfurt/M. 1996, S. 46–65.

  25. Ausführlich hierzu Olaf Kistenmacher, Arbeit und "jüdisches Kapital", Bremen 2016.

  26. Vgl. Riccardo Altieri, Rosi Wolfstein und Paul Frölich: Transnationale Linke des 20. Jahrhunderts, Dissertation, Universität Potsdam 2021, S. 27–30.

  27. Hängt die Judenkapitalisten. Ruth Fischer als Antisemitin, in: Vorwärts, 22.8.1923, Abendausgabe, Hervorhebung im Original. Vgl. Mario Keßler, Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895–1961), Köln u.a. 2013, S. 129f.

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ist promovierter Historiker und Mitarbeiter des Würzburger Johanna-Stahl-Zentrums für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte der Arbeiterbewegung, Netzwerkforschung sowie Klassismus und unterfränkisches Judentum.
E-Mail Link: riccardo.altieri@arbeit-bewegung-geschichte.de

ist Senior Fellow am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und Professor an der Universität Potsdam. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Geschichte des Antisemitismus, der Arbeiterbewegung und der Historiografie.
E-Mail Link: mariokessler@yahoo.com