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20 Jahre nach dem Berlin/Bonn-Gesetz | Hauptstadtbeschluss | bpb.de

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20 Jahre nach dem Berlin/Bonn-Gesetz Meinungsbeitrag von Ulrich Zawatka-Gerlach

Ulrich Zawatka-Gerlach

/ 8 Minuten zu lesen

Ulrich Zawatka-Gerlach findet die momentane Rechtslage anachronistisch und fordert ihre Anpassung. Der "Rutschbahn-Effekt" Richtung Berlin sei nicht aufzuhalten, ein Staatsvertrag für Bonn absurd, da die Stadt boome.

Ulrich Zawatka-Gerlach (© Ulrich Zawatka-Gerlach)

Sehen wir es sportlich, aus Berliner Sicht. Nach der Bundestagswahl 2013 ist es der "Bonner Lobby" noch einmal gelungen, die Rolle ihrer Stadt als zweites bundespolitisches Zentrum für die nächsten Jahre zu sichern. "Wir stehen zum Berlin-Bonn-Gesetz", steht im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD, der im November vergangenen Jahres besiegelt wurde. Die Teilung des Regierungssitzes der Bundesrepublik Deutschland bleibt also bestehen: Neun Bundesministerien haben ihren Hauptsitz in Berlin, sechs in Bonn, mit jeweils einer Filiale am anderen Standort. Vor 20 Jahren wurde diese Arbeitsteilung zwischen der Bundeshauptstadt Berlin und der Bundesstadt Bonn rechtlich fixiert, in Umsetzung des Hauptstadtbeschlusses von 1991. "Fair und dauerhaft" soll sie sein. So steht es im Berlin-Bonn-Gesetz, das am 26. April 1994 in Kraft trat. Effektiv und preiswert ist diese Rollenverteilung aber nicht, das zeigt die Erfahrung der letzten zwei Jahrzehnte.

Jeden Monat pendeln immer noch tausende Ministerialbeamte zwischen Rhein und Spree. Die Bundesregierung rechnet 2014 mit fast 19.000 teilungsbedingten Dienstreisen. Die Kosten im Bundeshaushalt für die "Aufteilung der Amts- und Dienstsitze der Bundesregierung", die das Finanzministerium seit 2008 dem Haushaltsausschuss des Bundestags in einem Teilungskostenbericht mitteilt, schwankten bis einschließlich 2013 zwischen 7,7 und 10,6 Millionen Euro jährlich. Etwa die Hälfte der Ausgaben entfallen auf die Ministerien für Verteidigung, Landwirtschaft, Inneres und Finanzen. Im aktuellen Bericht, der Anfang April 2014 dem Bundestag vorgelegt wurde, beklagt das Finanzministerium "Erschwernisse und Reibungsverluste", die wegen der Aufteilung der Ministerien zwischen Berlin und Bonn nicht gänzlich vermeidbar seien.

Weit über die Hälfte der "Teilungskosten" entfällt auf den Beamten-Shuttle per Flug und Bahn. Immerhin hat die Mahnung der Haushälter im Bundestag an die Ministerialbehörden, das Pendeln zwischen Bonn und Berlin auf ein "zwingend notwendiges Maß" zu reduzieren, Früchte getragen. Wurden 1997 noch 111.300 Dienstreisen gezählt, waren es 2013 nur noch 20.200 Reisen. Videokonferenzen, Mails und andere Formen der elektronischen Kommunikation trugen dazu bei, den Shuttle-Verkehr auf ein halbwegs vernünftiges Maß zu beschränken. Jedoch beklagen sich, wie intern zu hören ist, auch Bundesminister über die "Zerrissenheit des Regierungshandelns". Die virtuelle Vernetzung sei gewöhnungsbedürftig und könne den persönlichen Kontakt nicht ersetzen.

Für Bonn und Umgebung ist das offenbar der Preis, der für die Einheit Deutschlands gezahlt werden muss. Und es wird darauf gepocht, dass "insgesamt der größte Teil der Arbeitsplätze der Bundesministerien in der Bundesstadt Bonn erhalten bleibt", wie es das Berlin-Bonn-Gesetz vorsieht. Diese Regelung wurde glücklicherweise von der Wirklichkeit überholt. Wurden im Jahr 2000 in Bonn noch über 60 Prozent der ministeriellen Arbeitsplätze gezählt, ist der Anteil inzwischen auf unter 40 Prozent gerutscht. Die letzte detaillierte Aufstellung lieferte das Bundesinnenministerium für den Stichtag 30. Juni 2013. Demnach verfügten die Ministerien in Berlin, einschließlich des Kanzleramts, des Protokolls und des Staatsministers für Kultur über 10.532 Planstellen, in Bonn waren es nur 7.055. Seitdem hat sich das Gewicht noch einmal um einige hundert Stellen zugunsten der Hauptstadt verschoben. Ein eindeutiger Trend, dem keine massenhafte Abwanderung von Bundesbeamten und -angestellten aus dem Rheinland zugrunde liegt. Es gibt vielmehr eine zielgerichtete Einstellungspolitik zugunsten der Hauptstadt Berlin. Seit 1994 schieden über 10.000 Mitarbeiter der Bundesministerien, großenteils altersbedingt, aus dem Dienst aus. Im selben Zeitraum wurden 6125 Mitarbeiter in Berlin neu eingestellt, nur 4045 in Bonn. Auch bei den ministeriellen Ausbildungsplätzen hat die Hauptstadt längst die Nase vorn. Die Bonner Abgeordneten im Bundestag beklagen dies lebhaft. Allen voran verteidigen Ulrich Kelber (SPD), Claudia Lücking-Michel (CDU) und Katja Dörner (Grüne) das Berlin-Bonn-Gesetz. Mit den benachbarten Gemeinden und dem Land Nordrhein-Westfalen haben sie schlagkräftige Partner, wenn es darum geht, den Status der Bundesstadt Bonn gegenüber der Hauptstadt Berlin zu verteidigen. Eine nicht zu unterschätzende Lobby, die es in der Schlussrunde der Koalitionsverhandlungen Ende 2013 schaffte, den Status Quo vorerst zu retten. Eigentlich sollte im schwarz-roten Koalitionsvertrag nur der Satz stehen: "Wir werden den UN-Standort Bonn stärken". Stattdessen gab Schwarz-Rot für das umstrittene Gesetz zugunsten Bonns quasi in letzter Minute der Verhandlungen eine Bestandsgarantie ab.

Für eine Wahlperiode, bis 2017, mehr geht nicht in einem Koalitionsvertrag. Kein Grund also für die Berliner, sich lange zu ärgern. Die Hauptstädter können getrost davon ausgehen, dass sich das Berlin-Bonn-Gesetz in den nächsten Jahren weitgehend von selbst erledigt. Und zwar unabhängig davon, welches Regierungsbündnis aus der nächsten Bundestagswahl siegreich hervorgeht. Denn die Zeit ist reif. Nicht nur logistische Probleme des zweigeteilten Regierungssitzes und die damit verbundenen Kosten sprechen dafür, endlich alle Bundesministerien komplett in der Hauptstadt zu haben. Es ist auch so, dass mit jeder neuen Wahlperiode junge Parlamentarier und Regierungspolitiker auf die politische Bühne treten, denen Bonn als ehemalige Hauptstadt fremd geworden ist. Auch die wenigen noch aktiven "Schlachtrösser" der deutschen Politik, die die dramatischen Kämpfe um Berlin und Bonn in den neunziger Jahren aus eigenem Erleben kennen, stehen fast alle hinter der Hauptstadt. Einer von denen, die immer mal wieder einen Stein ins Wasser werfen, ist der christdemokratische Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble, der in einem Interview mit der Deutschen Welle kürzlich sagte: Gesetze seien nicht für die Ewigkeit gemacht, das gelte auch für das Berlin-Bonn-Gesetz. Die stabile wirtschaftliche Entwicklung Bonns in den letzten zwei Jahrzehnten werde in eine neue Entscheidung über die Rollenverteilung beider Städte einfließen. Der Aufschrei war groß, aber nur in Bonn und Umgebung.

Doch wann wird die anachronistische Rechtslage endlich der Realität angepasst? Noch 2012 wurde ein Antrag der Linksfraktion im Bundestag für ein "Beendigungsgesetz zum Berlin-Bonn-Gesetz" nach eineinhalbjähriger Diskussion in den Parlamentsausschüssen mit den Stimmen der Union, der FDP und der Grünen abgelehnt. Die SPD enthielt sich der Stimme, jedenfalls bei der Schlussabstimmung. Trotz dieses Misserfolgs, der erwartbar war, bleibt der Druck im Kessel. Das Feuer wird natürlich auch geschürt von der Berliner Landespolitik. Im Koalitionsvertrag des SPD/CDU-Senats steht: "Die Bemühungen um eine vollständige Verlagerung des Regierungssitzes nach Berlin und die entsprechende Änderung des Berlin-Bonn-Gesetzes werden weiter geführt". Dafür stehen an der Spree auch die Oppositionsparteien Grüne, Linke und Piraten. Solche Einigkeit ist in Berlin selten.

Es sieht auch so aus, als wenn die Diskussion in den Bundestagsfraktionen, die nicht nur von den Berliner Abgeordneten diskret, aber beharrlich vorangetrieben wird, allmählich eine neue Qualität gewinnt. Es geht jetzt nicht mehr um "Alles oder Nichts", nicht um die ersatzlose Abschaffung des Berlin-Bonn-Gesetzes im Hauruck-Verfahren, sondern um einen partei- und länderübergreifenden Konsens, der längerfristig wirkt. Denn zur Wahrheit gehört auch, dass ein schneller Komplettumzug der Bundesregierung vom Rhein an die Spree beachtliche Probleme mit sich bringen würde. Es wäre eine Großinvestition, die nach Schätzungen des Bundesrechnungshofes drei bis fünf Milliarden Euro kosten könnte. Zur besseren Einordnung: Seit dem Hauptstadtbeschlusses von 1991 wurden zehn Milliarden Euro für den Umzug der Verfassungsorgane nach Berlin ausgegeben.

Außerdem sind die Beamten und Angestellten in den Bonner Ministerien (samt ihren Familien) kein Frachtgut. Wer wollte es ihnen zumuten, allesamt mal eben nach Berlin umzusiedeln? Es gäbe derzeit nicht einmal genügend Wohnungen für die Zuwanderung vieler tausend Menschen. Nehmen wir uns also etwas Zeit für eine sanfte Ablösung Bonns aus der Rolle als Bundesstadt. Voraussehbar innerhalb des nächsten Jahrzehnts. Seit einigen Jahren schon gewinnt der "Rutschbahn-Effekt" in Richtung Hauptstadt beträchtlich an Dynamik - und ist irreversibel. Da hilft auch das Rechtsgutachten des Jura-Professor Markus Heintzen nichts, der zum Ergebnis kam: Es sei "objektiv rechtswidrig", dass es in Berlin seit sechs bis acht Jahren mehr Ministerialarbeitsplätze gebe als in der Bundesstadt am Rhein. Deshalb forderte er für Bonn einen "Bestands- und Vertrauensschutz". In Form weiterer Ausgleichsmaßnahmen oder einer staatsvertraglichen Regelung, an der Bonn und das Land Nordrhein-Westfalen beteiligt werden.

Ein Staatsvertrag für Bonn. Dieser Vorschlag wird glücklicherweise auch von der Bundesregierung ignoriert. Niemand will das, außer den Kommunalpolitikern zwischen Köln und Bad Honnef. Es wäre ein letzter, verzweifelter Versuch, gegen den Lauf der Geschichte anzurennen. Die ehemalige Bundeshauptstadt hat so etwas auch nicht nötig. Bonn boomt. Mit massiver Hilfe des Bundes ist der Strukturwandel gelungen. Hin zu einem exzellenten Wissenschaftsstandort, 18 Sekretariate der UN haben dort ihren Sitz und die Region ist touristisch attraktiv. Bonn habe sich "ganz ausgezeichnet entwickelt", bestätigte der Oberbürgermeister Jürgen Nimptsch vor wenigen Wochen. Wir Berliner gratulieren neidlos und wünschen für die Zukunft alles Gute.

Schließlich geht es auch der Hauptstadt besser denn je. Berlin ist in seiner Rolle als internationale Metropole und nationalem Entscheidungszentrum angekommen und wird von den Bürgern zwischen Flensburg und Bad Tölz, Aachen und Dresden auch so gesehen. In einer Mischung aus Stolz, Bewunderung und milder Skepsis. Die Zeiten, in denen Berlin wahlweise als miefige Ost-Provinz oder preußisch-arroganter Großprotz gescholten wurde, sind glücklicherweise vorbei. Es bleibt der Vorwurf, vorzugsweise aus dem Süden der Republik, teurer Kostgänger des Bundes und der leistungsstarken Länder zu sein. Aber je mehr es der Hauptstadt gelingt, sich aus der teilweise historisch begründeten, teilweise selbst verschuldeten wirtschaftlichen und finanziellen Misere zu befreien, desto eher wird diese Kritik verstummen.

Berlin ist dabei auf einem guten Weg. Produktiv unruhig, unverkrampft, immer noch eine Werkstatt der Einheit, nicht nur mit Blick gen Westen, sondern auch nach Mittel- und Osteuropa. Der Aufholprozess gegenüber anderen Wirtschaftsregionen in Deutschland und Europa zeigt Erfolge, die Beschäftigung wächst. Die Industrie- und Handelskammer Berlin-Brandenburg bescheinigt der Stadt, in die Rolle eines "wirtschaftlichen Gravitationszentrums" hineinzuwachsen. Berlin erlebt eine neue Gründerzeit und der öffentliche Haushalt kommt seit 2012 ohne neue Kredite aus. Wer in Berlin lebt oder regelmäßig die Stadt besucht, spürt und sieht den Wandel. Auch im Parlaments- und Regierungsviertel, das im Laufe der letzten 20 Jahre ein attraktiver öffentlicher Raum für alle Bürger geworden ist. Das ist noch kein Grund, in Euphorie zu verfallen, die Wirtschaftsregion Berlin kann es noch lange nicht mit London oder Paris aufnehmen. Die ökonomische und finanzielle Leistungskraft je Einwohner bleibt hinter dem Niveau Hamburgs, Münchens und der süddeutschen Flächenländer leider noch weit zurück. Berlin wird noch eine ganze Weile die tatkräftige Unterstützung des Bundes und der anderen Länder brauchen. Der Komplettumzug der Bundesministerien an die Spree wäre dabei sehr hilfreich und würde Berlin auch wirtschaftlich stärken. Also voran! Und wer sich beschwert, dass neue Bauten für Ministerialbehörden in Berlin verdächtig großzügig geplant werden, um weitere personelle Ressourcen aus Bonn abzuziehen, dem sei gesagt: Ja, da ist was dran. Und es ist auch gut so.

Geb. 1955 in Recklinghausen, ist landespolitischer Redakteur des Tagesspiegel Berlin. Nach dem Studium an der Freien Universität (Publizistik, Volkswirtschaft und Soziologie) arbeitete er zunächst beim Spandauer Volksblatt und anschließend als Pressesprecher in der Senatsverwaltung für Kultur.