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Kirche im ausgehenden Mittelalter | Reformation: Luthers Thesen und die Folgen | bpb.de

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Kirche im ausgehenden Mittelalter

Axel Gotthard

/ 6 Minuten zu lesen

Seit dem 11. Jahrhundert hatte sich die Kirche mehr und mehr in eine Klerikerkirche verwandelt, Laien waren konsequent abgedrängt worden. Aus dem Papsttum war ein Renaissancefürstentum geworden, die Päpste agierten als Politiker. Alle Leistungen der Kurie bekamen Geldwert.

Ablasshandel. Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert. (© picture-alliance/akg)

Soweit die eigentümliche, sehr ausgeprägte Frömmigkeit jener Tage! Genauso ausgeprägt war die Unzufriedenheit mit der Institution Kirche. Ein Angriffspunkt war das Papsttum selbst. Die römische Kirche hatte sich schon seit dem 11. Jahrhundert mehr und mehr zur "Klerikerkirche" (Erich Hassinger) entwickelt, unter konsequenter Abdrängung der "Laien", also des Kirchenvolks. Klerikerkirche und Papstkirche: denn der Papst hatte seine Stellung in der Hierarchie auf Kosten der bischöflichen und der synodalen Kompetenzen ausgebaut, hatte schließlich eine Herrschaft inne, die fast absolut anmuten kann, noch nicht absolutistisch, der Terminus soll eine andere Epoche charakterisieren. Und doch – so, wie der Absolutist Ludwig XIV. einmal erklären wird, er selbst sei der Staat ("L'Etat, c'est moi"), so sprach einer der Herolde der päpstlichen Machtvollkommenheit, Aegidius Romanus, im frühen 14. Jahrhundert vom "Papa ..., qui potest dici Ecclesia": vom Papst, von dem man auch sagen könne, er sei die Kirche.

Die konziliare Krise des 15. Jahrhunderts hatten die Päpste wie eine lästige Seuche ausgestanden, ohne die von den Konzilien geforderten Reformen zu realisieren. Prunk und Prestige eines italienischen Renaissancefürsten lagen diesen Herren am Herzen, nicht die Seelennöte ihrer Schäfchen, dafür hatte man Personal. Die Päpste agierten als Politiker, auch als Mäzene, nicht als Seelsorger. Wir erfreuen uns heute zwar, wenn wir als Touristen in Italien weilen, der schönen Kunstwerke und Baudenkmäler, die jene Päpste gebaut oder gesponsert haben; aber der gläubige Zeitgenosse konnte es anders sehen. Weil der Papst beim Bauen wie in der Politik so munter mitmischte, benötigte er immer neue Einnahmen. Alle Leistungen der Kurie bekamen Geldwert: die Verleihung von Pfründen (lateinisch "beneficia", also kirchliche Stellen, die damit zusammenhängenden Einkünfte), die Entscheidung von Rechtsfragen; Dispense und Gnadenakte wurden käuflich, und bekanntlich auch die Jahre im Fegefeuer (der Ablass). Der Quantifizierung des Glaubens, der Berechnung von Gnade und Buße korrespondierte die "Fiskalisierung und Kommerzialisierung der kirchlichen Verwaltung" (Heinrich Lutz); es entstand ein umfassendes fiskalisches System, das sich kirchenrechtlich begründen ließ, aber außerhalb Italiens vielfach starke antirömische Affekte aufrührte. Standardthema aller großen Ständeversammlungen im Reich seit der Mitte des 15. Jahrhunderts waren die "Gravamina deutscher Nation", die anprangerten, dass zu viel deutsches Geld nach Rom fließe und die manchmal fast schon so etwas wie nationalistische Beiklänge aufwiesen. ("Gravamina" heißt auf Deutsch "Beschwerden"; vgl. zum Alten Reich und seinen Organen Kapitel 3).

Stattliche Gebühren für klerikalen Service, nach fiskalischen Gesichtspunkten ausgegebene kirchliche Ämter (deren Erträge also erst einmal nach Rom zu fließen hatten), keinesfalls nur für Kreuzzüge verwendete Kreuzzugssteuern: Man war durchaus findig. Aber man machte sich dadurch auch angreifbar. Es gab ein verbreitetes Empfinden, dass "Kirche" auch ganz anders aussehen könne, gab viele kritische Stimmen. Aber eben trotzdem keine durchgreifende Reform der Amtskirche – die sich seit 1350 verdichtenden Krisenzeichen führten nicht zu Umbruch und Aufschwung, sondern in Desintegration und Verwirrung (Schisma, Ketzerbewegungen) oder in die innere Emigration (Mystik).

Deutschlands Domherren (wie Kardinäle den Papst, wählten Domherren den Bischof) entstammten dem jeweiligen regionalen Adel. Die feineren Kreise versorgten dort ihre (nicht erbberechtigten) nachgeborenen Söhne, nach einem geflügelten Wort der Zeit waren diese Domkapitel "Spitäler des Adels". Wer geschickt war, sicherte sich gleich mehrere gemütliche Versorgungspöstchen ("Pfründen-Kumulation") – was umso mehr aufreizen musste, als Bettelmönche das Ideal der armen Kirche beschworen. Man darf ohne Übertreibung sagen, dass es am Vorabend der Reformation keinen einzigen populären Fürstbischof in Deutschland gegeben hat, keinen einzigen mit nennenswerter geistlicher Autorität. Auch die Fürstbischöfe verstanden sich ja zunächst einmal als Politiker, die ein Hochstift (also jenen Teil ihrer Diözese, in dem sie auch weltliche Obrigkeit waren) zu regieren hatten; für Spirituelles waren die nachgeordneten Weihbischöfe zuständig. "Die Reichskirche war eine Institution der Herrschaft, nicht eine der Seelsorge, ihr Reichtum kam der Welt, nicht ihrem geistlichen Auftrag zugute. Den gemeinen Mann erreichte diese Kirche der Adelssöhne nicht" (Ernst Schubert).

Wegen der zahlreichen Mess- und Altarstiftungen, mit denen sich die Wohlhabenden ihr ewiges Seelenheil zu sichern hofften (Verdinglichung, Quantifizierung!), gab es ebenso zahlreiche Pfarrkleriker, die, je nach Umfang der Stiftung, extrem unterschiedlich dotiert waren und deren Gedanken häufig vor allem um eines kreisten: Wie hole ich möglichst viel aus meinem Beneficium, also meinem Pöstchen heraus? Der Priester verkam zum Gebühreneintreiber. Wegen dieser "benefizialen Amtsauffassung" (wie das die Forschung nennt) und weil man der Überzeugung war, dass die vom Priester verwalteten Sakramente ohnehin, objektiv und gleichsam automatisch, ihre Wirkung entfalteten (Verdinglichung!), glaubte man auf eine gründliche Ausbildung der Priester verzichten zu können. Es war ihnen selbst überlassen, wo und wie sie sich ihre Kenntnisse aneigneten – und ob überhaupt, denn der Priesterweihe ging selten eine strenge, wirklich aussagekräftige Prüfung voraus. Neuere Studien legen die begründete Annahme nah, dass sich der Bildungsstand des Klerus im 15. Jahrhundert etwas gebessert habe, aber Theologie haben die wenigsten jemals studiert (um von einem abgeschlossenen Theologiestudium ganz zu schweigen). Viele Priester murmelten im Messgottesdienst eben irgendwelche auswendig gelernten Sprüchlein herunter, und wenn sie diese nicht auswendig gelernt hatten, wird das auch niemandem aufgefallen sein; es war ja alles Latein, Latein, das der Priester womöglich unvollkommen – und die allermeisten seiner Zuhörer gar nicht beherrschten.

Profilierte Kirchenkritiker (die übrigens manche Forderungen Martin Luthers vorwegnahmen) sah schon das Mittelalter: Petrus Valdes, John Wyclif, Jan Hus und andere, heute weniger bekannte. Sie einte ihr Biblizismus, bis hin zu Bibelübersetzungen in die Volkssprache; die Betonung der Laienpredigt; und dass sie in gravierende Konflikte mit der bestehenden Kirche gerieten – Jan Hus wurde 1415, wiewohl man ihm freies Geleit dorthin zugesichert hatte, in Konstanz vom Konzil als Ketzer verurteilt und anschließend verbrannt. Dennoch war Böhmen, die Heimat von Jan Hus, schon im 15. Jahrhundert, Generationen vor der Veröffentlichung von Luthers Thesen, nicht mehr "römisch-katholisch". Johann Pupper von Goch (gestorben 1475) schrieb Jahrzehnte vor Luthers "Freiheit eines Christenmenschen" eine Schrift "de libertate christiana", kämpfte gegen die Gesetzlichkeit, die Vielfalt der Vorschriften in der Kirche, wollte einzig die Bibel als Norm gelten lassen ("sola scriptura" wird das später im Luthertum heißen). Auch Johann Ruchrat von Wesel (gestorben 1481) war ein radikaler Biblizist, der Konzilien wie Kirchenväter gegenüber der Bibel offen abwertete, die amtliche Ablasslehre verwarf, gegen Feste und Fasten polemisierte: "Ich verachte den Papst, die Kirche und die Konzilien. Ich liebe Christus".

Neuansätze sind aber nicht nur bei wenigen prominenten "Vorreformatoren" (wie man sie früher griffig nannte) zu verorten. Es gab unter dem Dach der spätmittelalterlichen Römischen Kirche Reformbewegungen mit einer gewissen (noch nicht massenhaften) Resonanz; so suchten die Anhänger der "Devotio moderna" fromme Alltagsgestaltung, nicht zuletzt in tätiger Nächstenliebe, auch häufige Bibellektüre war ihnen wichtig – sie wollten "das christliche Leben nicht in der Erfüllung äußerlicher Riten erschöpft sehen" (Volker Leppin).

Um beispielhaft einen scheinbar noch weniger spektakulären, aber wegen der damit einhergehenden Verinnerlichung des Glaubens interessanten Neuansatz zu streifen: Es gewann der Gedanke (etwas) an Boden, dass begrüßenswert sei, wenn man den Inhalt eines gerade gesprochenen Gebets erfasst habe. "Das Verstehen des Textes sollte die Andacht anspornen und die Erhörung der Gebete absichern" (Thomas Lentes). Volkssprachliche Gebetbücher sollten lesekundigen Laien den inneren Nachvollzug des weiterhin auf Latein gehaltenen Messritus ermöglichen. Die Überzeugung von der gleichsam automatischen Wirkung des in den äußeren Formen korrekt vollzogenen Ritus war also schon vor Luther etwas ins Wanken geraten. Viele Städte stellten "Prediger" oder "Leutpriester" an, die gebildet sein mussten, weil sie ja vor allem predigen sollten, also für Erbauung und Unterweisung, nicht sakramentale Versorgung zuständig waren. Mancherorts trat neben die 'normale' Messe der Predigtgottesdienst. In der Breite aber blieb es dabei: Die Messe war Ritus, war im Grunde, weil fast niemand den Inhalt der dabei geäußerten Worte verstand, pantomimische Darbietung – ein vielleicht eindrucksvolles, aber stummes Spiel, keine Wortverkündigung. Man hat erst gar nicht versucht, die Lesungen zu übersetzen. Luther wird darauf pochen, dass der Gottesdienst in der jeweiligen Volkssprache abzuhalten sei.

Prof. Dr. Axel Gotthard ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Historische Friedens- und Konfliktforschung, vormoderne Verräumlichungspraktiken, die Bedeutung der Konfession und von Säkularisierungsprozessen für die europäische Geschichte und die politische, Kultur- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen, u.a. "Das Alte Reich 1495-1806, Darmstadt 2003", "Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004", "Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2014"; zuletzt erschien (September 2016) "Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung."