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Es gibt nicht "den" Protestantismus | Reformation: Luthers Thesen und die Folgen | bpb.de

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Es gibt nicht "den" Protestantismus

Axel Gotthard

/ 4 Minuten zu lesen

Sind gute Werke fürs ewige Heil notwendig oder reicht der Glaube? Über diese und weitere Fragen stritten sich die Anhänger Luthers fast eine Generation lang. Die große Gründergestalt konnte nicht mehr schlichten oder entscheiden. Eine fortschreitende Konfessionalisierung und zunehmende dogmatische Fixierung des Glaubens waren die Folgen.

Nach Luthers Tod zerstritten sich seine Anhänger eine Generation lang heillos. Woran liegt es? Zum einen konnte die große Gründergestalt seit 1546 nicht mehr schlichten oder autoritativ entscheiden. Sodann bewirkte die auf allen Seiten fortschreitende "Konfessionalisierung" eben auch eine zunehmende dogmatische Fixierung des Glaubens. Alles war genau auszuformulieren, festzuzurren, für etwas abweichende Auffassungen und Grauzonen blieb da kein Raum. Das konnte am Ende die Geschlossenheit erhöhen – wenn eine oberste leitende Instanz die Zügel in der Hand hielt, wie in der katholischen Welt. In der evangelischen hat es zunächst Hader und Zank befördert.

Bildnis Martin Luthers auf dem Totenbett. Gemälde, Wittenberg, 1546, von L.Cranach d.Ä. (1472-1553). (© picture-alliance/akg)

Die Frontlinien waren nicht bei allen Auseinandersetzungen dieselben, aber es ist nicht falsch, diese Schneise ins Dickicht zu schlagen: Manche evangelische Christen orientierten sich an Philipp Melanchthon, dem Wittenberger Weggefährten Luthers, der die Brücken zur alten Kirche nicht vollends einreißen und neue hin zum Calvinismus bauen wollte; andere schauten eher auf Flacius Illyricus, der sich im Widerstand Magdeburgs gegen das Augsburger Interim einen Namen gemacht hatte und kompromisslos über die Reinheit des lutherischen Erbes wachte. Die Forschung bezeichnet diejenigen, die es mit Flacius hielten, als "Gnesiolutheraner". Diese nannten die vorgeblich allzu konzilianten Anhänger Melanchthons "Philippisten" oder beschimpften sie gar als "Kryptocalvinisten".

Versuchen wir, von zahlreichen Kontroversen ansatzweise eine einzige zu verstehen! Beispielsweise stritt man sich um die guten Werke. Waren sie fürs ewige Heil notwendig, oder reichte der Glaube hin? Luther hatte die Betonung auf den Glauben gelegt. Freilich gingen für ihn von selbst auch gute Werke daraus hervor – ein gern von ihm benütztes Bild war das vom guten Baum, der gute Früchte trägt. Melanchthon betonte, schon aus pädagogischen Gründen, eher die Werke – schweige man von ihnen, mache man den Gläubigen selbstgewiss und lässig. Für Melanchthon durfte das "sola gratia" Luthers nicht in moralische Indifferenz münden.

Da konnte es nicht lang dauern, bis Gnesiolutheraner allen Ernstes darüber nachsannen, ob diese guten Werke nicht sogar schädlich seien (weil sie vom allein ausschlaggebenden Glauben quasi ablenkten)! Nikolaus Amsdorf schrieb ein Büchlein, das schon im Titel behauptet: "Gute Werke sind zur Seligkeit schädlich". Dazu animiert hatten ihn Ansichten eines Schülers Melanchthons namens Georg Major – deshalb firmiert die Kontroverse in Kirchengeschichten als "Majoristischer Streit". Welch ungeheuerliche Behauptung hatte Major in einem Brief an Amsdorf aufgestellt? "Das bekenne ich aber, daß ich vormals gelehret und noch lehre und förder alle meine Lebtag also lehren will, daß gute Werke zur Seligkeit nötig sind". Für Amsdorf hatte er sich damit selbst als "Mameluck, abgefallenen Christen und zweifachen Papisten" entlarvt.

Von jenen einsichtigen Zeitgenossen, die der Selbstzerfleischung entgegenzuarbeiten suchten, ist vielleicht Jakob Andreä der wichtigste gewesen. Fast alle lutherischen Politiker und Theologen bekannten sich schließlich zur "Konkordienformel" von 1577, drei Jahre später erschien das "Konkordienbuch". Drei Jahrzehnte voller innerer Wirren lagen da hinter dem Luthertum. Die Konkordienformel grenzt es viel entschiedener als ihr funktionaler Vorgänger, die Confessio Augustana, von der alten Kirche ab, zieht aber auch eindeutige und verbindliche Trennlinien zum Calvinismus – in der damals besonders umstrittenen Abendmahlsfrage und anderswo. Versuchen eines sozusagen überkonfessionellen Protestantismus, irgendwo zwischen originärem Luthertum und purem Calvinismus, war ein für alle Mal der Boden entzogen. Die Konkordienformel zeigt uns deshalb ein Janusgesicht: Das Luthertum war seit 1577 wieder einigermaßen gefestigt; aber der Weg zu einer gesamtdeutschen Einigung aller Evangelischen war damit vollends verbaut.

Denn längst gab es auch Anhänger des Genfer Reformators Jean Calvin im Reich. Die Forschung nennt sie "Reformierte", und es gibt bekanntlich "evangelisch-reformierte" Kirchengemeinden; wegen der Nähe des Terminus zur Epochenüberschrift "Reformation" stiftet der Ausdruck freilich sogar bei Geschichtstudenten heillose Verwirrung, dieser Text verwendet ihn deshalb nicht. Die Kurpfalz hatte sich schon seit den späten 1550-er Jahren zum Calvinismus hin bewegt; 1563 erschien der eindeutig calvinistische "Heidelberger Katechismus". Seit der Mitte der 1570-er Jahre wurden in rascher Folge eine ganze Reihe weiterer Reichsterritorien ebenfalls calvinistisch. Mehrheitlich waren sie recht klein, was nicht für die Landgrafschaft Hessen-Kassel gilt. Ein Nachzügler wird 1613 der Kurfürst von Brandenburg sein. Neuere wissenschaftliche Darstellungen sprechen meistens (auch das ist ein unglücklich gewählter Terminus) von "Zweiter Reformation".

Es gibt in jedem einzelnen Fall wieder andere gute Gründe für die Konversion des Landesherrn, dem dann, vom brandenburgischen Sonderfall abgesehen, das ganze Territorium folgen musste. Und doch ist der Zeitraum der sog. "Zweiten Reformation" nicht einfach nur `zufällig´. Das Klima zwischen Altgläubigen und Evangelischen begann wieder rauer zu werden. Und in dieser Situation sahen sich eine ganze Reihe von Evangelischen durch die Konkordienformel definitiv vom lutherischen Lager verstoßen. Die Zeit der Nuancen, Schattierungen und Grauzonen, gar humanistischer Träumereien von einem überkonfessionellen Evangelischsein war vorbei. Neben jenem katholischen Lager, das gerade in tridentinischem Geist die Reihen schloss (das Tridentinum, das Konzil von Trient, hatte in drei Sitzungsperioden zwischen 1545 und 1563 getagt), war durch die Konkordienformel ein zweiter fest definierter Block entstanden, der scharf ein- oder aber ausgrenzte. Wo also in einem rauer werdenden Umfeld Schutz und Anlehnung finden? In dieser unersprießlichen Lage war es für manchen leichter, vollends zum Calvinismus weiterzuschreiten, als reumütig ins orthodox lutherische Lager zurückzukehren.

Die sog. "Zweite Reformation" ist nicht nur für Kirchenhistoriker interessant. Die meisten Exponenten der evangelischen Seite im Dreißigjährigen Krieg werden Calvinisten sein, während es Kursachsen, das Mutterland des Luthertums, zumeist mit dem Kaiser hält. Sowieso zeigen uns der Achtzigjährige Krieg und die Hugenottenkriege: Europas Glaubenskämpfe sind zuvörderst Kriege zwischen Katholiken und Calvinisten gewesen.

Prof. Dr. Axel Gotthard ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Historische Friedens- und Konfliktforschung, vormoderne Verräumlichungspraktiken, die Bedeutung der Konfession und von Säkularisierungsprozessen für die europäische Geschichte und die politische, Kultur- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen, u.a. "Das Alte Reich 1495-1806, Darmstadt 2003", "Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004", "Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2014"; zuletzt erschien (September 2016) "Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung."