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Deutschlands großer Konfessionskrieg | Reformation: Luthers Thesen und die Folgen | bpb.de

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Deutschlands großer Konfessionskrieg

Axel Gotthard

/ 6 Minuten zu lesen

In nie dagewesener Weise hat der Dreißigjährige Krieg Europa verheert. Es schrumpfte von vormals 16-17 Millionen Einwohnern auf rund zehn. Sein Ende markiert der Westfälische Frieden von 1648 als Zweiter Religionsfrieden. Denn der Dreißigjährige Krieg war ein Konfessionskrieg um die Lesarten des Ersten Religionsfriedens.

Prager Fenstersturz 1618 aus katholischer Sicht. Votivbild des Wilhem von Slavata (Darstellung der Rettung der Statthalter Slavata u.Martinitz durch die Gottesmutter).Gemälde, um 1620, anonym. (© picture-alliance/akg)

Der Dreißigjährige Krieg hat Mitteleuropa in bis dahin wohl nicht gesehener Weise verheert und geschunden. Als er begann, wohnten dort vermutlich zwischen 16 und 17 Millionen Menschen; 1648 waren es noch rund zehn Millionen. Nürnberg wird die Einwohnerzahl von 1618 im Jahr 1850 wieder erreichen. Was diese leidgeprüfte Generation durchmachen musste, lässt sich aber in Zahlen gar nicht fassen. Für Hunderte vergleichbare Zitate aus Lebensaufzeichnungen mag dieses eine, aus dem "Zeytregister" des schwäbischen Schusters und Kleinbauern Hans Heberle stehen, der nach seiner letzten, der 29. oder dreißigsten Flucht hinter die Stadtmauern Ulms – nicht wenige davon waren objektiv oder allemal subjektiv lebensgefährlich gewesen – das festhielt: "In summa es so ein jämerlicher handel geweßen, das sich einem stein solt erbarmet haben, wüll geschweigen ein menschliches hertz. Dan wir seyen gejagt worden wie das gewildt in wälden." Klara Staiger, die die Kriegsjahre im Kloster Mariastein bei Eichstätt durchlitt, hielt rückblickend als Essenz des Krieges fest: "Diese erbärmliche Kriegsunruhe, Fliehen und Flehen". Man war auf der Flucht, beispielsweise hinter die Mauern der nächsten größeren Stadt, oder musste irgendwelche Söldner aus irgendwelchen fremden Ländern um Verschonung anflehen. Man hatte sein Schicksal nicht in der Hand.

Raubende Soldateska im Dreißigjährigen Krieg. Holzstich, koloriert, nach Radierung, 1643, von Hans Ulrich Franck (1603 - 1680). (© picture-alliance/akg)

Der Dreißigjährige Krieg wird traditionell in vier Phasen unterteilt, belassen wir es der Übersichtlichkeit halber dabei! Die erste Phase nennen wir "Böhmisch-Pfälzischer Krieg", wegen der Anlässe (nicht der tieferen Gründe) fürs dreißigjährige Gewaltgeschehen: Die böhmischen Stände wollen sich der habsburgischen Herrschaft entledigen und wählen Kurfürst Friedrich von der Pfalz, den Direktor der evangelischen Union, zum neuen Böhmenkönig. Gewonnen hat diese erste Kriegsphase die katholische Seite, insbesondere des Engagements der Liga wegen. Es folgt der "Niedersächsisch-Dänische Krieg" (1625-29). Er heißt so, weil sich nun Christian IV. von Dänemark einklinkt, freilich nicht in seiner Eigenschaft als Dänenkönig, sondern als Obrist des Niedersächsischen Reichskreises. Er müsse, in dieser Eigenschaft, Niedersachsen vor katholischen Truppen schützen. Gewonnen hat diese zweite Kriegsphase die kaiserlich-katholische Seite, nicht zuletzt der Siege Wallensteins wegen.

Dann also, drittens, der "Schwedische Krieg" (1630-1635) – Gustav Adolf von Schweden schwingt sich zum Retter des deutschen Protestantismus auf, beispielloser Siegeslauf bis nach München, doch fällt der Schwedenkönig 1632. Gewonnen hat diese dritte Kriegsphase die kaiserliche Seite. Eigentlich folgen nun drei diffuse Übergangsjahre, bis feststeht, dass sich auch Frankreich dauerhaft militärisch in Mitteleuropa engagiert; doch hat sich eingebürgert, den deshalb so genannten "Französisch-Schwedischen Krieg" schon 1635 einsetzen zu lassen. Ihn beendet 1648 der Westfälische Frieden, den die Hofburg aus einer eher schwachen Position heraus beschicken muss: Denn die entscheidenden Schlachten dieser vierten, der letzten Kriegsphase (Alerheim, Jankau) gewinnen 1645 die auswärtigen Alliierten.

Wie sehr der Dreißigjährige Krieg zunächst ein Konflikt um Lesarten des Religionsfriedens (damit um konfessionelle Besitzstände) gewesen ist, zeigt das Restitutionsedikt von 1629: Als sich eine Seite, die kaiserlich-katholische, scheinbar auf der ganzen Linie durchgesetzt hatte, als sie sich also ihre langgehegten Träume erfüllen (oder, nüchterner gesagt: ihre Kriegsziele realisieren) zu können schien, nutzte sie das – für einen Oktroi ihrer Lesarten des Ersten Religionsfriedens! Das Restitutionsedikt legt für fünf besonders brisante Problemzonen des Augsburger Friedenswerks fest, dass und warum sie die Katholiken schon immer richtig interpretiert hätten, wohingegen die Lesarten der Protestanten grundverkehrt seien, weshalb sie alles, was sie dieser ihrer Interpretationslinie entsprechend in Besitz genommen hätten, dem Katholizismus zurückzugeben, zu "restituieren" hätten.

Raubende Soldateska im Dreißigjährgen Krieg 1618-1648. Holzstich nach einer Radierung von Hans Ulrich Franck, um 1646. Spätere Kolorierung. (© picture-alliance/akg)

Doch verpuffte die zunächst das Kriegsgeschehen antreibende religiöse Emphase nach dem Scheitern des Restitutionsedikts und dem Schlachtentod Gustav Adolfs. Gegenläufig zum Absinken der konfessionellen Gehalte des Ringens wurde nun freilich ein anderes Friedenshindernis immer präsenter: die "Ehre". Nachdem der Krieg schon so viele Menschenleben gekostet hatte, konnte man nur mit einem "ehrenvollen" Frieden, der Pax honesta, wieder aus ihm herauskommen – nur das eben auf allen Seiten! Und mit der Entkonfessionalisierung des Krieges ging seine Internationalisierung einher, der Dreißigjährige Krieg verknäuelte sich mit dem Achtzigjährigen (also dem Separationskampf der niederländischen Nordprovinzen Spaniens) und mit dem seit 1635 tobenden Spanisch-Französischen Krieg.

Schon früher war aus dem großen deutschen Konfessionskrieg auch ein Verfassungskampf geworden, weil die Kaiser in dieser langen reichstagslosen Zeit allzu gern katholische Waffenerfolge für eine Stärkung der monarchischen Gehalte in der Mischverfassung des Reiches ausnutzten. Beispielsweise besagte der Prager Vertrag von 1635 (er sollte die dritte Kriegsphase beenden), dass alle reichsständischen Bündnisse außer dem Kurverein aufzulösen seien, dass alle Truppen auf Reichsboden auf den Kaiser vereidigt würden. Und: der Prager Vertrag war auch Steuerbewilligung! Ein Jahr danach ließ sich der Kaiser Reichssteuern von einem Kurfürstentag "bewilligen". Viele Zeitgenossen sahen die Gefahr, dass eine dauerhaft reichstagslose Regierungspraxis begründet werden könnte.

Das hat in den Westfälischen Frieden tiefe Spuren eingegraben. Er beendete 1648 nicht nur die dreißigjährige Kriegskatastrophe, er stellte auch klar, dass der Reichstag das zentrale politische Forum des Reiches sei; und dass Reichsstände Bündnisse schließen, Truppen unterhalten dürften. Man kehrte verfassungspolitisch in die Vorkriegszeit zurück, räumte mit anderen Kriegsfolgelasten zentralistische Deformationen des politischen Systems weg. Insbesondere sind die Kompetenzregelungen von 1648 als Antwort auf die Paralyse des Reichtags seit 1608 und als Kontrafaktur zum Prager Vertrag zu lesen.

Über weite Strecken präsentiert sich der Westfälische Frieden als Zweiter Religionsfrieden. Die diese wortreichen Passagen einleitende Präambel betreibt Kriegsursachenforschung. Schuld am Dreißigjährigen Krieg seien die "Gravamina" (lat. gravamen, im Plural gravamina, heißt "Beschwerde"), die beide Konfessionsparteien vor Kriegsausbruch einander vorzuhalten beliebten. Schauen wir uns diese Gravaminalisten an, merken wir, dass sie die angeblich völlig unhaltbaren Verdrehungen des Religionsfriedens durch den Widerpart anprangern. Also war der Dreißigjährige Krieg, der Diagnose unserer Präambel zufolge, ein Konfessionskrieg: nämlich Kampf um Lesarten des Ersten Religionsfriedens.

Der Dreißigjährige Krieg in Europa 1618 bis 1648. (© Cornelsen)

Dieser wurde deshalb einerseits bekräftigt, andererseits deutlich modifiziert. Es ist die große Tragik der vormodernen deutschen Geschichte, dass das Reich zweimal Anlauf zu seinem Religionsfrieden nehmen musste. Neues regulatives Zentralprinzip für die konfessionelle Besitzstandsverteilung war ein Stichdatum: der 1.1.1624. Konfessionelle Besitzstände, die für dieses Stichdatum plausibel gemacht werden konnten, hatte der Landesherr zu respektieren; Minderheiten, die sich bis dahin gehalten hatten, musste er also auch fortan dulden. Er konnte den Konfessionalisierungsgrad des Territoriums nicht über den 1624 erreichten Stand hinaus vorantreiben. Ausdrücklich genoss nun auch der Calvinismus reichsrechtlichen Schutz. Der Erste Religionsfrieden wollte einigermaßen fair sein, aber dieser auslegungsoffene Text zurrte keine Parität fest; 1648 hingegen wurde ausdrücklich die Parität, die völlige rechtliche Gleichheit zwischen den nun drei reichsrechtlich zulässigen Konfessionen zur Richtschnur des Verhältnisses zwischen den Glaubensrichtungen erklärt.

Bevölkerungverluste im 30-jährigen Krieg. (© Cornelsen)

"Toleranz" stand nicht auf der westfälischen Agenda, so, vom individuellen Gewissen her, dachten die damaligen Politiker nicht, sondern von den bestehenden kirchlichen Großorganisationen her, deren Koexistenz auf Reichsgebiet in juristische Terminologie zu gießen war, in präzisere, in stringentere als 1555. Nicht die Individualisierung des Religiösen war beabsichtigt und schon gar nicht seine Verdrängung, sondern seine friedensstiftende Verrechtlichung. Das gelang alles in allem besser als 1555. Zwar wird es im Heiligen Römischen Reich weiterhin unheiligen konfessionellen Hader geben, aber große blutige Glaubenskämpfe wird Kontinentaleuropa nach 1648 keine mehr sehen. Die Erinnerung an mehrere langwierige Konfessionskriege in Mittel-, West- und Nordwesteuropa hat, in Verbindung mit der europäischen Aufklärung, eine politische Kultur begründet, die auf unserem Kontinent bis heute nachwirkt und sich in einer gewissen "Hilflosigkeit gegenüber fundamentalistisch bestimmten Gesellschaften und Kulturen" (Heinz Schilling) äußert, bei denen die kriegerische Durchsetzung von religiösen Zielen durchaus erlaubt, gar geboten ist – eine Hilflosigkeit, die historisch bedingt sein dürfte.

Prof. Dr. Axel Gotthard ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Zu seinen Schwerpunkten in Forschung und Lehre gehören Historische Friedens- und Konfliktforschung, vormoderne Verräumlichungspraktiken, die Bedeutung der Konfession und von Säkularisierungsprozessen für die europäische Geschichte und die politische, Kultur- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen, u.a. "Das Alte Reich 1495-1806, Darmstadt 2003", "Der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004", "Der liebe vnd werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2014"; zuletzt erschien (September 2016) "Der Dreißigjährige Krieg. Eine Einführung."