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Der Sieg der Bolschewiki | Sowjetunion I: 1917-1953 | bpb.de

Sowjetunion I: 1917-1953 Editorial Phänomen Sowjetunion Der Sieg der Bolschewiki Stalinismus Karten Zeittafel Glossar Literaturhinweise und Internetadressen Impressum

Der Sieg der Bolschewiki

Susanne Schattenberg Maike Lehmann Alexandra Oberländer

/ 45 Minuten zu lesen

Mit der Oktoberrevolution 1917 beendeten die Bolschewiki das demokratische Experiment, um im nachfolgenden Bürgerkrieg ihre Macht zu behaupten...

Extreme Standesunterschiede, hier dargestellt in einem zeitgenössischen Holzschnitt (19. Jh.), und eine nahezu ausschließlich agrarisch orientierte Wirtschaft prägen das Zarenreich. Junge russische Intellektuelle kritisieren die Zustände und sympathisieren mit der Bauernschaft. (© akg/North Wind Picture Archives)

Zerfall eines europäischen Imperiums

Es gibt drei konkurrierende Meistererzählungen, also grundlegende Erzählstrukturen, zum Zusammenbruch des Zarenreichs: Erstens, dass es so rückständig war, dass es untergehen musste, zweitens, dass die Großen Reformen der 1860er-Jahre so radikal an den Idealen einer kleinen, westlich geprägten Elite ausgerichtet waren, dass das bäuerliche Russland daran unweigerlich zerbrach, und drittens, dass sich Russland seit Einführung der Duma, des russischen Parlaments, und der Verfassung 1905 sowie weiteren Agrarreformen zwar auf dem richtigen Weg befand, jedoch der Erste Weltkrieg den Reformprozess beendete.

Sozialstruktur


Ganz gleich ob die Geschichte des zarischen Russlands als zwangsläufiger Niedergang, als kultureller Zusammenprall von Elite und Bauernschaft oder als Erfolgsgeschichte mit abruptem Ende erzählt wird, ist man sich einig, dass das Zarenreich viele Gegensätze in sich vereinte: Es war ein agrarisch geprägtes Land, dessen Bevölkerung um 1900 zu rund 80 Prozent aus Bauern bestand. Sie waren im Zuge der Großen Reformen 1861 aus der Leibeigenschaft entlassen worden, waren damit aber nicht "frei", weil das Ackerland, das der Bauer über 49 Jahre hinweg abbezahlen sollte, kollektiv der Gemeinde gehörte und der Bauer seine Steuern in der Gemeinde zahlen musste.

Bevölkerungsentwicklung des Reiches bis 1914 (© Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Russlands, Philip Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2003, S. 513)

Weil der Zar, wie alle europäischen Regierungen dieser Zeit, Angst vor einem entwurzelten "Lumpenproletariat" hatte, blieben die Bauern an die Scholle gebunden, bis 1906 Ministerpräsident Pjotr Stolypin (1862-1911) die Ablösezahlungen erließ und den Bauern das Recht gab, ihr Land zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen. Die Industrialisierung Russlands war daher vor 1906 stark von Wanderarbeitern geprägt, die zur Feldarbeit in ihr Dorf pendelten und dessen derbe Kultur sie umgekehrt in die Städte trugen. Man geht davon aus, dass 1913 der Anteil der Industriearbeiter an der Gesamtbevölkerung von 181 Millionen 3,3 Prozent (6,1 Millionen) betrug.

Die Großen Reformen brachten nicht nur die "Bauernbefreiung", sondern mit der Justizreform 1864 auch die Gewaltenteilung nach Russland. Bauern hatten nun ebenfalls die Möglichkeit, ihre Interessen vor Gericht zu erstreiten. Allerdings ist bis heute in der Forschung heftig umstritten, ob die Mehrheit der Bauern davon Gebrauch machte und inwieweit sie das neue Rechtsverfahren überhaupt verstanden und ihr Gewohnheitsrecht dafür aufgaben.

Weitere große Reformen waren die Einführung von Selbstverwaltungsinstitutionen für die Gouvernements (Verwaltungsbezirke) 1864 und für die Städte 1870. Die Entwicklung der russischen Städte war bis dahin anders als in West- und Mitteleuropa verlaufen. Zum einen gab es kein mittelalterliches Stadtrecht, das eine Selbstverwaltung der Bürgerschaft ermöglichte, zum anderen hatten die Moskauer Großfürsten mit der Unterwerfung der russischen Fürstentümer im 15. Jahrhundert dafür gesorgt, dass alle selbstständigen Strukturen zerstört wurden. Daher entwickelten sich neben den zwei Hauptstädten Moskau und St. Petersburg (Regierungssitz 1710-1918) alle anderen Städte nur in Abhängigkeit vom Hof als Verwaltungs-, Garnisons- oder Handelsplätze. Da es keine freien Städter gab und sich ein Bürgertum erst sehr spät und nur spärlich herausbildete, streiten Historikerinnen und Historiker bis heute, ob von einem "Bürgertum" als eigener, einflussreicher Gruppe überhaupt die Rede sein kann. Allerdings gab es um 1900 nicht nur in den beiden Metropolen Kaufleute, Unternehmer und Juristen, Ärzte, Professoren und Lehrer, kleinere Händler, Angestellte und Handwerker, die sich in Vereinen organisierten, sich um das Arbeiterwohl sorgten, als Mäzene auftraten, Theater und Kaffeehäuser besuchten, Zeitungen lasen und einen Lebensstil pflegten, der sich kaum von dem in London, Paris oder Berlin unterschied.

Anstelle der Bürgerinnen und Bürger trat in Russland eine andere Gruppe: die "Rasnotschinzen" (russ.; Verschiedenrangige) – meist Söhne von Geistlichen und verarmte Adelige, die in keinen Stand passten und die Grundlage der Intelligenzija bildeten. Die Intelligenzija zeichnete – mehr als ihr akademisches Studium – aus, dass sie den Zarismus ablehnte und bekämpfte. Es ist bezeichnend für Russland und das Verhältnis seiner gebildeten Schicht zum Staat, dass erst 1909 einige Intellektuelle mit "Vechi" (russ.; Meilensteine) ein Manifest verfassten, in dem sie die russische Intelligenz zur Kooperation mit der zarischen Regierung und zu patriotischer Aufbauarbeit aufriefen.

Eine politische Betätigung war jedoch allen versagt, bis der Zar in Reaktion auf die blutige Revolution von 1905 mit dem Oktobermanifest (30. Oktober 1905; alter Kalender 17. Oktober, s. a. Glossar) einige Grundrechte, darunter die Gründung von Parteien und die Wahl eines Parlaments, gewährte. Allerdings wurde ein Klassenwahlrecht eingeführt, das dafür sorgen sollte, dass die kleine Gruppe der Gutsbesitzer politisch den größten Einfluss behielt. Die Stimme eines Landbesitzers zählte so viel wie die von 3,5 Städtern, 15 Bauern oder 45 Arbeitern. Zweimal, 1906 und 1907, ließ der Zar die Duma auflösen, weil das Wahlergebnis dennoch zu vielen liberalen Kräften einen Abgeordnetensitz verschafft hatte. Daher wird die Zeit des russischen Parlamentarismus (1905-1917) mitunter auch als "Scheinkonstitutionalismus" bezeichnet. Auch wenn sich die politische Kultur und die städtische Gesellschaft durch die Staatsgrundgesetze von 1906 veränderten, blieb die zarische Macht doch nahezu unangetastet.

Mit ihrer Zulassung 1905 formierten sich folgende große Parteien: Die "Oktobristen", benannt nach dem Oktobermanifest, galten als liberal-konservativ und als Vertretung der zarentreuen Gutsbesitzer. Die "Kadetten", abgeleitet von der Abkürzung "KD" für "Konstitutionelle Demokraten", waren eine linksliberale Kraft, die Demokratie und eine republikanische Verfassung anstrebte. Sie ging aus der Selbstverwaltungs-Bewegung hervor und setzte sich größtenteils aus Akademikern und dem Bürgertum zusammen. Die 1898 im Untergrund gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) konnte seit 1905 legal agieren und Deputierte in die Duma wählen lassen. Sie bestand zum Großteil aus Berufsrevolutionären, die sowohl die Autokratie als auch die Demokratie ablehnten und für eine Diktatur des Proletariats kämpften. Die "Sozialrevolutionäre" (SR) waren eine Wiederbelebung des "Narodnitschestwo", der "Freunde des einfachen Volks". Diese Bewegung hatte in den 1870er-Jahren Furore gemacht, als junge Adlige und Rasnotschinzen begannen, das bäuerliche Volk zu idealisieren und zu missionieren: Von westlichen Einflüssen unbeleckt, unverdorben und rein, sei es die Kraft, an der Russland genesen könne. Nachdem viele "Narodniki" als Volksaufwiegler verurteilt worden waren, hatte sich die Bewegung 1901 illegal als Partei der "Sozialrevolutionäre" neu gegründet. Im Unterschied zur SDAPR setzten sie nicht allein auf die "Arbeiteravantgarde", sondern auf die breiten Volksmassen. Als einzige Partei vertraten sie in ihrem Programm den Terror als legitimes politisches Mittel. Die Terroranschläge sollten helfen, die Massen wachzurütteln und das wahre Antlitz der Regierung zu enthüllen. Tatsächlich war die Zeit nach der Revolution von Repressionsmaßnahmen gegen (vermeintliche) Revolutionsteilnehmer, Arbeiter, Bauern und Studenten, geprägt, die für mehr Rechte protestiert, Blockaden errichtet und Gutshäuser geplündert hatten. Die Kampforganisation der Sozialrevolutionäre antwortete darauf mit Terror, dem bis 1907 rund 9000 Menschen zum Opfer fielen. Ihr prominentestes Opfer war 1911 Ministerpräsident Stolypin.

Zu den politischen Problemen gesellten sich wirtschaftliche: Das Fehlen einer breiten städtischen Schicht vor 1900, die mangelnde unternehmerische Tätigkeit des Adels und das lange Bestehen der Leibeigenschaft werden dafür verantwortlich gemacht, dass sich in Russland die Industrie erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelte. Erste Manufakturen wurden um 1800 von Leibeigenen gegründet, die sich und ihr Land vom Ertrag freikauften und wichtige Industriezweige aufbauten. Staatliche Investitionen unter anderem in den Eisenbahnbau sorgten ab 1890 für ein rasantes Wachstum, das bis 1917 anhielt. Da sich aber keine breite Unternehmerschicht herausbildete, befanden sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 50 Prozent der Bergwerke, Ölförderanlagen, Eisenhütten und Industriebetriebe in ausländischer Hand.

Die Volksvertretung nach der russischen Verfassung von 1907 (© Bergmoser + Höller Verlag AG, Zahlenbild 842 510)

Vielvölkerreich

Das Zarenreich war ein Vielvölkerreich, das sich durch Annexion und Kolonisierung vom 16. bis zum 19. Jahrhundert vom Baltikum bis zum Japanischen Meer und von Sibirien bis Zentralasien erstreckte. Teils aus Respekt vor älteren Kulturen, sei es im Baltikum oder an der Seidenstraße in Zentralasien, teils einem vormodernen Herrschaftsverständnis verhaftet, respektierten die zarischen Beamten lange Zeit Traditionen und Sozialstruktur der eroberten Gebiete (z. B. in Sibirien) und begnügten sich mit der Erhebung von Steuern und der Rekrutierung von gebildeten Männern.

Doch mit der Aufklärung erreichte auch Russland die Idee, eine fortschrittliche Zivilisation zu sein, deren Pflicht es sei, anderen Ethnien "Fortschritt und Vernunft" zu bringen. Die sogenannte Zivilisierungsmission sorgte im Kaukasus für einen blutigen Krieg gegen die Bergvölker, die erst nach rund 50 Jahren (1817-1864) "befriedet" wurden. Unter dem Einfluss der anderen europäischen Kolonialmächte sann die zarische Elite weiter darauf, sich als überlegene, westliche Zivilisation zu präsentieren, indem sie 1867 mit Turkestan eine Kolonie in Zentralasien schuf, deren Nomaden sie wie "Wilde" behandelte. Um deren Traditionen und Widerstand zu brechen, ließ die Regierung vor allem ab 1891 russische und ukrainische Bauern ansiedeln, die das fruchtbare Weideland okkupierten.

Für weitere Unruheherde in den Westprovinzen unter Ukrainern, Weißrussen, Polen, Finnen und Balten sorgte seit circa 1859 eine zunehmende, aber sehr unterschiedlich ausgestaltete Russifizierungspolitik. Dabei strebte die zarische Regierung weniger an, aus allen Untertanen Russen zu machen. Vielmehr wollte sie die Bevölkerung in den Grenzregionen durch Sprach- und Schriftpolitik von nationalistischen Einflüssen abschneiden, die aus Österreich-Ungarn, Deutschland oder Skandinavien kamen: Wer die lateinische Schrift nicht mehr lesen konnte und nur noch Russisch sprach, konnte auch keine aufwieglerischen Schriften verstehen. Doch die Nationalbewegungen, die die rigide Sprachpolitik hatte unterdrücken sollen, erfuhren dadurch noch mehr Zulauf.

Eine europäische Macht


Auch wenn das Zarenreich in seiner Wirtschafts- und Sozialstruktur immer wieder als "rückständig" dargestellt wird, war es eine europäische Macht. So sahen es die Zaren seit Peter I. (1689-1725), und so gestalteten sie auch die Kolonisierungs-, Außen- und Dynastiepolitik. Russland gehörte im 19. Jahrhundert neben Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich-Ungarn zum europäischen "Mächtekonzert" der fünf Großen. Die Kriege, die es im 19. Jahrhundert führte, waren typische bewaffnete Auseinandersetzungen einer Kolonialmacht um die Vorherrschaft über dritte Mächte und damit um eine dominante Rolle im Kreise der Fünf (Krimkrieg gegen das Osmanische Reich 1853-1856, dem England und Frankreich zur Hilfe eilten) oder um neue Kolonien (Russisch-Japanischer Krieg 1904/05 um Korea).
Die Zarenfamilie der Romanows war mit den europäischen Königshäusern eng verwandt: Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) und Zar Nikolaus II. (1868-1918) waren Enkel der britischen Königin Victoria (1819-1901) und pflegten ihre Korrespondenz auf Englisch mit der Anrede "dearest Nicky" und "dearest Willy", Zarin Alexandra Fjodorowna (1872-1918) war eine Prinzessin von Hessen-Darmstadt.

Aber die dynastischen Verbindungen änderten nichts daran, dass die politischen Bündnisse anders geschlossen wurden. Der verbreitete Militarismus, das ungebremste Aufrüsten in Europa, wurde verschärft durch den Imperialismus, die Konkurrenz um immer neue Kolonien bzw. den Streit um die Vorherrschaft in Asien und Afrika. Dazu gärte der Nationalismus: Nicht nur hatte jede europäische Großmacht ein übersteigertes Selbstbild; auch die kleinen Völker, die bislang Untertanen und Teil der Imperien waren, strebten mit teils terroristischer Gewalt ihren eigenen Staat an. Nach der Ermordung des österreich-ungarischen Thronfolgers durch einen serbischen Nationalisten stellte sich Deutschland auf die Seite Österreich-Ungarns und erklärte am 1. August 1914 Russland, das sich hinter Serbien gestellt hatte, den Krieg.

Erster Weltkrieg


Der anfängliche, auch in Russland durchaus vorhandene Kriegsenthusiasmus wich wie in anderen europäischen Ländern schnell der Ernüchterung und dem Protest gegen die Einberufungen. Entgegen den Erwartungen seiner Verbündeten, Großbritannien und Frankreich, konnte Russland nicht die "Dampfwalze" aktivieren und aus dem bevölkerungsreichen Land immer neue Rekruten an die Front werfen. Bereits 1916 gab es keine Reservisten mehr, sodass sich die zarische Regierung darauf verlegte, nun auch Muslime aus Zentralasien und dem Kaukasus zum Militärdienst heranzuziehen, was dort zu Aufständen führte, die mit Militärgewalt niedergeschlagen werden mussten und sich teils bis Anfang 1917 hinzogen.

Aber auch an der Westfront gingen russische Militärs mit Gewalt gegen die eigene Bevölkerung vor: 1914 waren zunächst alle der "Kollaboration" und "Spionage" "verdächtigen" Ethnien, also alle Deutschen, Juden und andere, aus der Kriegszone deportiert worden; Schätzungen gehen von 500.000 bis zu einer Millionen Menschen aus. Im Mai 1915 befahl die russische Armeeführung, die gesamte Bevölkerung aus dem Frontgebiet zu evakuieren, was zu unkontrollierten Plünderungen, Brandschatzungen und weiteren 3,3 Millionen sich selbst überlassenen Flüchtlingen führte.

Gleichzeitig verschlechterte sich die Versorgungslage sowohl der Armee als auch der Zivilbevölkerung dramatisch; in den Städten kam es zu neuen Arbeiterstreiks und -protesten oder die Fabriken standen still, weil sie keinen Nachschub mehr bekamen. Immer mehr Soldaten desertierten und zogen als marodierende Banden durchs Land. Der Zar hatte als Oberbefehlshaber der Armee seit 1916 die Hauptstadt verlassen; das politische Petersburg machte für die Kriegsmisere die aus Deutschland stammende Zarin und ihren "Berater", den Wandermönch Rasputin (1869-1916), verantwortlich, der sie als ihr Vertrauter politisch manipulierte. In einer Verzweiflungstat wurde er "zur Rettung Russlands" im Dezember 1916 ermordet.

W. I. Lenin und die Bolschewiki als "kämpfende Avantgarde"


Die Lehren von Karl Marx (1818-1883) waren 1872 ganz legal nach Russland gelangt, als der erste Band seines Werks "Das Kapital" in russischer Übersetzung erschien, fünf Jahre nach der deutschen, 15 Jahre vor der englischen Ausgabe. Der zuständige Zensor hatte nach der Lektüre entschieden: "Man kann mit Bestimmtheit sagen, dass das Buch in Russland nur Wenige lesen und noch Wenigere verstehen werden." Doch es fand reißenden Absatz bei den verschiedensten Gruppierungen: Die Slawophilen, die an einen eigenen Weg Russlands als slawische Macht glaubten, sahen darin die Übel des Westens angeprangert, die Narodniki fanden darin eine Erklärung, warum sie nicht auf die Bauern, sondern auf das Proletariat setzen mussten, und verschiedenste Revolutionsanhänger schöpften daraus die Hoffnung, dass Russland von der europäischen Entwicklung nicht abgekoppelt, sondern in die erste Phase des "Klassenkampfes" eingetreten sei.

"Das Kapital" und andere Schriften westlicher Denker wurden Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedensten Studentengruppen diskutiert, in denen auch der junge Lenin verkehrte. Lenin, bürgerlich Wladimir Iljitsch Uljanow (1870-1924), kam aus einer adligen, gut situierten Familie aus Simbirsk (heute Uljanowsk) an der mittleren Wolga. Sein Vater war der typische Liberale, als den ihn sein Sohn später verachten sollte. Er bewunderte die Reformen Alexanders II. (reg. 1856-1881) und war sehr religiös. Sein Sohn Wladimir wurde 1887 jäh aus einem behüteten Leben gerissen, als sein Bruder wegen eines Attentatsversuchs auf den Zaren hingerichtet und ihm selbst daraufhin ein reguläres Studium an der Universität verweigert wurde. Er lebte von Pachtzahlungen und Zinsen, während er sich im Selbststudium mit Jura, aber auch mit Marx und den Narodniki beschäftigte. 1891 legte er sein Jura-Examen ab und zog nach St. Petersburg, um dort die von ihm bewunderten Marxisten zu treffen.

Hier wurde er schnell zu einem der Anführer, der marxistisches Denken mit den Lehren der Narodniki anreicherte: Lenin entwickelte die Idee einer kleinen, kämpfenden Avantgarde, die als Vortruppe mit Gewalt der Revolution den Weg bahnen müsse, weil das bäuerliche Volk zu träge und dumpf sei, um selbst sein Schicksal in die Hand zu nehmen. 1895 wurde er verhaftet und befand sich bei Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands 1898 in Verbannung in Sibirien. Mit der Frage, ob die Sozialdemokraten eine Massenpartei mit gewerkschaftlichen Fürsorgefunktionen oder eine Elitetruppe von Berufsrevolutionären sein solle, spaltete er 1903 auf dem II. Parteitag, der in Brüssel und London stattfand, die Partei: Nachdem seine Gegner den Kongress aus Protest verlassen hatten, stellte seine Fraktion, die das Elitemodell befürwortete, die Mehrheit (russ.: bolschinstwo), während die anderen nun die Minderheit (russ.: menschinstwo) bildeten.

Die Bolschewiki standen für eine Mischung aus aufklärerischem Befreiungsprogramm und gewaltsamem Umsturz: Adlige Güter und bürgerliche Betriebe sollten enteignet und an Arbeiter und Bauern verteilt werden, die Hochschulen sollten nur noch Arbeiterkinder ausbilden, die Frauen und die Völker sollten befreit werden. In welcher Form und mit welchen Mitteln das zu geschehen hatte, behielt sich die Partei zu bestimmen vor. Die Bolschewiki standen also für eine gewaltbereite Führerpartei, die für sich in Anspruch nahm, die Dinge besser verstehen und entscheiden zu können als die unmündigen Massen. Lenin, der bis 1917 im ausländischen Exil weilte, schrieb während der Revolution 1905, als er für wenige Monate nach Russland zurückkehrte, an das Petersburger Parteikomitee: "Ich sehe mit Entsetzen, wahrhaft mit Entsetzen, dass man schon länger als ein halbes Jahr von Bomben spricht und noch keine einzige hergestellt hat!"

Die Februarrevolution 1917


Die Februarrevolution war eine echte Volkserhebung. Dagegen stritten "Totalitaristen" und "Revisionisten" lange und erbittert, wie die "Oktoberereignisse" einzuschätzen seien: als weitere Volkserhebung oder als Putsch einer kleinen bewaffneten Bande?
Die Februarrevolution begann in Petrograd (wie St. Petersburg von 1914 bis 1924 hieß) mit dem Internationalen Frauentag, dem 8. März (alt: 23. Februar), als Frauen aus Ärger über die katastrophale Versorgungslage und das lange Anstehen vor den Lebensmittelgeschäften einen Protestzug begannen und sich ihnen die Arbeiter der Putilow-Werke anschlossen. Der Zar, der im Hauptquartier der Armee in Pskow weilte, ordnete an, den Protest der auf 200.000 Menschen angewachsenen Menge niederschießen zu lassen. Doch nach einem ersten Blutbad liefen die Soldaten in der Erkenntnis "Wir schießen auf unsere Mütter und Schwestern" auf die Seite der Streikenden über. Während die Soldaten der Revolution Organisation und Struktur gaben, stürmten die Massen als Symbol des verhassten Regimes die Peter-Pauls-Festung als russische "Bastille". Unter dem Eindruck dieser Nachrichten dankte Zar Nikolaus II. am 16. März (alt.: 3. März) ab.

Die Zeit der Doppelherrschaft


Damit begann die Zeit der "Doppelherrschaft". In Petrograd bildeten sich zwei neue Machtzentren: Im linken Flügel des Taurischen Palais, dem Sitz der Duma, konstituierte sich der Petrograder Rat der Arbeiter- und Soldatendeputierten. Im rechten tagten die Dumaabgeordneten, die sich über den letzten Befehl des Zaren, die Duma aufzulösen, hinweggesetzt und ein "Provisorisches Komitee" gegründet hatten. Aus der Zusammenarbeit dieser beiden höchst unterschiedlichen Organisationen – die einen besaßen formal eine Legitimierung, aber keinen Rückhalt in der Bevölkerung, die anderen waren illegal, aber besaßen die Macht der Straße – entstand die Provisorische Regierung. In der Nacht zum 14. März (alt.: 1. März) einigten sich Arbeiterrat und Dumakomitee auf ein Regierungsprogramm, das in erster Linie dafür sorgen sollte, wieder Ruhe und Ordnung herzustellen, Bürgerfreiheiten und Amnestien gewährte, aber vier entscheidende Fragen offen ließ. Diese betrafen die künftige Regierungsform – darüber sollte eine verfassunggebende Versammlung entscheiden −, die Landumverteilung, einen Friedensschluss und das Selbstbestimmungsrecht der Völker.

Denn die Februarrevolution war nicht nur eine Erhebung der Arbeiter und Bauern, sondern auch der vielen Ethnien, die einen "Völkerfrühling" erlebten. Nationale und soziale Probleme gingen dabei oft Hand in Hand: Lettische, estnische, weißrussische und ukrainische Bauern erhoben sich gegen baltendeutsche, polnische und russische Gutsbesitzer; die Nomaden des Ostens forderten ihr Land von russischen Siedlern zurück, sozial mobilisierte Bauern drängten in die Städte, wo sie auf andere ethnische Gruppen trafen, wie Juden oder Armenier, die dort die Mittelschicht stellten. Während die Februarrevolution Finnland und Polen die Autonomie brachte und sich Teile der Westprovinzen unter deutscher Besatzung befanden, während die Ukraine sehr schnell einen Zentralrat (Rada) einsetzte und sich in Transkaukasien die gleiche Doppelherrschaft wie in Petrograd bildete, versuchten die sehr unterschiedlichen nationalen Gruppierungen, ihre Aktivitäten zu koordinieren. Neben den kleinen Völkern an der Mittleren Wolga begannen sich auch die Volksgruppen Sibiriens zu organisieren und Forderungen zu stellen. Die Vertreter der nationalen sozialistischen Parteien trafen sich zu zwei Kongressen der Völker Russlands Ende Mai 1917 in Petrograd und im September in Kiew und sprachen sich für eine föderative Struktur aus. Auch die Muslime Russlands befürworteten im Mai auf einem Kongress in Moskau eine Föderation, beschlossen aber im Juli in Kasan, frustriert vom Festhalten der Provisorischen Regierung am Status quo, die Bildung einer "Nationalversammlung" der Muslime. Die Vermengung von sozialen mit nationalen Fragen erzeugte ein zunehmend explosives Gemisch, zumal die Arbeiter, Bauern, Soldaten und Ethnien immer ungeduldiger und radikaler auf die Lösung der aktuellen Probleme drängten.

Dazu war die höchst fragile Provisorische Regierung weder willens noch in der Lage. Sie scheiterte immer wieder an politischen Fragen, was bis Oktober 1917 zu zwei Kabinettsumbildungen führte. Aus ideologischen Gründen weigerten sich die Räte anfangs, eigene Regierungsmitglieder zu entsenden. Sie wollten die Phase der "bürgerlichen Revolution" abwarten, um sie dann in einer weiteren, sozialistischen Revolution zu überwinden. So gehörte der ersten Regierung nur ein Sozialist an, Alexander Kerenski (1881-1970, Partei der Trudowiki, sozial-, linksliberale Gruppierung), der erst Justiz-, dann Kriegsminister und schließlich Ministerpräsident der dritten und letzten Provisorischen Regierung (21.7.-7.11. / alt 8.7.-25.10.) wurde. Der Arbeiter- und Soldatenrat arbeitete tatsächlich gegen die formal von ihm mitgetragene bürgerliche Regierung. Gleichzeitig mit dem Regierungsprogramm erließ der Petrograder Rat (russ.: sowjet) den "Befehl Nr. 1", der verfügte, dass alle Truppenteile Soldatenräte bilden und den Offizieren nur noch dann gehorchen sollten, wenn deren Befehle mit den Beschlüssen des Sowjets übereinstimmten. Die Petrograder Garnison kehrte also nicht in die Kasernen zurück, und der Provisorischen Regierung gelang es nicht, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen, zumal die Polizei durch unzuverlässige Milizen ersetzt worden war.

QuellentextBefehl Nr. 1 des Petrograder Sowjets

Den 1. (14.) März 1917

An die Garnison des Petrograder Militärbezirks! An alle Soldaten der Garde, der Armee, der Artillerie und der Flotte zur unverzüglichen und genauen Ausführung, an die Arbeiter Petrograds zur Kenntnisnahme!

Der Sowjet der Arbeiter- und Soldatendelegierten hat beschlossen:

  1. In allen Kompanien, Bataillonen, Regimentern, Batterien, Schwadronen, in allen Dienststellen der verschiedenen militärischen Verwaltungen sowie auf den Schiffen der Kriegsflotte sind unverzüglich Komitees aus gewählte Vertretern der Mannschaften der oben aufgezählten Truppenteile zu wählen.

  2. Alle Truppeneinheiten, die ihre Vertreter in den Sowjet der Arbeiterdelegierten noch nicht gewählt haben, sollen auf jede Kompanie einen Vertreter wählen. Diese Vertreter haben mit einer schriftlichen Bestätigung am 2. (15.) März, um zehn Uhr morgens, im Dumagebäude zu erscheinen.

  3. In allen politischen Angelegenheiten untersteht jeder Truppenteil dem Sowjet der Arbeiter- und Soldatendelegierten und seinen Komitees.

  4. Die Befehle der militärischen Kommission der Reichsduma sind nur in den Fällen auszuführen, wenn sie zu den Befehlen und Beschlüssen des Sowjets der Arbeiter- und Soldatendelegierten nicht in Widerspruch stehen.

  5. Alle Arten von Waffen, wie Gewehre, Maschinengewehre, Panzerautos usw., müssen sich in den Händen und unter Kontrolle der Kompanie- und Bataillonskomitees befinden und dürfen unter keinen Umständen den Offizieren ausgeliefert werden, auch wenn sie dies verlangen.

  6. Bei Ausübung ihres Dienstes müssen die Soldaten die strengste militärische Disziplin einhalten, aber außerhalb des Dienstes dürfen die Soldaten in ihrem politischen, bürgerlichen und privaten Leben in denjenigen Rechten keineswegs beeinträchtigt werden, die alle übrigen Bürger genießen. Der militärische Gruß außerhalb des Dienstes wird abgeschafft.

  7. Ebenso wird das Titulieren der Offiziere: Exzellenz, Wohlgeboren usw. abgeschafft und durch Wendungen wie: Herr General usw. ersetzt. Grobes Verhalten, unter anderem das Duzen gegenüber den Soldaten, wird verboten. Von jeder Übertretung dieser Anordnung sowie über alle Mißverständnisse zwischen Offizieren und Soldaten sind letztere verpflichtet, ihre Kompaniekomitees in Kenntnis zu setzen.

Dieser Befehl ist in allen Kompanien, Bataillonen, Regimentern, Batterien und anderen militärischen Einheiten zu verlesen.

Der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendelegierten

Mit freundlicher Genehmigung des Amalthea Verlags in der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH, München © M. Smilg-Benario, Der Zusammenbruch der Zarenmonarchie, Zürich/Leipzig/Wien: Amalthea Verlag, 1928, S. 218 f.; zit. in: Manfred Hellmann (Hg.), Die russische Revolution 1917, dtv Dokumente, 3. Auflage, München 1964, S. 134



Der Arbeiter- und Soldatenrat nahm immer radikalere Positionen ein, seitdem Lenin am 16. April (alt.: 3. April) aus dem Exil zurückgekehrt war und einen Tag später seine Aprilthesen (siehe S. 14) verkündet hatte. Mit dem Schlachtruf "Alle Macht den Sowjets" rief er zum offenen Kampf gegen die Provisorische Regierung auf. Dies widersprach der Position der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, die sich am 18. Mai (alt.: 5. Mai) an einer Koalitionsregierung unter dem Fürsten Georgi Lwow (1861-1925), einem Anhänger der konstitutionellen Demokratie, beteiligten. Auch Josef Stalin (1878-1953) und Lew Kamenew (1883-1936), die im März aus dem Exil zurückgekehrt waren, glaubten an eine noch lange währende Kooperation mit den Bürgerlichen in der Provisorischen Regierung. Doch Lenin setzte sich in der Partei durch und organisierte am 1. Juli (alt.: 18. Juni) eine bewaffnete Demonstration von 400.000 Arbeitern und Matrosen, die "alle Macht den Räten" forderten. Als zwei Tage später Kriegsminister Kerenski den Petrograder Soldaten den Marschbefehl für seine Sommeroffensive erteilte, wertete der Sowjet das als konterrevolutionären Akt. Am 17. Juli (alt.: 4. Juli) marschierten auf seine Veranlassung die Kronstädter Soldaten auf das Taurische Palais. Der Juli-Aufstand (16.-19. Juli, alt.: 3.-6. Juli) konnte nur dank regierungstreuer Regimenter niedergeschlagen werden. Die Provisorische Regierung ließ 800 Bolschewiki verhaften, Lenin flüchtete ins finnische Exil, und Fürst Lwow übergab sein Amt an Kerenski. Diesem gelang es in der Folgezeit nicht, die politischen Kräfte zu einen. Auch der Sieg über den Putschversuch des Oberbefehlshabers Lawr Kornilow (1870-1918) am 14. September (alt.: 1. September) verschaffte Kerenski keine neuen Handlungsoptionen. Im Gegenteil schien das Ende seiner politischen Karriere besiegelt, da Kornilow der bürgerlichen Gesellschaft als "weißer Retter" gegolten hatte.

QuellentextLenins Aprilthesen

[…] Ich veröffentliche nun diese meine persönlichen Thesen […].

2. Die Eigenart der gegenwärtigen Lage in Rußland besteht in dem Uebergang von der ersten Etappe der Revolution, die infolge des ungenügend entwickelten Klassenbewußtseins und der mangelhaften Organisiertheit des Proletariats die Bourgeoisie an die Macht brachte, zur zweiten Etappe, die die Macht in die Hände des Proletariats und der armen Schichten der Bauernschaft legen muss. […]

4. Anerkennung der Tatsache, daß in den meisten Arbeiterdeputiertenräten unsere Partei in der Minderheit ist, vorläufig sogar in einer schwachen Minderheit gegenüber dem Block aller kleinbürgerlichen, opportunistischen, dem Einflusse der Bourgeoisie unterlegenen und diesen Einfluß im Proletariat zur Geltung bringenden Elemente […]. […]

5. Nicht parlamentarische Republik – eine Rückkehr von den Arbeiterdeputiertenräten zu dieser wäre ein Schritt rückwärts –, sondern eine Republik von Arbeiter-, Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräten im ganzen Lande, von unten bis oben. […]

6. Im Agrarprogramm Verlegung des Schwergewichts auf die Landarbeiterdeputiertenräte. Enteignung des gesamten adligen Grundbesitzes. Nationalisierung des gesamten Bodens im Lande; über ihn verfügen die örtlichen Landarbeiter- und Bauerndeputiertenräte. Schaffung von besonderen Deputiertenräten der armen Bauern. Errichtung von Musterwirtschaften aus allen großen Gütern […] unter Kontrolle des Landarbeiterdeputiertenrates und auf öffentliche Kosten.

7. Sofortige Verschmelzung aller Banken des Landes zu einer Nationalbank, die der Kontrolle des Arbeiterdeputiertenrates untersteht.

8. Nicht "Einführung" des Sozialismus als unsere unmittelbare Aufgabe, sondern einstweilen nur sofortige Übernahme der Kontrolle der gesellschaftlichen Produktion und Verteilung der Erzeugnisse durch den Arbeiterdeputiertenrat.

9. Aufgaben der Partei:
a) Sofortiger Parteitag
b) Änderung des Parteiprogramms […]
c) Änderung des Namens der Partei*.

10. Erneuerung der Internationale. Initiative zur Schaffung einer revolutionären Internationale, einer Internationale gegen die Sozialchauvinisten und gegen das "Zentrum". […]


*Statt "Sozialdemokratie", deren offizielle Führer in der ganzen Welt den Sozialismus verraten haben, indem sie zur Bourgeoisie übergegangen sind […], müssen wir uns Kommunistische Partei nennen.

W. I. Lenin, "Über die Aufgaben des Proletariats in der gegenwärtigen Revolution", in: Sämtliche Werke. Ins Deutsche übertragen unter Redaktion von N. Borowski, nach der zweiten, ergänzten und revidierten russischen Ausgabe. Bd. XX, Erster Halbband, Verlag für Literatur und Politik Wien/Berlin 1928, S. 114 ff.

Die "Oktoberrevolution"


Wie bereits erwähnt, ist in der Forschung lang und heftig gestritten worden, ob die "Oktoberereignisse" eine Revolution oder ein Putsch waren: Während Sozialhistoriker betonten, dass die Massen die sozialistische Revolution wollten und diese zu Hunderttausenden unterstützten, beharrten konservative Historiker darauf, dass die "Oktoberrevolution" der Putsch einer "kleinen machthungrigen Clique blutrünstiger Verschwörer" war. Eine gemäßigte Position dazwischen lautete, dass die Bolschewiki den Massen zumindest am besten suggeriert hätten, die Lösung für deren Probleme zu haben, an denen die Provisorische Regierung gescheitert war: Brot für die Arbeiter, Land für die Bauern, Frieden für die Soldaten, Freiheit für die Völker.

Tatsächlich konnten die Bolschewiki nach dem KornilowPutsch bei den Stadtdumawahlen Zugewinne verzeichnen und sowohl die Hauptstadt-Sowjets als auch zunehmend die Räte in den Provinzen unter ihre Kontrolle bringen. Dennoch ist unbestritten, dass es das Zentralkomitee (ZK) der Bolschewiki war, das den Sturz der Provisorischen Regierung in einer konspirativen Nachtsitzung am 23. Oktober (alt.: 10. Oktober), zu der Lenin inkognito aus dem Exil angereist war, mit neun Stimmen gegen den Willen von Kamenew und Grigori Sinowjew (1881-1936) beschloss. Eigentlicher Organisator des Umsturzes aber war Lew Trotzki (1879-1940), der nicht nur seit dem 8. Oktober (alt.: 25. September) dem Petrograder Sowjet vorsaß, sondern auch das neu geschaffene "Militärische Revolutionskomitee" als operative Schaltstelle befehligte und dadurch ohne Blutvergießen am 6. November (alt.: 24. Oktober) alle strategisch wichtigen Punkte besetzen konnte. Die Übernahme der Macht am 7. November (alt.: 25. Oktober) verlief daher wesentlich unblutiger als die Februarrevolution. Der berühmte Schuss des Panzerkreuzers "Aurora" läutete den Sturm auf den Winterpalast ein, wo die Kabinettsmitglieder der Provisorischen Regierung gefangen genommen wurden. Kerenski konnte fliehen.

Die ersten Staatshandlungen


Lenin verkündete sogleich drei Dekrete, die er noch am gleichen Tag vom II. Sowjetkongress, den die gemäßigten Kräfte aus Protest gegen den Putsch verlassen hatten, absegnen ließ: Er verkündete das Ausscheiden Russlands aus dem Krieg und rief alle Kriegsparteien zu Verhandlungen über einen "demokratischen" Frieden ohne Annexionen auf; er erklärte den Grund und Boden zum Volkseigentum, das beanspruchen dürfe, wer es bearbeite; und er setzte als Regierung einen Rat der Volkskommissare ein, an dessen Spitze er sich selbst stellte. Am 15. November (alt.: 2. November) folgte die Deklaration zu den Rechten der Völker (siehe S. 16), die diesen die Selbstbestimmung bis hin zur Loslösung garantierte. Lenin war nun Regierungschef und de facto Vorsitzender des ZKs der Bolschewiki. Die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung am 8. Dezember (alt.: 25. November) ließ die neue Regierung noch zu. Doch die Bolschewiki erlitten mit 23,8 Prozent eine Wahlniederlage, während die Sozialrevolutionäre, auch in Folge von Wahlbündnissen mit nationalen Parteien, über 40 Prozent erzielten. Die übrigen russischen Parteien (Menschewiki, Kadetten, Rechte) kamen zusammen auf weniger als zehn Prozent. Dabei fielen die Wahlergebnisse regionsspezifisch sehr unterschiedlich aus. Während die Bolschewiki im nicht deutsch besetzten Livland mit 72 Prozent ihr bestes Ergebnis holten und es in Minsk und Witebsk auf 63 bzw. 51 Prozent brachten, wählten die meisten Nichtrussen ihre nationalen Parteien. Insgesamt machte der Anteil der nationalen Parteien etwa 22 Prozent der Stimmen aus. Als sich die Konstituante, die am 18. Januar (alt.: 5. Januar) zusammentrat, weigerte, ihre Kompetenzen auf die Sowjetmacht zu übertragen, ließ Lenin sie mit Waffengewalt auflösen. Den darauf folgenden massiven Protest zigtausender Demonstranten, die "Alle Macht der Konstituierenden Versammlung" forderten, ließ die Sowjetregierung mit allen Mitteln unterdrücken. Mit dem Argument, die "Konterrevolution" zu bekämpfen, wurden noch 1917 die Pressefreiheit eingeschränkt, Arbeitermilizen bewaffnet und die berüchtigte politische Polizei Tscheka gegründet.

QuellentextDeklaration der Rechte der Völker Russlands

Die Oktoberrevolution begann unter dem allgemeinen Banner der Befreiung aus der Knechtschaft. […]
Alles, was lebt und lebensfähig ist, wird aus den verhaßten Fesseln befreit. Es bleiben nur noch die Völker Rußlands, welche Unterdrückung und Mutwilligkeit erduldet haben und noch erdulden, und deren Entsklavung umgehendst beginnen, deren Befreiung durchgeführt werden muß, entschieden und unwiderruflich.
In der Epoche des Zarismus wurden die Völker systematisch gegeneinander gehetzt. Die Ergebnisse einer solchen Politik sind bekannt: Gemetzel und Pogrome einerseits und Knechtschaft der Völker andererseits. […]
In der Zeitspanne des Imperialismus, nach der Februarrevolution, als die Macht in die Hände der konstitutionell-demokratischen Bourgeoisen überwechselte, wurde die unverhohlene Hetzpolitik abgelöst durch eine Politik des ängstlichen Mißtrauens gegenüber den Völkern Rußlands, einer Politik der Schikane und Provokation unter dem Deckmantel verbaler Erklärungen der "Freiheit" und "Gleichheit" der Völker. Die Auswirkungen einer solchen Politik sind bekannt: Vertiefung nationaler Feindschaft, Untergrabung des gegenseitigen Vertrauens.
Dieser unwürdigen Politik der Lügen und des Mißtrauens, der Schikane und Provokation muß ein Ende gesetzt werden. […]
Diesen Grundsätzen gemäß, verkündete der erste Sowjetkongreß im Juni dieses Jahres das Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstverwaltung.
Im Oktober dieses Jahres bekräftigte der zweite Sowjetkongreß dieses unveräußerliche Recht der Völker noch entschiedener und konkreter.
Dem Willen dieser Kongresse gemäß hat der Rat der Volkskommissare beschlossen, folgende Prinzipien zur Grundlage seiner Tätigkeit hinsichtlich der Nationalitäten Rußlands zu machen:

  1. Gleichheit und Souveränität der Völker Rußlands.

  2. Recht der Völker Rußlands auf freie Selbstbestimmung, bis hin zu einer Loslösung und Bildung eines selbständigen Staates.

  3. Aufhebung aller und jeglicher nationaler und nationalreligiöser Privilegien und Einschränkungen.

  4. Freie Entfaltung nationaler Minderheiten und ethnographischer Gruppen, die das Gebiet Rußlands bewohnen.

Die daraus resultierenden konkreten Dekrete werden unmittelbar nach Bildung einer Kommission für Angelegenheiten der Nationalitäten ausgearbeitet.

Im Namen der Rußländischen Republik

Der Volkskommissar für nationale Angelegenheiten
Iosif Džugašvili – Stalin

Der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare V. Ul’janov – Lenin

2. November 1917

Rev. Übersetzung hier nach: Helmut Altrichter (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Band 1: Staat und Partei, dtv-Dokumente, München 1985, S. 135 ff.

www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0002_vol&object=pdf&st=DEKLARATION DER VöLKER&l=de © BSB München

QuellentextStatut der Russischen Kommunistischen Partei der Bolschewiki,

angenommen auf ihrer VIII. Allrussischen Konferenz, 1919 (Auszug)

I. Die Parteimitglieder

1. Als Parteimitglied gilt, wer das Programm der Partei anerkennt, in einer ihrer Organisationen mitarbeitet, sich den Beschlüssen der Partei unterordnet und die Mitgliedsbeiträge entrichtet.

2. Neue Mitglieder werden durch die örtlichen Parteikomitees aus den Reihen der Kandidaten aufgenommen und durch die nächste allgemeine Versammlung der betreffenden Organisation bestätigt. […]

4. Über die Frage des Parteiausschlusses entscheidet die allgemeine Versammlung der Organisation, deren Mitglied der Betreffende ist. Der Beschluß über den Ausschluß tritt erst nach seiner Bestätigung durch das Gouvernementkomitee in Kraft, wobei der Betreffende bis zur Bestätigung des Ausschlusses aus der Parteiarbeit entfernt wird. Der Ausschluß von Parteimitgliedern wird in der Parteipresse unter Angabe des Grundes des Ausschlusses bekanntgegeben. […]

III. Der organisatorische Aufbau der Partei

10. Leitendes Prinzip des organisatorischen Aufbaus der Partei ist der demokratische Zentralismus.

11. Die Partei ist auf der Grundlage des demokratischen Zentralismus nach dem Territorialprinzip aufgebaut; eine Organisation, die einen bestimmten Bereich umfaßt, gilt als höhere gegenüber allen Organisationen, die Teile des betreffenden Bereichs umfassen.

12. Alle Parteiorganisationen sind in der Entscheidung örtlicher Fragen autonom.

13. Höchstes leitendes Organ jeder Organisation ist die allgemeine Versammlung, die Konferenz oder der Kongreß.

14. Die allgemeine Versammlung, die Konferenz oder der Kongreß wählt ein Komitee, das ihr Vollzugsorgan ist und die gesamte laufende Arbeit der örtlichen Organisation leitet. […]

IV. Die zentralen Parteiinstitutionen

20. Oberstes Parteiorgan ist der Kongreß. Ordentliche Kongresse werden jährlich einberufen. Außerordentliche Kongresse werden vom Zentralkomitee auf eigene Initiative oder auf Verlangen von mindestens einem Drittel aller Mitglieder einberufen, die auf dem letzten Parteikongreß vertreten waren. […]

23. Das Zentralkomitee wird in der Zusammensetzung von 19 Mitgliedern (12 Kandidaten) gewählt. […]

24. […] Das Zentralkomitee lenkt die Arbeit der zentralen Sowjet- und gesellschaftlichen Organisationen durch die Parteifraktionen. […]

X. Die Parteidisziplin

50. Straffste Parteidisziplin ist die erste Pflicht aller Parteimitglieder und Parteiorganisationen. Die Beschlüsse der zentralen Parteiinstanzen müssen schnell und genau ausgeführt werden. […]

Übersetzt von Johannes Dietrich

Georg Brunner, Das Parteistatut der KPdSU 1903-1961. Dokumente zum Studium des Kommunismus. Hg. vom Bundesinstitut zur Erforschung des Marxismus-Leninismus (Institut für Sowjetologie), Bd. 2, Verlag Wissenschaft und Politik Köln 1965, S. 116 ff

QuellentextTscheka – GPU – NKWD – KGB

Der bis heute bekannte KGB (russ. für Komitee für Staatssicherheit) hatte viele Vorläuferorganisationen. Am Anfang stand die Tscheka, russ.: CˇK, Abkürzung für "Allrussische außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage", die unter ihrem Leiter Felix Dserschinski (1877-1926) alle gegen die Bolschewiki gerichteten Handlungen verfolgte, Gefängnisse und Konzentrationslager organisierte und Erschießungen vornahm. 1922 wurde das Organ des "Roten Terrors" als "Staatliche Politische Verwaltung", russisch kurz GPU, zu einer Behörde umorganisiert, die nach Dserschinskis Tod 1926 Wjatscheslaw Menschinski (1874-1934) leitete. Nachdem die GPU während der Industrialisierung und Kollektivierung erneut Hunderttausende "Saboteure" und "Kulaken" (Schimpfwort der Bolschewiki für wohlhabende Bauern) verhaftet, durch ein eigenes Gerichtskollegium abgeurteilt und 1930 die Hauptverwaltung der Lager (GULag) gegründet hatte, wurde sie 1934 in ein neues "Volkskommissariat des Inneren", russisch kurz NKWD, unter Genrich Jagoda (1891-1936) überführt. 1936 ersetzte Stalin Jagoda durch Nikolai Jeschow (1895-1940), der für ihn den Großen Terror organisierte. 1938 wurde auch er auf Weisung von Stalin durch Lawrenti Berija (1899-1953) abgelöst. Dieser leitete bis 1953 die Staatssicherheit, die mehrfach in dieser Zeit Namen und Organisationsform wechselte: Nach NKGB (Volkskommissariat für Staatssicherheit) 1941 und MGB (Ministerium für Staatssicherheit) 1946 schufen die Nachfolger Stalins nach dessen Tod 1953 und Berijas Hinrichtung 1954 den KGB und unterstellten ihn dem Ministerrat.


Die Verfassung der Russischen Sowjetischen Föderativen Sozialistischen Republik (russ. RSFSR) wurde am 10. Juli 1918 vom V. Sowjetkongress verabschiedet. Sie schrieb als höchste Gewalt den Sowjetkongress fest, der sich aus Räten rekrutierte, die auf allen Verwaltungsebenen gebildet werden sollten. Er sollte anfangs dreimal, seit 1919 nur noch einmal im Jahr tagen. Er wählte das Zentrale Exekutivkomitee (ZEK), das zwischen den Kongressen deren Aufgaben wahrnehmen, die Regierung, den Rat der Volkskommissare, bilden und kontrollieren sollte. 1923/24 übertrug die Verfassung der Sowjetunion diese Institutionen auf die gesamte Union. Tatsächlich lag die größte Macht aber bei der Partei, die sich seit 1918 Russische Kommunistische Partei der Bolschewiki (RKP (b)) bzw. nach Gründung der Sowjetunion seit 1925 Allunions Kommunistische Partei der Bolschewiki (WKP (b)) nannte, bevor sie 1952 in Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) umbenannt wurde. Nach der Kriminalisierung und dem Verbot der anderen Parteien kontrollierte die KPdSU die Aufstellung der Kandidaten und deren Wahlen so wie die Debatten und Maßnahmen der Räte.

Der Bürgerkrieg (1918-1922)


Die Bolschewiki gewannen ihre Macht nicht mit der "Oktoberrevolution", sondern im folgenden Bürgerkrieg, in dem die "Roten", also die Bolschewiki, mit den "Weißen", dem Sammelbecken aller anderen politischen Kräfte, um die Macht kämpften. Aber der Bürgerkrieg war noch viel mehr:

  • die Abwehr der gerade unabhängig oder autonom gewordenen Regionen wie der Ukrainischen Volksrepublik, Weißrusslands, des Kaukasus und Mittelasiens gegen die Wiedereingliederung in den bolschewistischen Herrschaftsbereich,

  • die Intervention der Entente-Mächte, die den deutschen Einfluss auf die russländischen Provinzen zu begrenzen suchten,

  • der Versuch der wiederhergestellten Nation Polen, ihr Territorium auszuweiten,

  • der Kampf der "Grünen", in die Wälder geflohener Bauern, die sich zu Armeen zusammenschlossen, um ihre eigene Vorstellung von einem gerechten Staat zu verteidigen,

  • ein Test der Bolschewiki, welche Gewaltmittel sich als Herrschaftspraxis eigneten,

  • und schließlich, als die letzten Weißen 1920 bereits geflohen waren, ein Krieg gegen die Bauern, der bis 1922 dauerte.

Im Bürgerkrieg setzte sich fort, was mit dem Weltkrieg begonnen hatte: Verwüstung und Zerstörung des Landes, Entwurzelung, Verarmung und Verrohung der Menschen. (siehe Karte I)
Russland befand sich de facto immer noch im Krieg. Das Deutsche Kaiserreich hatte die Rückkehr Lenins nach Petrograd unterstützt, weil es auf den Zusammenbruch des Zarenreichs und einen schnellen Separatfrieden an der Ostfront setzte. Die Friedensverhandlungen von Brest-Litowsk (22. 12. 1917 - 10. 2. 1918, alt.: 9. 12. 1917 - 28. 1. 1918) scheiterten aber zunächst, sodass die deutschen Truppen eine erneute Offensive starteten und nun fast ohne Widerstand weit bis an die Narwa, nach Pskow und Kiew vordrangen. Mit dem von Lenin am 3. März 1918 akzeptierten "Diktatfrieden" verlor Sowjetrussland fast 30 Prozent seiner Vorkriegsbevölkerung und 18 Gouvernements. In Reaktion auf den deutschen Sieg landeten wenige Tage später englische und US-amerikanische Truppen im Norden Russlands, um eine Ausweitung des deutschen Einflusses zu verhindern und bereits geliefertes Kriegsgerät zu sichern. Angesichts der verlorenen "Randgebiete" und der Intervention verlegten die Bolschewiki die Hauptstadt am 12. März (s. a. Glossar -> Kalender) nach Moskau.

Gleichzeitig erwuchs auch im Inneren des Landes militärischer Widerstand. 101 vertriebene Delegierte der Konstituante, in erster Linie Sozialrevolutionäre, hatten sich an die Mittlere Wolga nach Samara zurückgezogen, um dort Bataillone zu organisieren und den Sturz der Bolschewiki vorzubereiten. Am 8. Juni 1918 erklärte das "Komitee der Mitglieder der Konstituierenden Versammlung" die bolschewistische Regierung für abgesetzt. Mithilfe der Tschechoslowakischen Legion, eines Truppenverbands von 30.000 österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen, eroberte das Komitee Simbirsk und Kasan und rief einen Gegenstaat aus. Auch in Reaktion auf das Vorrücken der Sozialrevolutionäre ließ die Sowjetregierung die in Jekaterinburg internierte Zarenfamilie in der Nacht auf den 17. Juli erschießen.

Die Gegner der Bolschewiki versuchten derweil, ihre Kräfte zu bündeln und zu einer Kooperation zu finden. Vom 8. bis 23. September versammelten sich 170 Vertreter der verschiedenen Gruppierungen und Parteien in Ufa unter dem Vorsitz von Admiral Alexander Koltschak (1874-1920) zu einer "Allrussischen Staatskonferenz". Doch noch während die Konferenz tagte, eroberte die Rote Armee die Mittelwolga zurück; am 7. Oktober fiel Samara an die Bolschewiki. Koltschak wurde in Omsk als Befehlshaber von Kosaken- und Freiwilligenverbänden zum "obersten Herrscher" ausgerufen; damit lag die Opposition in monarchischen Händen, und das letzte demokratische Experiment war gescheitert.

Als Ende 1918 die Mittelmächte aus der Ukraine abzogen, kam es zu jahrelangen Kämpfen zwischen der Roten Armee, den "Weißen", den Streitkräften der frisch ausgerufenen Ukrainischen Volksrepublik unter dem Kosaken Symon Petljura (1879-1926) und dem Anarchisten Nestor Machno (1888-1934), der bis zu 50.000 Mann anführte, die ihre eigene Vorstellung von der Agrarrevolution mit der Waffe verteidigten: das Land den Bauern, Handelsfreiheit und frei gewählte Sowjets "ohne Moskauer und Juden". In Zentralrussland griffen im Jahr 1919 die "weißen Truppen", unterstützt durch Kriegshilfen der Entente-Mächte, an drei Fronten an: Von Osten rückte Koltschak wieder in das Wolgabecken vor; er profitierte davon, dass von März bis August 1919 hier 30.000 Bauernsoldaten ein großes Gebiet unter ihre Kontrolle gebracht hatten, welche die Abschaffung der Beschlagnahmungen, freie Sowjetwahlen und das Ende der bolschewistischen "Komissarokratie" forderten. Aber Koltschak konnte der Roten Armee nicht standhalten, die seine Verbände an der Transsibirischen Eisenbahnlinie entlang bis Irkutsk verfolgte und aufrieb.

QuellentextEin Krieg der Kampfzonen, nicht der Fronten

Der Russische Bürgerkrieg erinnert in vielem an einen vormodernen Krieg, wurde aber mit modernen Waffen geführt: Maschinengewehre, Schnellfeuerkanonen, Panzerzüge, Panzerwagen, sogar Flugzeuge wurden eingesetzt, auch moderne Kommunikationsmittel wie die Eisenbahn, Telegraf oder Telefon genutzt. Als typisches und charakteristisches Kampfmittel des Bürgerkriegs wird oft der Panzerzug genannt. In der Tat gab es wohl kaum einen Krieg, in dem Panzerzüge eine so große Rolle spielten. Noch typischer aber dürfte hier ein vormodern-moderner Hybrid sein: die mit einem fest montierten Maschinengewehr bewehrten Kaleschen oder Bauernwagen, tačanka genannt. Auch die Rote Armee setzte sie massenhaft ein, sie leisteten weit bessere Dienste als motorisierte Panzerwagen und waren ein beliebtes Fotomotiv. Der Russische Bürgerkrieg war ein Krieg der Bewegung, in dem Pferdekraft von entscheidender Bedeutung war. Es gab kaum so etwas wie Fronten, obwohl von ihnen viel die Rede war, etwa als offizielle Bezeichnung von Heeresgruppen der Roten Armee. Tatsächlich gab es meistens nur Kampfzonen, in denen die Truppen nie sicher sein konnten, den Gegner vor sich und den Rücken frei zu haben. Schaut man sich an, wie dieser Krieg ganz konkret geführt wurde, ist er eher mit dem Dreißigjährigen Krieg als mit dem Weltkrieg oder gar den Kriegen des 19. Jahrhunderts zu vergleichen.
Wenn die tačanka das emblematische Kampfmittel dieses Krieges war, dann war die typische Kampforganisation weniger eine in klare Kommando- und Versorgungsstrukturen integrierte Militäreinheit als vielmehr ein selbständig operierender, mittelgroßer und beweglicher Verband. Mit anderen Worten: Soviel Organisation und Planung es aufseiten der Roten Armee und der verschiedenen Weißen Armeen auch gegeben haben mag – in der Kampfpraxis funktionierten ihre Verbände unter dem Druck der Umstände oftmals eher nach dem Muster paramilitärischer Verbände.

Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905-1933 (Reihe "Studien zur Gewaltgeschichte des 20 Jahrhunderts"), Hamburger Edition – Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Hamburg 2012, S. 254 f.



Die größte "weiße" Streitmacht aus 64.000 Kosaken, den einstigen Elitesoldaten des Zaren, und Freiwilligen stand im Süden, im Gebiet der Donkosaken, wohin sich 1917 Teile des Generalstabs und Anfang 1918 die Kadettenführer geflüchtet hatten. Unter General Anton Denikin (1872-1947) marschierten sie durch die Ukraine und erreichten im Oktober 1919 Orjol. Aber der Vorstoß zu den Truppen Koltschaks an der mittleren Wolga scheiterte, und wegen strategischer Fehler musste die Armee überstürzt den Rückzug antreten. Im Norden des Landes konnten estnische, lettische, litauische und russische Freiheitskämpfer unter General Nikolai Judenitsch (1862-1919) zwar im Oktober 1919 bis in die Vororte Petrograds vorrücken; es gelang ihnen aber nicht, die Stadt einzunehmen.

1920 sah einen Siegeszug der Roten Armee, die bis ans Schwarze Meer vorrückte, den Kaukasus eroberte und sich anschickte, Mittelasien zu überrollen. Im Krieg gegen Polen, das unter Józef Piłsudski Sowjetrussland im April 1920 angegriffen hatte, gelang es der Roten Armee unter General Michail Tuchatschewski (1893-1937) und der Ersten Reiterarmee unter Semjon Budjonny (1883-1973), die polnischen Truppen auf deren eigenes Territorium zurückzuwerfen. Unter General Pjotr Wrangel (1878-1928) unternahmen die "Weißen" im Sommer 1920 von der Krim aus einen letzten Versuch, Gebiet zu gewinnen, bevor sie sich angesichts der herannahenden "Roten", die im November die Krim eroberten, von alliierten Schiffen in letzter Minute evakuieren ließen. Im Oktober 1922 gelang es den "Roten" schließlich, auch die Gebiete in Fernost wiederzugewinnen und die japanischen Interventionstruppen zu vertreiben.

Gewalt und Pogrome


Warum siegten die "Roten", obwohl das Gebiet, das sie kontrollierten, 1918 nur noch auf ein Rumpfrussland zusammengeschrumpft war? Ihr Erfolg hatte weniger mit der Unterstützung durch Arbeiter und Bauern zu tun, wie es propagiert und auch im Westen lange Zeit wiederholt wurde. Der Erfolg lag in der straffen Organisation der Roten Armee unter Trotzki begründet, dem es gelang, viele zarische Generäle wie Tuchatschewski oder Budjonny zu rekrutieren. Sie brachten nicht nur das militärische Wissen mit, das die Bolschewiki brauchten, sondern verwirklichten auch mit den Bolschewiki Pläne, die sie teils bereits unter dem Zaren ausgearbeitet und nach dem Vorbild europäischer Kolonialmächte entwickelt hatten: die Zwangskonfiszierung von Getreide, die Erschießung von Geiseln, Deportationen und die Einrichtung von Konzentrationslagern.

Der Unterschied zwischen Russland und dem restlichen Europa bestand nicht in der Gewalttätigkeit an sich, so die neueste Forschung, sondern darin, dass in Russland derartige Gewalt auch gegen die eigene Bevölkerung angewandt wurde. In der Brutalität, so die jüngste Forschung weiter, hätten sich sämtliche Bürgerkriegsparteien nicht unterschieden; aber entscheidend sei gewesen, dass die Bolschewiki sie konsequenter und systematischer einsetzten. Es gab Gebiete, die bis zu 20-mal zwischen "Roten" und "Weißen" hin- und herwechselten, was jedes Mal neue Plünderungen, Vergewaltigungen, Lebensmittelkonfiskationen und die Erschießung von "Kollaborateuren" mit sich brachte.

QuellentextBürgerkrieg in der Ukraine

Die Schriftstellerin Anna Abramovna Saksaganskaja erlebte die Besetzung Jekaterinoslaws (heute: Dnipropetrowsk, Ukraine – Anm. d. Red.) durch die Machno-Truppen im Jahre 1919 hautnah mit und verarbeitete ihre Erlebnisse in einer autobiografischen Schrift mit dem Titel "Unter schwarzer Flagge". Im Frühjahr 1919 hütete sie in Jekaterinoslaw das Haus ihrer Schwester. Es war ein großes Haus, in dem mehrere Mietparteien wohnten. Als Hausbesitzer hatten die Schwester und der Schwager bei Machnos erstem Besuch in der Stadt schlechte Erfahrungen gemacht, weswegen sie sich bei seinem erneuten Herannahen am Rande der Stadt selbst zur Miete einquartierten, um nicht erneut als "Besitzer" bedroht zu sein. Anna Saksaganskaja selbst gab sich als Mieterin im Hause ihrer Schwester aus. Auch sie hatte keine große Wahl gehabt – der Hunger hatte sie aus Petersburg vertrieben und ihre Schwester war die letzte Rettung gewesen. Sie bewohnte mit der Köchin ein paar Zimmer, als Machnos Soldaten in die Stadt einfielen und die Haustür eintraten.
Es war Machnos zweiter Besuch in der Stadt. Beim ersten Mal hatte er mit seiner ihm eigenen List und Tücke ein sehr viel größeres Kontingent von Petljura-Truppen verjagt, konnte sich mit seinen Leuten aber gerade einmal vier Tage halten. Allerdings hatte sich auch diese kurze Zeit angesichts der Grausamkeiten den Einwohnern von Jekaterinoslaw ins Gedächtnis geprägt. Auf der Straße wurde buchstäblich auf alles geschossen, was sich bewegte, danach das Geschäftszentrum der Stadt geplündert und größtenteils in Schutt und Asche gelegt. Inmitten des Tumults stand Machno an einem kleinen Feldgeschütz und ließ auf die höchsten Gebäude feuern. Am Ende lagen mehr als dreihundert Leichen in den Straßen.
Machnos Truppen wurden von einer Abteilung weißer Kavallerie vertrieben, die selbst wiederum nach kurzer Zeit von einer Einheit der Bolschewiki in die Flucht geschlagen wurde. Auch Jekaterinoslaw ging jetzt wie viele Städte von einer Hand in die andere. Anna Saksaganskaja schrieb dazu: "Wir hatten uns schon so an den Krieg gewöhnt, dass uns nicht mehr interessierte, wer gerade in die Stadt einzog, sondern wir nur noch den Wechsel als solchen registrierten: Die Stadt ging wie ein Fußball von der Hand einer kämpfenden Partei in die andere." Achtzehnmal ging das so, bis sich die Rote Armee nach dem Verlust Perekops schließlich nicht mehr halten konnte. Jekaterinoslaw fiel damit im Oktober 1919 wie eine reife Frucht in Machnos Hände. […]
Bei alldem war die Todesangst allgegenwärtig: Anna Saksaganskaja wusste wie viele andere auch, dass in den sechs Wochen der Besetzung der Stadt täglich am Ufer des Dnjepr Menschen erschossen und ihre Leichen teils in den Fluss geworfen, teils einfach liegen gelassen wurden, Verwesungsgeruch hing in der Luft. Es war nicht schwer, Opfer zu finden, wie sie bemerkte: Die Denunziation blühte, Reiche, Kommunisten, Kritiker Machnos und schließlich Intellektuelle fanden sich leicht. […]
Opfer des Terrors wurden in erster Linie Weißgardisten und Offiziere oder Personen, die für solche gehalten wurden, aber auch unter der Zivilbevölkerung gab es Tote. Studenten, Kaufleute, Bäcker und eine Gruppe von Juden werden in einem Dokument genannt. […]
Es waren die Weißen Truppen des Generals Slaščev, die Machno und seine Truppen schließlich aus der Stadt vertrieben. Leichter wurde es für die Einwohner deshalb aber nicht. Die Sieger führten sich nicht wesentlich anders auf als Machnos Truppen. Was jene noch nicht geraubt hatten, nahmen jetzt die Weißgardisten, unter denen viele Inguschen und Tschetschenen gewesen sein sollen. Die verwundeten und kranken Machno-Soldaten, die in den Lazaretten und Krankenhäusern lagen, wurden an den Bäumen der zentralen Alleen erhängt. Damit hatte diese Abteilung der Freiwilligenarmee unter Slaščev allerdings auch ihren letzten Hauch getan. Wie die Armee Denikins im Ganzen, so zerfiel auch diese Einheit, und ihre Reste zogen sich alsbald nach Rostow am Don zurück. Die Bolschewiki konnten die Stadt kurz vor Weihnachten praktisch kampflos einnehmen.
Damit begann dann wiederum der rote Terror in Jekaterinoslaw. Auch die Plünderungen hörten keineswegs auf. Obwohl die Bolschewiki eher daran interessiert waren, dauerhafte Herrschaftsstrukturen aufzubauen, unterschieden sich ihre Maßnahmen und deren Resultate während des Bürgerkriegs nicht wesentlich vom Treiben der Truppen Machnos oder der weißen Einheiten. […]

Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalträume und Gruppenmilitanz in der Ukraine, 1905-1933 (Reihe "Studien zur Gewaltgeschichte des 20 Jahrhunderts"), Hamburger Edition – Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Hamburg 2012, S. 197 ff.



Anders als in der Forschung lange Zeit dargestellt, kam es nicht nur unter den "Weißen", sondern genauso unter den "Roten" zu Pogromen. Wie zur Zarenzeit, als Wirren, Krisen und Hungersnöte "den Juden" angelastet wurden, massakrierten Soldaten und Pöbel zwischen 1917 und 1922 an die 200.000 Juden. Pogrome wurden keinesfalls von den Befehlshabern angeordnet, allenfalls toleriert, teils aber auch streng geahndet. Dennoch suchte sich der Mob in den Juden einen Sündenbock, die mal als das "rote Übel", mal als "bourgeoise Ausbeuter" geplündert und ermordet wurden.

Kriegskommunismus


Während die Judenfeindlichkeit aus der Zarenzeit stammte, schufen die Bolschewiki ein neues Feindbild: den Bauern. Aber auch hier rührte die Vorstellung Lenins, dass der Bauer dumpf und rückständig sei und zur Revolution nicht tauge, aus der Zarenzeit. Lenin und die Bolschewiki sprachen von der "Diktatur des Proletariats" – vom "Arbeiter- und Bauernstaat" war nicht die Rede. 1920 schrieb Lenin: "Die Klasse der Kleinproduzenten und Kleinbauern ist eine reaktionäre Klasse." Zu der ideologischen Einstellung kam die Versorgungsnotlage: Mit dem Frieden von Brest-Litowsk war Russland seiner "Kornkammer" in der Ukraine beraubt, und die Truppen Koltschaks schnitten bald den Nachschub aus dem Osten ab.

In der Folge begannen die Bolschewiki, ihre Gesellschaftsutopie mit Gewalt durchzusetzen: Unternehmer wurden enteignet, der Handel verstaatlicht und das Geld durch Naturalien ersetzt. Während die Industrieproduktion zusammenbrach, weil das leitende technische Personal durch Arbeiter ausgetauscht wurde und der private Handel zum Erliegen kam, verfügte die Sowjetregierung am 13. Mai 1918, dass die Bauern alle Ernteüberschüsse zu staatlichen Festpreisen abzuliefern hätten (siehe S. 22). Die Abgabequoten wurden schnell so hoch gesetzt, dass den Bauern weder genug zur eigenen Ernährung noch als Saatgut blieb. Gleichzeitig planten die Bolschewiki, den Klassenkampf in das Dorf zu tragen. ZK-Sekretär Jakow Swerdlow (1885-1919) verkündete am 20. Mai 1918: "Nur wenn es uns gelingt, das Dorf in zwei unversöhnliche feindliche Lager zu spalten, wenn wir in der Lage sind, dort denselben Bürgerkrieg zu entfachen, zu dem es vor nicht allzu langer Zeit in den Städten gekommen ist, […] erst dann werden wir sagen können, dass wir mit dem Dorf dasselbe machen werden, was uns mit der Stadt geglückt ist." Zur Spaltung des Dorfes wurden "Komitees der Dorfarmut" (russ.: kombedy) eingeführt, die die armen gegen die reichen Bauern aufhetzen sollten. Gleichzeitig rekrutierte die Sowjetregierung aus Arbeiteraktivisten "Abteilungen zur Lebensmittelbeschaffung", bewaffnete Banden, die seit dem Frühjahr 1918 das Land heimsuchten, stahlen, was sie greifen konnten, und sich am konfiszierten Wodka betranken.

Das Dekret zur Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht am 29. Mai, erweitert am 29. Juli 1918, erließen die Bolschewiki weniger wegen der Intervention von außen als wegen der Bauern im Inneren des Landes. Allein der Aufstand der Tschechoslowakischen Legion, die sich im Mai geweigert hatte, der von Trotzki angeordneten Entwaffnung Folge zu leisten, verhinderte, dass die gesamte Rote Armee für den Kampf gegen die Bauern eingesetzt wurde. Die Bauern wehrten sich gegen die Getreidekonfiszierung und die Wehrpflicht mit 140 Aufständen allein im Sommer 1918: Sie marschierten in die ihnen nächstgelegene Stadt, belagerten den örtlichen Sowjet oder legten in ihrer Verzweiflung Feuer, bis sie zusammengeschossen wurden. Am 8. August forderte Lenin, dass "in jedem Getreide produzierenden Distrikt unter den reichsten Einwohnern 25 Geiseln bestimmt werden, die bei Nichteinhaltung des Requisitionsplans mit ihrem Leben büßen sollen". Diese Maßnahmen und das Festsetzen von, "Kulaken, Priestern, den Weißen Garden und anderen zweifelhaften Elementen in einem Konzentrationslager" rechtfertigte die Sowjetregierung als "Roten Terror", der offiziell am 3. September als Antwort der Arbeiterklasse auf die Konterrevolution verkündet wurde.

QuellentextÜber die Errichtung der Versorgungsdiktatur

Dekret des Allrußländischen Zentralen Exekutivkomitees der Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern- und Kosakendeputierten

Der unheilvolle Zerfallsprozeß in der Versorgung des Landes, eine schwere Folge des vierjährigen Krieges, setzt sich immer weiter fort, weitet sich aus, spitzt sich zu. Zu einer Zeit, da die getreideverbrauchenden Gouvernements hungern, gibt es in den getreideproduzierenden Gouvernements gegenwärtig wie eh und je große Vorräte, sogar an noch nicht gedroschenem Getreide der Ernten 1916 und 1917. Dieses Getreide befindet sich in den Händen der Dorfkulaken und Reichen, in den Händen der Dorfbourgeoisie. Satt und wohlgenährt, mit riesigen Geldmengen, die sie in den Kriegsjahren verdient haben, bleibt die Dorfbourgeoisie vollkommen taub und gleichgültig gegenüber dem Stöhnen der hungernden Arbeiter und der armen Bauern, führt kein Getreide an die Sammelstellen ab, um den Staat zu immer höheren Getreidepreisen zu zwingen, und verkauft zur gleichen Zeit vor Ort Getreide zu Wucherpreisen an Getreidespekulanten und -schieber, die Sackträger.
Der Starrköpfigkeit der habsüchtigen Dorfkulaken und -reichen muß ein Ende gemacht werden. […]
Das Allrußische Zentrale Exekutivkomitee besprach die entstandene Lage und verordnete, angesichts der Tatsache, daß Rußland nur bei strengster Buchführung und gleichmäßiger Verteilung aller Getreidevorräte einen Ausweg aus der Versorgungskrise findet:

1. Die Unerschütterlichkeit des Getreidemonopols und der Festpreise wird bekräftigt, ebenso die Notwendigkeit eines bedingungslosen Kampfes gegen Spekulantenschieber; gleichzeitig wird jeder Getreidebesitzer verpflichtet, alle Überschüsse – über das hinaus, was für die Aussaat und den persönlichen Konsum entsprechend den festgesetzten Normen bis zur neuen Ernte unverzichtbar ist – innerhalb von Wochenfrist nach Veröffentlichung dieser Verordnung in jedem Amtsbezirk zur Ablieferung zu melden. […]

2. Alle Werktätigen und nicht vermögenden Bauern sind aufgerufen, sich rasch zum bedingungslosen Kampf gegen die Kulaken zusammenzuschließen.

3. Alle, die Getreideüberschüsse haben und sie nicht zu den Sammelstellen bringen, sowie diejenigen, die Getreidevorräte für Schwarzbrennereien verschwenden, sind zu Volksfeinden zu erklären, dem revolutionären Gericht zu übergeben und mindestens 10 Jahre ins Gefängnis zu sperren; ihr ganzes Vermögen ist zu konfiszieren, sie sind für immer aus der Dorfgemeinde auszuschließen: […]. […]

Das vorliegende Dekret tritt am Tage der Unterschrift in Kraft und wird zur Durchführung per Telegraph verbreitet.

Vorsitzender des Allrußländischen Zentralen Exekutivkomitees Ja. Sverdlov

Vorsitzender des Rates der Volkskommissare V. Ul’janov (Lenin) Sekretär des Allrußländischen Zentralen Exekutivkomitees Avanesov

13. Mai 1918

Rev. Übersetzung hier nach: Helmut Altrichter / Heiko Haumann (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 2: Wirtschaft und Gesellschaft, dtv Dokumente, München 1987, S. 56 ff.
Externer Link: http://www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0012_kom&l=de © BSB München

QuellentextErinnerungen an die Zeit des "Kriegskommunismus"

von Victor Serge, ehemaliger bolschewistischer Funktionär (Auszug)

Das Regime dieser Zeit hat man […] den "Kriegskommunismus" genannt. Damals nannte man es "Kommunismus" schlechthin. Und wer, wie ich, sich erlaubte, ihn als provisorisch zu betrachten, zog sich tadelnde Blicke zu. Trotzki hatte soeben geschrieben, dieses Regime werde mehrere Jahrzehnte dauern, um den Übergang zum wahren Sozialismus ohne Zwang sicherzustellen. Bucharin schrieb seinen Traktat über "Die Wirtschaft der Übergangsperiode", dessen marxistischer Schematismus Lenin empörte. Er betrachtete die gegenwärtige Organisation als endgültig. Dennoch wurde es einfach unmöglich, unter ihr zu leben. Unmöglich natürlich nicht für die Regierenden, sondern für das Gros der Bevölkerung. […]
Die von den verstaatlichten Kooperativen verteilten Rationen waren winzig: Schwarzbrot (manchmal durch Hafer ersetzt), einige Heringe im Monat, ein winziges bißchen Zucker für die erste Kategorie (Handarbeiter und Soldaten), fast nichts für die dritte (Nicht-Arbeiter). Das Wort des heiligen Paulus, das überall angeschlagen war: "Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen!" wurde zur Ironie, denn um sich zu ernähren, mußte man sich ja gerade auf dem Schwarzmarkt umtun statt zu arbeiten. Die Arbeiter brachten in den toten Fabriken ihre Zeit damit hin, daß sie Maschinenteile in Taschenmesser und Transmissionsriemen in Schuhsohlen umarbeiteten, um sie dann auf dem Schwarzmarkt zu tauschen.
Im Ganzen war die Industrieproduktion auf weniger als 30 Prozent der Produktion von 1913 gefallen. Um ein wenig Mehl, Butter oder Fleisch zu bekommen, mußte man Bauern, die dergleichen unerlaubterweise in die Stadt brachten, Textilien oder irgendwelche Gegenstände geben. Glücklicherweise enthielten die Wohnungen der vormaligen Bourgeoisie in den Städten nicht wenig Teppiche, Wandbehänge, Wäsche und Geschirr. Aus dem Leder von Sofas stellte man ganz brauchbare Schuhe her, aus den Wandbehängen Kleider. […]
Der Winter war für die Bewohner der Stadt eine wahre Qual. Keine Heizung, kein Licht und dazu der nagende Hunger! Schwache Kinder und Greise starben zu Tausenden. Der Typhus, von den Läusen verbreitet, räumte gründlich auf. Das alles habe ich vielfach gesehen und miterlebt. In den großen verlassenen Wohnungen von Petrograd drängten sich die Leute in einem einzigen Zimmer zusammen und lebten dicht gedrängt um einen kleinen Kanonenofen aus Ziegelsteinen, den sie auf dem Parkett aufgestellt hatten und dessen Kaminrohr eine Fensterecke mit Ruß schwärzte. Man speiste ihn mit dem Parkett der Nachbarzimmer, mit den letzten Möbeln, mit Büchern. Ganze Bibliotheken sind auf diese Weise verschwunden. Ich selbst ließ, um eine mir nahestehende Familie zu wärmen, mit echter Genugtuung die Sammlung der "Reichsgesetze" verbrennen. Man nährte sich von ein bißchen Hafer und halbverfaultem Pferdefleisch, man teilte im Kreis der Familie ein Stück Zucker in winzige Partikeln auf, und jeder Bissen, den einer außer der Reihe ergatterte, beschwor wahre Tragödien herauf. Die Kommune tat viel für die Ernährung der Kinder; aber dieses Viel blieb lächerlich gering. […]

Victor Serge, Erinnerungen eines Revolutionärs 1901-1941, aus dem Französischen von Cajetan Freund, Edition Nautilus, Hamburg 1991, S. 134 f.

Krieg gegen die Bauern


Der Bürgerkrieg war vor allem auch ein Krieg gegen die "Grünen", gegen die Bauern, die sich vor der Zwangsrekrutierung in die Wälder flüchteten und dort organisierten. Sonderkommandos spürten insgesamt fast 1,2 Millionen Fahnenflüchtige auf; Tausende wurden erschossen, ihre Familien als Geiseln genommen. Neben vielen kleinen spontanen Bauernerhebungen kam es immer wieder zu großen, organisierten Revolten mit regelrechten Armeen von bis zu 10.000 Mann. Als Anfang 1920 die Weiße Armee geschlagen war, standen sich immer noch die bolschewistischen Streitkräfte und die Bauern gegenüber. Im Februar/März 1920 brach eine große Revolte im Gebiet zwischen Wolga und Ural aus, auch "Aufstand der Gabeln" genannt, da die Bauern teils nur mit Forken bewaffnet waren. Obwohl 50.000 Mann mit der Artillerie zusammengeschossen wurden, sprang der Funke an die Mittlere Wolga über, wo es erneut zu Bauernaufständen kam.

Bis 1922 währte der Widerstand der Bauern in Tambow unter dem Bauernführer Alexander Antonow (1898-1922), einem Sozialrevolutionär. Wegen horrender Getreideablieferquoten hatten im August 1920 mehr als 14.000 fahnenflüchtige, mit Heugabeln und Sensen bewaffnete Männer in Tambow die "Vertreter der Sowjetmacht" verjagt oder massakriert. Anfang 1921 griffen die Revolten auf das untere Wolgagebiet, Westsibirien, Dagestan und Turkestan über. Um den Widerstand zu brechen, erschoss die Rote Armee nicht nur Geiseln und deportierte Familien, sondern leitete sogar Giftgas in die Wälder, in die sich die Rebellen zurückgezogen hatten.

Es war schließlich eine verheerende Hungersnot, die den Widerstand der Bauern brach. Angesichts einer schlechten Ernte 1920 und der Konfiszierung sämtlichen Getreides hatten viele Bauern Anfang 1921 nichts mehr zu essen. Obwohl ausländische Hilfe zugelassen wurde, geht man davon aus, dass 1921/22 fünf Millionen Menschen verhungerten. Es kam zu Kannibalismus; die Verhungernden aßen aus Verzweiflung die Toten auf. Angesichts des erbarmungslosen Vorgehens gegen die Bauern wird in der Forschung auch von einem "Dreißigjährigen Krieg" der Bolschewiki gegen die Bauern gesprochen, der erst 1953 mit Stalins Tod endete.

Der Kronstädter Aufstand


Die Sowjetregierung ging aber nicht nur mit aller Härte gegen die Bauern, sondern im Zweifelsfall auch gegen ihre eigene Klientel, die Arbeiter und Soldaten, vor. Als im Januar 1921 in den Städten die Brotration um ein Drittel gekürzt wurde, kam es in mehreren Städten zu täglichen Protesten und Streiks. In Petrograd wählten Fabrikarbeiter eine "Versammlung von Arbeiter-Beauftragten", die die Abschaffung der bolschewistischen Diktatur, freie Sowjetwahlen, Rede-, Vereins- und Pressefreiheit sowie die Freilassung sämtlicher politischer Gefangener forderten. Am 28. Februar schlossen sich die Marinesoldaten in Kronstadt den streikenden Arbeitern an. Am 2. März verbrüderte sich die Hälfte der circa 2000 Kronstädter Bolschewiki mit den Aufständischen und gründete ein provisorisches Revolutionskomitee. Das Politbüro unter Lenin entschied, kurzen Prozess zu machen: In Petrograd verhaftete die Tscheka binnen 48 Stunden mehr als 2000 Arbeiter; in Kronstadt rückte die Rote Armee unter General Tuchatschewski ein; am 18. März war der Kronstädter Aufstand niedergeschlagen. Den Tausenden von Opfern folgten über 2000 Todesurteile und circa 6500 Verurteilungen zu Lagerhaft.

Die Neue Ökonomische Politik (NÖP) (1921-1927)


In Folge der städtischen Hungerproteste und der Verwüstung des Landes durch den Bürgerkrieg entschloss sich die Sowjetregierung am 23. März 1921, den "Kriegskommunismus" zu beenden. Die Neue Ökonomische Politik (NÖP), die im Ausland als "Ende der Jakobiner-Herrschaft" gefeiert wurde, war eine Zeit, in welcher der gewaltsame politische Umbruch weitestgehend gestoppt, dafür aber der gesellschaftliche Umbau und die Industrialisierung mit ambitionierten Plänen und unionsweiten Maßnahmen ins Werk gesetzt wurden. Die wenigen Jahre ließen viele Menschen Hoffnung schöpfen, der Bolschewismus sei ein Bildungs- und Modernisierungsprogramm, der Terror sei vorbei. Cafés und Theater öffneten wieder, und ein geschäftiges öffentliches Leben kehrte zumindest in die Städte zurück. Doch die NÖP war, so Trotzki, "nur ein vorübergehender Umweg, ein taktischer Rückzug, eine Bereitung des Bodens für einen neuen und entscheidenden Angriff der Arbeiter gegen die Front des internationalen Kapitalismus". Trotzdem gab es Proteste von radikalen Bolschewiki gegen den "Verrat an der Revolution".

Die NÖP bedeutete die Wiederzulassung von Privatwirtschaft, Privathandel und ausländischen Investoren; während der Handel bald zu 80 Prozent wieder in privater Hand war, blieben ausländische Investoren Russland meist fern; die wenigen vergebenen Lizenzen dienten meist der Rohstoffausbeutung wie dem Holzeinschlag. In den Fabriken und Industriebetrieben wurden unter der Aufsicht von "roten Direktoren", also verdienten Revolutions- oder Bürgerkriegsveteranen, die alten Chefingenieure und das frühere technische Personal wieder eingestellt; 4000 weniger bedeutende Betriebe wurden an ihre ehemaligen Besitzer verpachtet. Lenin erklärte: "Je schneller wir, die Arbeiter und Bauern, uns selbst eine bessere Arbeitsdisziplin und eine höhere Arbeitstechnik aneignen, indem wir für diese Kunst die bürgerlichen Spezialisten ausnutzen, desto eher werden wir uns von jedem Tribut an diese Spezialisten befreien."

Die Produktion lief wieder an, Handwerker und Ladeninhaber gingen aufs Neue ihren Geschäften nach, und jeder trieb Handel: Arbeiter, Intellektuelle, demobilisierte Soldaten, frühere Kaufleute, Invaliden, Bauern und Hausfrauen. Aber erst 1925 war wieder das Konsumniveau von 1914 hergestellt, gab es also neben Kartoffeln und dunklem Brot auch ausreichend Fleisch, Zucker und Obst zu kaufen. Die Jahre der NÖP waren wie im Deutschland der Weimarer Zeit eine schnelllebige und unsichere Zeit. Wer Geld hatte, gab es sofort aus. Für die Gewinner der Handelsfreigabe, die in Restaurants schlemmten und teure Pelze zur Schau stellten, ersannen die Bolschewiki das Schimpfwort "nep-men" (NÖP-Mann) und geißelten so die Ausschweifungen des Kapitalismus.

Sozialprogramme


Die NÖP brachte eine Reihe von Sozialprogrammen, mit denen die Sowjetregierung die Vorstellung eines aufgeklärten, modernen Landes in die Tat umsetzen wollte. Der Volkskommissar für Volksaufklärung Anatoli Lunatscharski (1875-1933) startete eine unionsweite Kampagne gegen den Analphabetismus (russ.: likbez, 1919-1940er). Gleichzeitig wurden Arbeiterfakultäten (russ.: rabfak) gegründet. Sie sollten die Arbeiter, die oft nur eine vierjährige Dorfschule besucht hatten, in zwei Jahren auf ein Hochschulstudium vorbereiten. Die erste und einzige Volkskommissarin Alexandra Kollontaj (1872-1952) initiierte nicht nur ein Mutterschutzprogramm, sondern auch Frauenabteilungen (russ.: schenotdely), die zwischen 1919 und 1930 im ganzen Land die Frauen über ihre neuen Rechte aufklärten und versuchten, sie für den sozialistischen Aufbau zu gewinnen.

Die Kunst der Avantgarde


Gleichzeitig waren die 1920er-Jahre eine kulturelle Hochphase, die an die Blüte des "Silbernen Zeitalters" der ersten zwei Dekaden des Jahrhunderts anschloss und als sowjetische Avantgarde das Theater und die Dichtung, den Film und die Fotografie, die bildende Kunst und die Architektur in der ganzen Welt beeinflusste. Die Gewalt des revolutionären Umsturzes wurde von den Künstlern in eine eigene, neue Ästhetik überführt, die jenseits von politischen Aussagen der Faszination für den radikalen Um- und Aufbruch eine eigene Sprache verlieh. In dieser Zeit drehte Sergei Eisenstein (1898-1948) seine berühmten Filme wie "Panzerkreuzer Potjomkin" (1925 zum Jubiläum der Revolution von 1905), schrieb Wladimir Majakowski (1893-1930) seine revolutionären Gedichte, entwickelte Alexander Rodtschenko (1891-1956) seine Fotografie und Wsewolod Meyerhold (1874-1940) sein neues Theater, malte Alexander Dejnika (1899-1969) seine aufwühlenden Werke wie "Die Verteidigung Petrograds" (1928), entstand eine ganz neue Plakatkunst.

QuellentextNeuer Mensch und Kunst

[…] Für die Bolschewiki war, was Proletariat genannt wurde, ein höherer Bewußtseinszustand, eine Attitüde dem Leben gegenüber, die der barbarische russische Mensch nicht aus sich hervorbringen konnte. Zum Proletarier wurde, wer die Last der Vergangenheit von sich warf, aus sich heraustrat und wahres Wissen über sich und die Welt erlangte, aus der er kam. Der Proletarier war einer, der sich im Stadium des Selbstbewußtseins befand, um es mit den Worten Hegels zu sagen. Nur so wird verständlich, daß die Bolschewiki von der Züchtung des neuen Menschen überhaupt sprechen konnten, eines Menschen, der aus dem Laboratorium der Revolution hervorging.
Nun stand dieses Denken in einer aufgeklärten Tradition, die sich nicht auf den Marxismus beschränkte. Es war der romantische Antikapitalismus der Avantgarde und des Expressionismus, der sich hier ebenso zeigte wie der revolutionäre Furor der Bolschewiki. Arbeiter und Unterschichten waren Projektionen des idealen Intellektuellen, Rebellen, die die verlorene Einheit der Menschheit wiederherstellten, indem sie der falschen Welt, die der Kapitalismus repräsentierte, die Maske herunterrissen. Bereits vor der Revolution phantasierten Avantgardekünstler und Wissenschaftler von der Synchronisierung Rußlands mit dem europäischen Westen durch Architektur, Wissenschaft und Theater. […]
[N]ach der Revolution des Jahres 1917 kamen die Konzepte der Avantgardekünstler und der Bolschewiki zusammen: in der Revolutionierung der Ausdrucksformen und der praktischen Instrumentalisierung des Theaters. Die Bolschewiki entdeckten die revolutionäre Kraft, die vom Theater in einer Gesellschaft von Analphabeten ausgehen konnte. Das Theater berührte die menschliche Seele, es konnte Menschen, wenn es sie ergriff, in religiöse Verzückung versetzen. Aufklärung und Beseelung – das war es, was die Bolschewiki und die Avantgardekünstler miteinander verband.
In den Massenaufführungen des Jahres 1920, als (der russische Regisseur und Dramaturg Nikolai – Anm. d. Red.) Evreinov den "Sturm auf den Winterpalast" in Petrograd unter freiem Himmel aufführen ließ und dabei die Stadt in eine Bühne verwandelte mit Tausenden von Schauspielern und 100.000 Zuschauern, kamen die ästhetischen Vorstellungen der Avantgarde, der Wunsch der Intellektuellen, sich mit dem Volk zu verschmelzen und die Aufklärungs- und Beseelungsphantasien der Bolschewiki zusammen. Die frühen sowjetischen Experimente in Theater und Film setzten sich zum Ziel, Emotionen zu "konstruieren", Bewegungen und Effekte zu kontrollieren, um auf diese Weise nicht nur die Schauspieler abzurichten, sondern auch die Zuschauer in einer Weise zu manipulieren, daß sie für das Projekt des neuen Menschen ansprechbar wurden.

Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. (c) 2005 Deutsche Verlags-Anstalt in der Verlagsgruppe Random House, München, S. 95 f. Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Elektrifizierung des ganzen Landes


Mit der NÖP setzte die Sowjetregierung einen Plan ins Werk, der nicht nur aus dem rückständigen Russland eine moderne Industrienation machen sollte, sondern auch propagandistischen Wert hatte, weil er Kommunismus mit Fortschritt gleichsetzte. "Sowjetmacht plus Elektrifizierung gleich Kommunismus" gab Lenin als Losung aus. Seit 1918 arbeitete eine Gruppe von "Spezialisten", also Ingenieuren und Wissenschaftlern, am Elektrifizierungsplan für ganz Russland, das durch ein System von Wasser- und Heizkraftwerken in nur zehn Jahren komplett elektrifiziert werden sollte. Ende 1920 wurde der "Staatsplan zur Elektrifizierung Russlands" (russ.: GoElRo) vom VIII. Rätekongress beschlossen. Kurz darauf stimmten 1921 rund 1500 zarische Ingenieure auf dem VIII. Elektrotechnischen Kongress diesem Plan zu und schlossen damit de facto einen Pakt mit den Bolschewiki zum Aufbau des Landes. Lenin und die Bolschewiki warben erfolgreich um die "technische Intelligenz", indem sie zwischen 1918 und 1920, als das Land im Chaos des Bürgerkriegs versank, 117 neue wissenschaftliche Einrichtungen gründeten. Nicht nur in der Wissenschaft und Technik, auch in den Volkskommissariaten fanden vorrevolutionäre Experten Anstellung und konnten dort ihr Wissen in den Aufbau des neuen Staates einfließen lassen.

Vor diesem Hintergrund, dem Beginn der NÖP und dem Scheitern der Weißen, begannen sogar Intellektuelle in der Emigration, sich den Bolschewiki zuzuwenden. 1921 verfassten sie in Anlehnung an die "Vechi" von 1909 das Manifest "Smena vech" (russ.; Wechsel der Meilensteine), in dem sie, wie damals die Intelligenz, zur Zusammenarbeit mit den neuen Machthabern aufriefen. Zum einen konnten sie sich mit der Vision von einem modernen, elektrifizierten Russland identifizieren, zum anderen glaubten sie, dass mit dem Bürgerkrieg die Schrecken des Terrors ein für alle Mal vorbei seien.

Der Kult um den Arbeiter und die Arbeiterin


Alexandra Oberländer

Die Oktoberrevolution fand im Namen der Arbeiterklasse statt. Diese galt als die Trägerin des Fortschritts, als die Produzentin des Reichtums. Die Bolschewiki verstanden sich als die "Avantgarde" der Arbeiterschaft, die die Arbeiterklasse in die lichte Zukunft führen würde. Urbanisierung und Industrialisierung waren im Denken der Bolschewiki weniger mit Armut und beengtem Wohnen assoziiert als vielmehr mit Aufklärung und radikalen Utopien. Als Anhänger der Moderne begrüßten sie den Fortschritt, wie ihn beispielsweise die Fließbandarbeit mit sich brachte. Die US-Amerikaner Frederick Taylor (1856-1915) und Henry Ford (1863-1947) galten ihnen nicht per se als kapitalistische Ausbeuter, sondern auch als moderne Vertreter rationalisierter Arbeitsabläufe. Die Heroisierung der Arbeit und ihrer Produktivität ging einher mit dem Kult der Maschine und der Fabrik. Eine erste Konferenz über Taylorismus 1921 endete in der Gründung der "Wissenschaftlichen Organisation der Arbeit" (russ.: NOT), die die effektive Nutzung von Arbeit und Zeit erforschte.

QuellentextMensch und Maschine

[...] Die Visionen der Bolschewiki vom "neuen Menschen" sind Teil eines internationalen Diskurses, der schon um die Jahrhundertwende eingesetzt hatte, in den Kontext der Suche nach Antworten auf das Maschinenzeitalter gehört und die modernen totalitären Systeme insgesamt kennzeichnete. [...]
Aleksandr Bogdanov hatte bereits 1907 in seinem utopischen Roman "Der Rote Stern" den "neuen Menschen" anschaulich beschrieben: Kinder würden nicht von den Eltern, sondern im Kollektiv erzogen; die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern hätten sich angeglichen: Frauen hätten breite Schultern und seien muskulöser, weil ihre körperliche Entwicklung nicht durch die häusliche Sklaverei beeinträchtigt werde; Arbeiter seien in einen total automatisierten Ablauf eingebunden, empfänden sich als Teil ihrer Maschinen und wollten mit dem Arbeiten gar nicht aufhören. Überhaupt lief Bogdanovs Beschreibung des "neuen Menschen" darauf hinaus, dass dieser einer rational funktionierenden Maschine immer ähnlicher werde.
In Bogdanovs Utopie findet sich bereits das Paradigma von der Mechanisierung und damit auch körperlichen Neugestaltung des Menschen, das in den 1920er-Jahren auf geradezu absurde Weise perfektioniert wurde. Der Dichter und Wissenschaftler Aleksej Gastev gründete 1920 das Zentralinstitut für Arbeit und führte dort Bewegungsstudien und Experimente zur rationalen Organisation industrieller Arbeitsplätze durch. Inspiriert war Gastevs Ansatz von der in den USA entwickelten "wissenschaftlichen Arbeitsorganisation" (scientific management), einer logischen Weiterentwicklung der Fließbandarbeit, die in der Sowjetunion begeistert rezipiert wurde. Es ging darum, die Arbeit großindustriell zu organisieren und alle Arbeits- und Bewegungsabläufe so zu optimieren, dass die menschliche Arbeitskraft bestmöglich ausgenutzt werden könne. Bei Gastev mündeten diese Vorstellungen in ein bizarres Konzept vom Maschinen-Menschen, der als "Nerven-Muskel-Automat" optimal auf die zu bedienende Maschine abgestimmt war.
In eine andere Richtung wiesen die utopischen Konzepte, die Trockij entwarf: Er ging davon aus, dass die politisch-ökonomische Weiterentwicklung auch eine biologische Evolution zur Folge haben werde. Als neuer Menschentyp werde sich der sozialistische Übermensch herausbilden: "Der Mensch wird unvergleichlich viel stärker, klüger und feiner; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen werden rhythmischer und seine Stimme wird musikalischer werden. [...] Der durchschnittliche Menschentyp wird sich bis zum Niveau des Aristoteles, Goethe und Marx erheben. Und über dieser Bergkette werden neue Gipfel aufragen." Trockijs Reflexionen über den "neuen Menschen" standen auch unter dem Einfluss des amerikanischen Fordismus. Trockij benutzte 1926 das Bild des Fließbandes als Metapher für die Transformation des Menschen im Sozialismus: Das Fließband bestimmt den Rhythmus des Lebens, die Bewegungen der Hände, die Gedanken. Der Sozialismus müsse den Fordismus sozialisieren und von seinen schädlichen Elementen säubern, so Trockijs Schlussfolgerung.
Trockijs Spielart des "neuen Menschen" als einer biologischen Weiterentwicklung der menschlichen Spezies verband sich eine Zeitlang auch mit ernstzunehmenden naturwissenschaftlichen und medizinischen Forschungen. So kam es, dass der Mediziner Ivan Pavlov trotz seiner bürgerlichen Herkunft und zur Schau gestellten Autonomie offiziell gefördert wurde, denn seine Forschungen über Reflexe und die Konditionierung des Verhaltens schienen einen wissenschaftlichen Weg zur Formung des "neuen Menschen" zu weisen. [...]

Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck München 2013, S. 175 ff.



Lenin erklärte, ohne Maschinen und ohne Disziplin könne eine moderne Gesellschaft nicht existieren. Entsprechend gestaltete sich das Verhältnis der neuen Macht zu denen, die ihnen die Macht doch angeblich erst verschafften: den Arbeitern und Arbeiterinnen. 1918 formulierte Lenin, dass es die vorrangige Aufgabe der sowjetischen Regierung sei, den Arbeitenden das Arbeiten beizubringen. Im Oktober 1918 verkündeten die Bolschewiki die Pflicht zur Arbeit. Wer arbeitsfähig war, also gesund und zwischen 16 bis 50 Jahren alt, musste arbeiten gehen. Das Diktum "Wer nicht arbeitet, der soll nicht essen" nahmen die Bolschewiki so ernst, dass sie mitten in der Lebensmittelkrise der Bürgerkriegsjahre Lebensmittelkarten nur an diejenigen austeilten, die einer Arbeit nachgingen.

Die bolschewistische Wertschätzung der Arbeit verwandelte sich in eine Anforderung an die Arbeitenden, die in erster Linie funktionieren sollten. Das Stücklohnsystem galt als motivierend und Output steigernd. Konkurrenz wurde nicht abgeschafft, sondern ihr produktives Potenzial wurde für den Aufbau des Sozialismus genutzt. Innerhalb der Arbeiterschaft wurde die Konkurrenz organisiert, indem die Sowjetregierung 1928 den Titel "Held der Arbeit" einführte und seit 1929 Stoßarbeiterbrigaden organisierte. Diejenigen, die sich im sozialistischen Wettbewerb als Beste hervortaten, wurden als solche geehrt und erhielten materielle Vergütungen wie bessere Wohnungen oder Reisegutscheine.

Die NÖP und die Bauern


In der neueren Forschung gibt es die These, dass die NÖP nie auf dem Land angekommen sei, also keine wirkliche Erleichterung für die Bauern brachte. Tatsächlich stand nicht die Sorge um das Wohl der verhungernden Bauern im Vordergrund der Politik der Bolschewiki, sondern die Überlegung, dass die Bauern freiwillig mehr Getreide abliefern würden als die Rote Armee ihnen mit Gewalt abnehmen konnte. Mit der Einführung der NÖP im März 1921 legte die Sowjetregierung eine relativ moderate Naturalsteuer für die Bauern fest und hoffte, sie würden ihr verbleibendes Getreide gegen Industriewaren an den Staat tauschen. Aber erst nach Überwindung der Hungersnot 1922/1923 begannen die Bauern langsam, brachliegendes Ackerland wieder zu bestellen. Die Überschüsse trugen sie jedoch auf die freien Märkte, zumal der Staat gar nicht genügend Gebrauchsgüter im Tausch anbieten konnte und die Bauern selbst herstellten, was sie zum Leben brauchten. Diese sogenannte Scherenkrise, das Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage an Industriewaren, erreichte im Oktober 1923 ihren Höhepunkt. Während es in den Städten durchaus Arbeiter gab, die sich für die Bolschewiki und ihre Programme begeisterten, blieben die Bauern in ihrer Mehrheit gegenüber der bolschewistischen Propaganda immun. Konnten Arbeiter tatsächlich in den Genuss von Posten in Partei und Gewerkschaft oder von Studienplätzen kommen, hatten die Bolschewiki den Bauern nichts zu bieten. Im Gegenteil forderten sie, das gerade erhaltene Land zugunsten von Kollektivwirtschaften aufzugeben und die Erträge abzuliefern.

Die "richtige" Politik gegenüber den Bauern blieb ein heiß umstrittenes Politikum unter den Bolschewiki. Als der Parteitheoretiker und Ökonom Nikolai Bucharin (1888-1938) 1925 die Parole "Dem Dorfe zugewandt" ausgab und die Bauern aufforderte: "Bereichert euch, akkumuliert, entwickelt eure Wirtschaft", verhöhnten die orthodoxen Leninisten seine Losung als "Wende zum Kulaken". Die Vorschläge der NÖP-Befürworter Bucharin, Alexei Rykow (1881-1938) und Michail Tomski (1880-1936), auf dem Land die Räte wiederzubeleben, parteilose Bauern in Ämter wählen zu lassen, Waldstücke an Bauern zu übergeben, die Steuern zu senken, Traktoren bereitzustellen, Krippen, Schulen und andere Einrichtungen auf dem Land zu bauen, wurden von Stalin zusammen mit der NÖP 1927 endgültig begraben.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche im atheistischen Staat


Ulrike Huhn

Die orthodoxe Kirche hatte im Zarenreich als eine der Stützen der Autokratie gegolten und dafür einerseits viele Privilegien genossen, andererseits aber auch permanente Eingriffe in ihre innere Autonomie hinnehmen müssen. Den Sturz des Zaren erlebten vor allem die liberalen Kräfte in der Kirche daher als Befreiung. Das Landeskonzil im April 1917 nutzten sie, um aufgestaute Reformfragen zu klären und den Heiligen Synod, die staatliche Aufsichtsbehörde, durch einen Patriarchen zu ersetzen. In dieses Amt wurde am 18. November (alt.: 5. November) 1917 Tichon (Bellawin, 1865-1925) gewählt.

Die Bolschewiki sahen dennoch in der Kirche sowohl einen machtpolitischen Gegner, der die alte Ordnung wiederherstellen wollte, als auch einen ideologischen Feind, der die Arbeiter und Bauern mit seinen Vertröstungen auf das Himmelreich angeblich von ihren eigentlichen Interessen ablenkte. Das am 5. Februar (alt.: 23. Januar) 1918 erlassene Dekret "Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche" galt als Signal, Geistliche als mutmaßliche oder tatsächliche Stützen des alten Regimes zu verfolgen; die Beschlagnahmung von Kirchengut ging oft mit Gewalt und Todesopfern einher. Einen neuen Höhepunkt erreichten diese Übergriffe während der Hungersnot in der Wolga-Region 1921/22, die die bolschewistische Führung dazu nutzte, kirchliche Wertgegenstände und kostbares liturgisches Gerät als Hilfe für die Hungernden zu beschlagnahmen. Ein 1925 gegründeter "Verband der Gottlosen" (seit 1929 der "kämpferischen Gottlosen") sollte außerdem mit inszenierten antireligiösen Festen die Abkehr von der Religion beschleunigen.

Parallel förderte die Staats- und Parteiführung die sogenannte Erneuererbewegung, die ihre Wurzeln in der innerkirchlichen Reformbewegung hatte und liberal, teils auch sozialistisch eingestellt war. Diese sollte als innerkirchliche Opposition die Handlungsfähigkeit des Moskauer Patriarchats schwächen und führte zu einer Spaltung der Kirchenleitung. Doch wurden die "Erneuerer" vom Kirchenvolk abgelehnt und von den Bolschewiki bald wieder fallen gelassen.

In Kirchenkreisen heftig umstritten war auch ein als "Loyalitätserklärung" bezeichnetes Rundschreiben des nach dem Tod von Patriarch Tichon ranghöchsten Metropoliten Sergi (Stragorodski, 1867-1944) vom Juli 1927. Erstens war Sergis rechtliche Position als Stellvertreter des 1925 verstorbenen Patriarchen unklar; zweitens werteten viele Geistliche und Gläubige sein Bekenntnis zur Sowjetunion als devote Unterwerfungsgeste. Viele Bischöfe und ihre Anhänger verweigerten Sergi darauf die kanonische Anerkennung. Die Staatsmacht reagierte mit immer neuen Wellen von Verhaftungen und Prozessen, die im Laufe der 1930er-Jahre schließlich nicht nur Priester, sondern auch aktive kirchliche Laien erfassten. Zwanzig Jahre nach dem Aufbruch der Russisch-Orthodoxen Kirche in eine neue Zeit konnten orthodoxe Christen ihre Religiosität an vielen Orten in der Sowjetunion nur noch unter größter Gefährdung im Untergrund und ohne kirchliche Vermittlung leben.

Die Gründung der Sowjetunion


Maike Lehmann

Die Bolschewiki erbten ein Vielvölkerreich. Und obwohl Lenin das Zarenreich als "Völkergefängnis" bezeichnete und den Sozialismus als Ideologie der Völkerbefreiung propagierte, wollten die Bolschewiki dieses Imperium erhalten. Doch zunächst erklärten im Zuge von Revolution und Bürgerkrieg nationalistische, menschewistische und muslimisch-pantürkistische Gruppen viele Gebiete im Kaukasus, im Baltikum und in Zentralasien als unabhängig von Russland. Die ersten Erfahrungen dieser jungen Republiken mit parlamentarischen Regierungsformen waren konfliktreich und meist von bürgerkriegsähnlichen Zuständen geprägt. Dem setzte schließlich die gewaltsame Sowjetisierung dieser Republiken ab 1919/20 ein Ende; nur die baltischen Republiken, Polen und Finnland blieben unabhängig. Auf dem I. Sowjetkongress im Dezember 1922 wurde schließlich die Sowjetunion als Föderation von formal unabhängigen, nationalen Sowjetrepubliken gegründet. Die deklarierten Ziele dieser Union waren der koordinierte Wiederaufbau der Republiken und der gemeinsame Kampf gegen die "kapitalistische Umzingelung". Vorangegangen war ein Streit darüber, ob die Republiken der RSFSR mit einem Autonomiestatus beitreten sollten – wie es etwa Stalin als Kommissar für Nationalitätenfragen favorisierte – oder den Status als Republiken behalten sollten. Letzteres konnten die Republikführungen mit Beistand Lenins schließlich durchsetzen. Da sie aber zugleich dem zentralistisch geführten Parteiapparat in Moskau unterstanden, war in der Praxis die Eigenständigkeit der Republiken vor allem unter Stalin weitgehend eingeschränkt.

QuellentextGründungsvertrag der UdSSR

Die Rußländische [Rossijskaja] Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR), die Ukrainische [Ukrainskaja] Sozialistische Sowjetrepublik (USSR), die Weißrussische [Belorusskaja] Sozialistische Sowjetrepublik (BSSR) und die Transkaukasische [Zakavkazskaja] Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (ZSFSR: die Sozialistische Sowjetrepublik Aserbaidschan [Azerbajdžan], die Sozialistische Sowjetrepublik Georgien [Gruzija] und die Sozialistische Sowjetrepublik Armenien [Armenija]), schließen sich in einem Bundesstaat – der "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" – zusammen.

1. Kapitel
Über die Obliegenheiten der obersten Machtorgane der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken.

1. Den obersten Organen der UdSSR obliegt:
a) die Vertretung des Bundes in internationalen Beziehungen, die Führung aller diplomatischen Beziehungen, der Abschluß politischer und anderer Verträge mit anderen Staaten;
b) die Änderung der Unionsgrenzen und auch die Regelung der Fragen über Grenzveränderungen zwischen den einzelnen Unionsrepubliken;
c) Abschluß von Verträgen über die Aufnahme neuer Republiken in die Union;
d) Kriegserklärungen und Friedensschlüsse; […]
f) Ratifizierung internationaler Verträge;
g) die Führung des Außenhandels und die Bestimmung des Systems des Innenhandels;
h) Bestimmung der Grundlagen und des allgemeinen Planes der gesamten Volkswirtschaft der Union, […];
i) die Führung des Transport-, Post- und Telegraphenwesens;
k) die Organisierung und die Führung der bewaffneten Kräfte der Union; […]
m) die Festsetzung des einheitlichen Geld- und Kreditsystems;
n) die Bestimmung der allgemeinen Prinzipien der Bodenbestellung und der Bodenbenutzung, ferner der Benutzung der Bodenschätze, Wälder und Gewässer auf dem ganzen Gebiete der Union; […]
p) die Bestimmung der Grundlagen des Gerichtswesens und der Prozeßordnung, ferner der bürgerlichen und Strafgesetzgebung der Union;
q) die Bestimmung der wichtigsten Arbeitsgesetze;
r) die Bestimmung der allgemeinen Grundlagen der Volksbildung;
s) die Bestimmung der allgemeinen Maßnahmen auf dem Gebiete des Schutzes der Volksgesundheit; […]

2. Kapitel
Über die Souveränen Rechte der Unionsrepubliken und über die Unionsstaatsbürgerschaft.

3. Die Souveränität der Unionsrepubliken ist nur innerhalb der durch diese Verfassung bestimmten Grenzen beschränkt und nur bezüglich jener Kompetenzen, für die die Union zuständig ist. Innerhalb dieser Grenzen gebraucht jede Republik ihre Staatsmacht selbständig; die UdSSR schützt die Souveränitätsrechte der einzelnen Republiken.

4. Jeder Unionsrepublik bleibt das Recht des freien Austrittes aus dem Bunde vorbehalten.

5. Die Unionsrepubliken ändern ihre Verfassungen aufgrund dieser Verfassung.

6. Das Gebiet der Unionsrepubliken kann nicht ohne ihre Zustimmung geändert werden, ebenso ist zur Änderung, Einschränkung oder Aufhebung des Punktes 4 die Zustimmung aller Mitgliederrepubliken der UdSSR notwendig.

7. Für die Bürger der Unionsrepubliken wird eine einheitliche Unionsstaatsbürgerschaft festgesetzt. […]

31. Januar 1924

Rev. Übersetzung hier nach: Helmut Altrichter (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, dtv Dokumente, München 1985, S. 163 ff.
Externer Link: www.1000dokumente.de/pdf/dok_0019_ver_de.pdf © BSB München


Die Sowjetunion bestand zunächst aus vier Unionsrepubliken mit eigenen Verfassungen, die ihnen zumindest auf dem Papier das Recht auf Sezession zusprachen, eigenen Volkskommissariaten und nationalen Parteiorganisationen: der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), der Ukrainischen, der Weißrussischen und der Föderativen Transkaukasischen Republik; letztere wurde 1936 in die Georgische, die Armenische und die Aserbaidschanische Unionsrepublik aufgeteilt. 1924 kamen die zentralasiatischen Republiken hinzu, nach dem Hitler-Stalin-Pakt bzw. nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich auch die baltischen Republiken und Moldawien. Den Unionsrepubliken unterstanden außerdem die sogenannten Autonomen Sowjetrepubliken, Autonomen Gebiete und Autonomen Kreise, in denen den namengebenden nationalen Minderheiten besondere Rechte eingeräumt wurden. Deren Auslegung hing in der Praxis allerdings stark von der Politik der Republikshauptstädte ab – zumal die Parteiführungen in den Republiken auch die Sicht Moskaus auf diese autonomen Gebiete oft stark bestimmte. (siehe a. S. 4 und Karte I)

Die Utopie vom Vielvölkerstaat


Maike Lehmann

Diese föderale Struktur der Sowjetunion repräsentierte für die Bolschewiki den Unterschied zwischen ihrem sozialistischen Vielvölkerstaat und dem Russischen Imperium, von dessen Russifizierungspolitik sie sich mit allen Mitteln zu distanzieren suchten. Auf diese Weise wollten sie Völker jenseits der sowjetischen Grenzen vom Sozialismus überzeugen und die Stabilität ihres multiethnischen Staates sichern. Gleichzeitig wollten sie die verschiedenen Völker aus der "Rückständigkeit" in die "Moderne" katapultieren. Dies war keine rein ökonomische Frage. Vielmehr sahen die Bolschewiki die Entwicklungsstufe der nationalen Gemeinschaft als Voraussetzung dafür, den Sozialismus aufbauen und zum Kommunismus gelangen zu können. In der Zukunft würden, so die Theorie, dann alle Nationen schließlich miteinander "verschmelzen".

Bevölkerung der UdSSR und ihre Republiken (© Hans-Heinrich Nolte, Kleine Geschichte Russlands, Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart 2003, S. 518)

Dazu musste ein Teil der Bevölkerung auf dem Territorium der Sowjetunion erst zu Nationen gemacht werden, etwa Nomadenvölker, die weder über eine Schriftsprache verfügten, noch ein fest abgegrenztes Territorium bewohnten oder auch nur eine Vorstellung von der "Nation" hatten. Deshalb suchten die Bolschewiki die Entwicklung sowjetischer Nationen und Nationalitäten zu fördern. Mithilfe von Wissenschaftlern zogen sie territoriale Grenzen und ordneten Menschen insgesamt 127 verschiedenen nationalen Gruppen zu – beides hatte oft wenig mit dem lokalen Verständnis dieser Dinge zu tun und bildete angesichts der ethnisch oft sehr heterogenen Besiedlung eine Grundlage für wiederkehrende Konflikte. Im Zeichen der "leninistischen Nationalitätenpolitik" wurden Schriftsprachen kreiert, nationale Sprachen als Unterrichtssprache in der Schule eingeführt, nationale Literatur gefördert, Theater und Zeitungen gegründet. Zugleich wurde bis in die 1930er-Jahre eine umfassende Alphabetisierungskampagne durchgeführt. Vertreter nicht-russischer Gruppen wurden vor allem in den 1920er-Jahren im Zeichen einer gezielten Indigenisierungspolitik (russ.: korenisatsija, dt.: Einwurzelung = die Förderung heimischer Eliten in Staat und Partei, aber auch in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur) bei der Besetzung von Posten bevorzugt, um so den lokalen Gruppen vor Ort den Sozialismus als ihr eigenes Projekt schmackhaft zu machen.

Mit ihrer Modernisierungspolitik gewannen die Bolschewiki aber nicht nur Unterstützer. Gerade die Zwangsansiedlung von Nomaden oder die Angriffe auf Religion und traditionelle Lebensweisen, wie etwa die auf die etablierte Geschlechtertrennung abzielende Entschleierungskampagne in Zentralasien, führten zu heftigem Widerstand. Nicht nur Nomaden flohen über die Grenze nach China oder machten als Guerilla den Behörden zu schaffen; auch andere Gruppen, etwa meist gut ausgebildete Juden oder Deutsche, zeigten Emigrationsbestrebungen. Dies ließ sie der Parteiführung wiederum als "feindliche, rückständige Elemente" oder als Agenten des kapitalistischen Auslands erscheinen. Entsprechend wurden seit den 1930er-Jahren zunehmend alle Anzeichen von Unabhängigkeitsbestrebungen, Kontakte ins Ausland oder Interpretationen nationaler Geschichte, die den Sozialismus oder die Partei in Frage zu stellen schienen, als "bürgerlich-chauvinistischer Nationalismus" verfolgt. Auch nur vermutete Illoyalität gegenüber dem sowjetischen Projekt führte zu Massendeportationen etwa von Polen, Deutschen, Griechen, Chinesen und Rumänen.

Aufgrund dieser Deportationen betrachteten Forscher die Sowjetunion wiederum lange als "Völkergefängnis". Doch trotz des Misstrauens gegenüber bestimmten Gruppen und seinen oft verheerenden Folgen für die Betroffenen hielt die Sowjetführung durchgängig an der Förderung nationaler Kultur fest. Das angestrebte Verhältnis von Sozialismus und nationaler Identität definierte Stalin 1934 mit dem Ausspruch, dass Kultur "national in der Form, sozialistisch im Inhalt" zu sein habe. 1935 prägte er mit dem Begriff der "Völkerfreundschaft" eine zentrale Parole für das Zusammenleben in der Sowjetunion. Damit anerkannte er diese "Völker" als feststehende Gemeinschaften, deren gemeinsame Sprache allerdings das Russische sein sollte. (siehe Karte II)

Der Generalsekretär Stalin


Lenins Vermächtnis


Am 21. Januar 1924 starb Lenin. Krankheitsbedingt und durch insgesamt vier Schlaganfälle körperlich stark beeinträchtigt, war er bereits seit 1922 nicht mehr öffentlich aufgetreten und hatte sich aus dem politischen Geschäft zurückgezogen. Da er kein Mitglied des Politbüros für geeignet hielt, baute er keinen Nachfolger auf, versuchte aber, die Partei in einem Brief, seinem sogenannten Testament, vor Stalin zu warnen. Nachdem der 13. Parteitag 1924 Stalins Rücktritt abgelehnt hatte, ließ Stalin das Dokument verschließen, das erst Nikita Chruschtschow (1894-1971) in seiner Geheimrede 1956 zitieren sollte.

QuellentextLenins "politisches Testament" – Briefe an den Parteitag

[…] Gen. Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, daß er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen. Anderseits zeichnet sich Gen. Trotzki, wie schon sein Kampf gegen das ZK in der Frage des Volkskommissariats für Verkehrswesen bewiesen hat, nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewußtsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat.
Diese zwei Eigenschaften zweier hervorragender Führer des gegenwärtigen ZK können unbeabsichtigt zu einer Spaltung führen, und wenn unsere Partei nicht Maßnahmen ergreift, um das zu verhindern, so kann die Spaltung überraschend kommen. [.…]

25. Dezember 1922
Lenin

W. I. Lenin: Werke. Ins Deutsche übertragen nach der 4. russischen Ausgabe,besorgt vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 36, 1900-1923, Berlin (Ost) 1962, S. 579 f.

QuellentextErgänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922

Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, daß er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist. Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit. Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit, oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung erlangen kann.

4. Januar 1923
Lenin

W. I. Lenin: Werke. Ins Deutsche übertragen nach der 4. russischen Ausgabe,besorgt vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Bd. 36, 1900-1923, Berlin (Ost) 1962, S. 579 f.

Verflechtung von Partei und Staat in der Sowjetunion

Stalin war 1922 Generalsekretär der Partei geworden und bekleidete damit ein Amt, das für rein organisatorische Zwecke eingerichtet worden war. Er aber baute es zum wichtigsten Posten in Partei – und Staat − aus. Der Generalsekretär entwickelte sich in den 1920er-Jahren zum Vorsitzenden des Politbüros, das das Zentralkomitee steuerte, welches die Parteitage ausrichtete. Formal sahen die Statuten es andersherum vor: Die Parteitage sollten das Zentralkomitee wählen, aus dessen Reihen das Politbüro bestimmt wurde, das dann den Generalsekretär einsetzte. Nach Lenins Tod 1924 herrschte zunächst eine Troika aus Stalin, Sinowjew und Kamenew, die unter sich die wichtigsten Ämter in der Partei aufteilten; Trotzki, der Organisator der Revolution, Sieger des Bürgerkriegs und Volkskommissar für das Kriegswesen, war isoliert und wurde als arrogant und selbstverliebt gemieden.

Obwohl sich Lenin selbst ein einfaches Erdbegräbnis gewünscht hatte, beschloss das Politbüro, ihn für die Ewigkeit einbalsamieren zu lassen. Noch 1924 wurde Petrograd in Leningrad umbenannt; das berühmte Mausoleum auf dem Roten Platz des Architekten Alexei Schtschusew (1873-1949) wurde 1930 fertig gestellt. Damit wurde Lenin bildlich zum Fundament von Staat und Partei erklärt: Alle seine Nachfolger, von Stalin bis Gorbatschow, leiteten ihre Legitimation daraus ab, dass sie Lenins Lehren pflegten und umsetzten. Die Bolschewiki verwerteten Lenins Tod zudem propagandistisch als Opfertod und gaben die Parole aus: "Lenin lebt in Dir! In jedem Kommunisten lebt die Flamme Lenins; ohne die Leiden, die Du für uns auf Dich genommen hast, würdest Du noch leben."

Die Ausschaltung der "Opposition"


In den Jahren 1924 bis 1927 gelang es Stalin mit geschicktem Taktieren, seine Rivalen zu entmachten. Er nutzte ideologische und programmatische Streitpunkte, um seine Meinung als die wahre Parteilinie darzustellen und die seiner Gegner als Abweichung zu brandmarken. Dabei half ihm das Parteistatut, das seit 1921 Fraktionen verbot und damit jede andere Meinung kriminalisierte. Stalin setzte eine Praxis durch, auf die er in den 1930er-Jahren seine Macht stützte: Wer nicht für ihn und die Parteilinie war, war gegen ihn und wurde als Feind behandelt. Hauptstreitpunkte in den 1920er-Jahren waren das Schicksal der Weltrevolution, die Bauern und die NÖP. Mit der pragmatischen Haltung, der "Sozialismus in einem Lande" sei möglich, manövrierte Stalin Trotzki ins Abseits, der an der Vorstellung einer Weltrevolution festhielt. 1925 verlor Trotzki sein Amt als Volkskommissar für Verteidigung, 1927 ließ ihn Stalin aus der Partei ausschließen, 1929 aus der Sowjetunion ausweisen und 1940 in Mexiko ermorden. Sinowjew und Kamenew, die Stalin bei der Entmachtung Trotzkis geholfen hatten, griff Stalin seit 1925 als "linke Opposition" an, die die neue, moderate Position gegenüber den Bauern, "dem Dorfe zugewandt", nicht mittrügen. 1926 konnte er beide aus dem Politbüro, 1927 auch aus der Partei ausschließen. Kaum war dies erreicht, änderte Stalin seine Politik gegenüber den Bauern, erklärte die NÖP für beendet und griff nun jene als "rechte Opposition" an, die vorher mit ihm die "Linken" angegriffen und für eine Fortsetzung der NÖP plädiert hatten: 1929/30 verloren auch Bucharin, Tomski und Rykow alle Parteiämter. Alle fünf ließ Stalin im Rahmen von Schauprozessen 1936 bis 1938 anklagen und erschießen. Am 21. Dezember 1929 feierte Stalin seinen 50. Geburtstag (seit 1922 führte er ein anderes Geburtsdatum) und seinen Sieg über seine "Opponenten".

QuellentextResolution des X. Parteitags der Russischen Kommunistischen Partei über die Einheit der Partei vom 8.-16. März 1921

[…]

2. […] Es ist notwendig, daß alle klassenbewußten Arbeiter sich des Schadens und der Unzulässigkeit jeder wie immer gearteten Fraktionsbildung klar bewußt werden, die, selbst wenn Vertreter der einzelnen Gruppen den besten Willen haben, die Parteieinheit zu wahren, in der Praxis unweigerlich dazu führt, daß die einmütige Arbeit geschwächt wird und daß die Feinde, die sich an die Regierungspartei heranmachen, erneut verstärkte Versuche unternehmen, die Zerklüftung zu vertiefen und sie für die Zwecke der Konterrevolution auszunutzen. […]

3. Die Propaganda in dieser Frage muß bestehen: einerseits in einer eingehenden Aufklärung über den Schaden und die Gefährlichkeit der Fraktionsbildung vom Gesichtspunkt der Einheit der Partei und der Verwirklichung der Willenseinheit der Avantgarde des Proletariats als der Grundbedingung für den Erfolg der Diktatur des Proletariats, anderseits in der Erläuterung der Eigenart der neuesten taktischen Methoden der Feinde der Sowjetmacht. Diese Feinde, die sich davon überzeugt haben, daß die Konterrevolution unter offen weißgardistischer Flagge hoffnungslos ist, verwenden jetzt alle Anstrengungen darauf, unter Ausnutzung der Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Kommunistischen Partei Rußlands die Konterrevolution auf diese oder jene Weise zu fördern […]. […]

4. Im praktischen Kampf gegen die Fraktionsbildung ist es notwendig, daß jede Parteiorganisation aufs strengste darüber wache, daß keinerlei fraktionelle Handlungen zugelassen werden. Die unbedingt notwendige Kritik an den Mängeln der Partei muß so gehandhabt werden, daß jeder praktische Vorschlag in möglichst präziser Form unverzüglich, ohne jegliche Verschleppung, an die örtlichen leitenden Organe und an das leitende Zentralorgan der Partei zur Erörterung und Entscheidung weitergeleitet wird. Jeder, der Kritik übt, hat außerdem der Form der Kritik nach Rücksicht zu nehmen auf die Lage der Partei, die von Feinden umgeben ist, und muß in bezug auf den Inhalt der Kritik durch seine eigene unmittelbare Teilnahme an der Sowjet- und Parteiarbeit die Korrigierung der Fehler der Partei oder einzelner ihrer Mitglieder in der Praxis erproben. Irgendeine Analyse der allgemeinen Linie der Partei oder die Auswertung ihrer praktischen Erfahrung, die Kontrolle der Durchführung ihrer Beschlüsse, das Studium der Methoden zur Berichtigung von Fehlern usw. […] ist ausschließlich und unmittelbar zur Behandlung durch alle Parteimitglieder vorzulegen. […]

5. Indem der Parteitag die Abweichung in der Richtung zum Syndikalismus und Anarchismus, die in einer besonderen Resolution analysiert wird, prinzipiell ablehnt und das Zentralkomitee beauftragt, jegliche Fraktionsbildung völlig auszumerzen, erklärt er gleichzeitig, daß […] alle sachlichen Vorschläge mit der größten Aufmerksamkeit geprüft und in der praktischen Arbeit erprobt werden müssen. Die Partei muß wissen, daß wir in diesen Fragen nicht alle notwendigen Maßnahmen durchführen, weil wir auf eine ganze Reihe verschiedenartiger Hindernisse stoßen, und daß die Partei, bei rücksichtsloser Zurückweisung unsachlicher und fraktioneller Scheinkritik, nach wie vor unermüdlich, unter Erprobung neuer Methoden, mit allen Mitteln gegen den Bürokratismus, für die Erweiterung des Demokratismus und der Initiative, für die Aufdeckung, Entlarvung und Vertreibung der Leute, die sich an die Partei angebiedert haben, usw. kämpft.

6. Der Parteitag erklärt daher ausnahmslos alle Gruppen, die sich auf der einen oder anderen Plattform gebildet haben, für aufgelöst bzw. ordnet ihre sofortige Auflösung an. Die Nichterfüllung dieses Parteitagsbeschlusses zieht den unbedingten und sofortigen Ausschluß aus der Partei nach sich.

William Henry Chamberlin, Die Russische Revolution 1917-1921, Zweiter Band, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 1958, S. 476 ff.

Stalin und der "kaukasische Clan"


Anstelle von Lenins Mitstreitern zogen nun Stalins Gefolgsleute, die wie er aus dem Kaukasus stammten, dort im Bürgerkrieg gekämpft oder die dortigen Sowjetrepubliken mitgegründet hatten, in das Politbüro ein: Sergei Kirow (1886-1934), Anastas Mikojan (1895-1978), Grigori Ordschonikidse (1886-1937) und Lasar Kaganowitsch (1893-1991). In der jüngsten Zeit wird in der Forschung lebhaft debattiert, welchen Einfluss die kaukasische Herkunft auf Stalin und seine Herrschaft hatte. Dabei geht es keineswegs um ethnische Stereotypen, sondern um eine spezifische Kultur, die von der Clan-Struktur und den Blutfehden der Bergvölker geprägt war. Aufgewachsen in einer stark patriarchalischen Gesellschaft, die familiäre Bindungen über staatliche Strukturen stellte und Konflikte mit Gewalt löste – musste Stalin da nicht zu einem gewalttätigen Despoten werden? Einerseits, so argumentieren Anhänger dieser These, verabscheute er das dreckige, ärmliche, rückständige Dorfleben, dem er entkommen wollte, andererseits "lernte" er als Mittel nur Gewalt und Totschlag kennen, um Fortschritt und Moderne durchzusetzen. Älter, aber aktuell wieder diskutiert, ist die These, dass Stalin ein Psychopath war bzw. durch seinen alkoholabhängigen, gewalttätigen Vater, einen Schuster in der Stadt Gori, zu einem solchen wurde. Je nachdem, ob man nach kulturellen Praktiken sucht, die sich Stalin aneignete, oder nach Charaktereigenschaften, die ihm angeboren waren, wird seine Lebensstation im Priesterseminar 1894 bis 1899 als Zeit gedeutet, in der er lernte, wie man durch peinliche Verhöre den Gegner demütigte und besiegte, oder als Phase, in der der Drill der Mönche in ihm weitere Gewaltbereitschaft weckte. Im Unterschied zu Lenins meisten Weggefährten war Stalins Leben vor 1917 nicht das eines Intellektuellen im Exil gewesen, sondern geprägt durch die rauen Sitten im Untergrund, romantische Vorstellungen vom Brigantentum und Banküberfälle. Siebenmal wurde Stalin, der 1899 der Partei beigetreten war, verhaftet, sechsmal gelang ihm die Flucht. Im Bürgerkrieg bewies Stalin, der eng mit den Kommandeuren Kliment Woroschilow (1881-1969) und Budjonny befreundet war, große Härte, als er 1918 in Zaryzin alle "Weißen" erschießen ließ. Vor Lenin empfahl er sich mit den Worten: "Sei versichert, dass meine Hand nicht zittern wird." Vertreter der Kulturgeschichte meinen, dass Stalin im Bürgerkrieg einen Lernprozess abschloss; Anhänger einer anthropologisch-psychologischen Erklärung sprechen davon, dass in dieser Phase seine Gewalttätigkeit vollends ausreifte. Für diese Zeit wird ihm das folgende Zitat zugeschrieben: "Der Tod löst alle Probleme. Kein Mensch, kein Problem."

Seit der Oktoberrevolution war Stalin Volkskommissar für Nationalitätenfragen (1917-1923) und damit zuständig für jene Ethnien, deren "Rückständigkeit" ihm so verhasst war.
Schließlich bestimmte die kaukasische Herkunft neben Politik und Herrschaftsstil auch Stalins Lebensweise. Die Familien der Politbüromitglieder lebten in den 1920er-Jahren zusammen im Kreml Tür an Tür, die Kinder spielten gemeinsam im Hof. Die Trennung zwischen "dienstlich" und "privat" verschwand: Abends bei Tisch diskutierte Stalin mit seinen Mitstreitern politische Fragen weiter.

Anfänge der sowjetischen Diplomatie


Die Bolschewiki waren Revolutionäre – und keine Außenpolitiker. Sie hatten sich nicht darauf eingestellt, einen Staat nach außen vertreten zu müssen, weil die Idee der Weltrevolution besagte, dass alle kapitalistischen Regierungen fallen und man nur noch von Proletariat zu Proletariat sprechen würde. Als Trotzki 1917 Volkskommissar für Außenangelegenheiten wurde, sagte er: "Was für diplomatische Arbeit werden wir denn haben? Ich werde einige revolutionäre Proklamationen an die Völker erlassen und dann die Bude schließen." Vor diesem Hintergrund gibt es die These, dass die Bolschewiki eine "Neo-Diplomatie" einführten, die bewusst mit den alten Formen des höflichen Verhandelns brach: Revolutionäre statt Diplomaten, brüllen statt parlieren, als Ziel nicht der Kompromiss, sondern die Niederlage des Gegners. Westliche Diplomaten waren der Meinung, die Parteiführer um Lenin und Stalin hätten den berühmten Ausspruch des preußischen Generals und Heeresreformers Carl Philipp Gottfried von Clausewitz, "Der Krieg ist eine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln", umgekehrt: Diplomatische Verhandlungen waren für sie die Verlängerung des Krieges in Friedenszeiten. Entsprechend verhielt sich Trotzki bei den Friedensverhandlungen in Brest-Litowsk Anfang 1918: Er nutzte die Gespräche als politische Bühne zur Agitation und brach die Verhandlungen schließlich mit dem Ausspruch "Nicht Krieg, nicht Frieden" am 10. Februar (alt.: 28. Januar) ab. Doch der Propagandasieg endete mit dem Vormarsch der Mittelmächte in einer geostrategischen und ökonomischen Katastrophe. Das bewog Lenin, der ohnehin Trotzkis Linie nicht getragen hatte, dazu, Georgi Tschitscherin (1872-1936) zum Außenminister zu machen, der als Abkömmling des Hochadels seine perfekten Umgangsformen auf dem diplomatischen Parkett mit dem Inhalt seiner revolutionären Ansichten kombinierte. Die sowjetische Außenpolitik war mit diesem Kompromiss "aristokratisch in der Form, revolutionär im Inhalt" in den 1920er-Jahren sehr erfolgreich. Tschitscherins Bildung und Liebe zur klassischen Musik waren mit dafür verantwortlich, dass der sowjetischen Delegation 1922 in Rapallo ein Separatabkommen mit Deutschland gelang, das die UdSSR aus der diplomatischen Isolierung herausholte und wichtige Wirtschaftsverträge sicherte. Die Außenpolitik orientierte sich also pragmatisch an traditionellen Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen anstatt das Außenkommissariat als Außenposten und Propagandainstrument der Revolution zu benutzen. Dafür gab es schließlich die Dritte Kommunistische Internationale (Komintern), die sich 1919 in Moskau neu gegründet hatte, aber 1924 auch Stalins These von der "Revolution in einem Lande" übernahm und in die gleichen Auseinandersetzungen und Intrigen um "rechte" und "linke" Abweichung involviert war.

Prof. Dr. Susanne Schattenberg ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Zu ihren Forschungsgebieten gehören der Stalinismus, die Kulturgeschichte der Außenpolitik und die Sowjetunion nach 1953. Aktuell arbeitet sie an einer Breschnew-Biografie.
Kontakt: E-Mail Link: schattenberg@uni-bremen.de

Dr. Maike Lehmann ist Juniorprofessorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Köln. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Nationalitätenpolitik, Fragen der sowjetischen Identität (Bsp. Armenien) und die transnationalen Netzwerke von Dissidenten und westlichen Intellektuellen in der späten Sowjetunion.
Kontakt: E-Mail Link: m.lehmann@uni-koeln.de

Dr. Alexandra Oberländer ist assoziierte Wissenschaftlerin an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Ihr aktuelles Forschungsprojekt lautet "Wer nicht arbeitet, soll nicht essen: Eine Kulturgeschichte der Arbeit in der späten Sowjetunion".
Kontakt: E-Mail Link: oberlaendera@uni-bremen.de