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Stalinismus | Sowjetunion I: 1917-1953 | bpb.de

Sowjetunion I: 1917-1953 Editorial Phänomen Sowjetunion Der Sieg der Bolschewiki Stalinismus Karten Zeittafel Glossar Literaturhinweise und Internetadressen Impressum

Stalinismus

Susanne Schattenberg Manuela Putz

/ 46 Minuten zu lesen

Gewalt und Terror, aber auch Visionen von Moderne und Fortschritt prägten die Herrschaftszeit Josef Stalins. Unter dem Slogan vom "Großen Umbruch" setzte Stalin die Kollektivierung der Landwirtschaft, die forcierte Industrialisierung und erste Schauprozesse gegen vermeintliche Saboteure durch. Mit der massenhaften Ausbildung von Ingenieuren sollte zudem die ideale Biografie des "Neuen Menschen" vollendet werden.

„Der Kapitän der Länder der Sowjets steuert uns von Sieg zu Sieg“ – Ab 1928 nimmt Stalin mehrere große Vorhaben in Angriff. Propagandaplakat von 1933 (© ullstein bild - rps)

"Was war der Stalinismus?" Das ist eine in der Forschung immer noch heiß debattierte Frage. Weitestgehend Einigkeit besteht darüber, dass der Stalinismus maßgeblich von der Gewalt und dem Terror geprägt wurde, die mit Stalins Tod endeten. Gestritten wird über den Zweck der Gewalt: Diente sie der Erschaffung der perfekten industrialisierten und modernen Gesellschaft, in der alle, die nicht dem Ideal des "Neuen Menschen" entsprachen, liquidiert werden mussten? Oder diente sie der Feindvernichtung, dessen Allgegenwärtigkeit im In- wie Ausland permanent beschworen wurde? Oder hatte der Terror gar keinen Zweck, wie neuerdings durchaus seriöse Wissenschaftler meinen, sondern erschöpfte sich in einer einzigen Gewaltorgie?

Zweifellos bedienten sich Stalin und seine Mitstreiter der Utopien und Visionen, die seit der Aufklärung Menschen begeisterten und auch in den 1930er-Jahren trotz Terror und Gewalt Arbeiter wie Intellektuelle aus der ganzen Welt in ihren Bann schlugen: Bekämpfung allen Aberglaubens und aller Rückständigkeit, Bildung und Kultur für alle, Moderne und Fortschritt in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft. Während die westliche kapitalistische Welt seit dem Zusammenbruch der Börsen 1929 in Arbeitslosigkeit, Rezession und Chaos versank, schien die Sowjetunion auf dem richtigen Weg zu sein.

Der Stalinismus begann 1928 mit mehreren sich gegenseitig bedingenden Aktionen, die in der Sowjetunion als der "Große Umbruch", im Westen als Stalins "Revolution von oben" oder "Kulturrevolution" bezeichnet wurden: Kollektivierung der Landwirtschaft, forcierte Industrialisierung, erste Schauprozesse gegen die alte technische Intelligenz und Austausch alter, zarischer Wissenschaftler und Experten in den Volkskommissariaten, Behörden und Kulturbetrieben durch junge Kader mit Parteibuch.

Der Große Umbruch

Kollektivierung und Entkulakisierung

Die NÖP endete mit einem rigorosen Wechsel in der Politik gegenüber den Bauern. Da diese sich nicht davon hatten überzeugen lassen, freiwillig Kollektivwirtschaften zu bilden, sollte dies nun unter Zwang geschehen. Zum einen kam hier die Utopie der Bolschewiki von der industriellen Landwirtschaft zum Tragen: Bäuerin und Bauer als ausgebildete Landarbeiter, die mit Hilfe von Traktoren sowie anderen Maschinen Rekordernten erzielten und das rückständige Land in die Moderne katapultierten. Zum anderen wirkte das Feindbild des lethargischen, dumpfen Bauern fort, der aus reiner Sturheit und Verschlagenheit seine Ernte nicht abliefern und die Sowjetregierung boykottieren wollte. Schließlich sollte die Kollektivierung direkt der Industrialisierung dienen: Das Getreide, das die Kollektivwirtschaften abzuliefern hatten, sollte exportiert und mit den Erlösen die Industrialisierung finanziert werden.

Als es 1927 und 1928 zu Missernten kam, erkannte Stalin darin nicht die Folgen einer immer noch restriktiven Politik gegenüber den Bauern, sondern nahm dies als Beweis, dass die Bolschewiki zu nachgiebig gegenüber den Bauern gewesen seien. Hatte der stellvertretende Volkskommissar für Landwirtschaft Alexei Swiderski (1878-1933) 1924 erklärt: "Es gibt keine Kulaken im Dorf, die kann man nur in den Beschlüssen des XIII. Parteitags finden", glaubte Stalin bei einer Reise nach Sibirien Anfang 1928 überall nur reiche Kulaken zu erkennen. Er ordnete an, alle "Spekulanten", "Kulaken" und "Desorganisatoren des Marktes" zu verhaften. Pro Dorf sollten vier bis zehn Kulaken wegen Spekulation verurteilt werden. So kam es bis April 1928 zu 6000 Verhaftungen.

Ein Regierungsdekret vom Juni 1929 legalisierte die Praxis, Bauern nach Artikel 61 ("Nichtbegleichen von Steuerschulden") zu verurteilen und ihnen als Strafe das Fünffache der Steuerlast abzuverlangen. Im Dezember 1929 erklärte Stalin die "Liquidierung der Kulaken" zum Programm: "Heute verfügen wir über eine ausreichende materielle Basis, um den Schlag gegen das Kulakentum zu führen, seinen Widerstand zu brechen, es als Klasse zu liquidieren und seine Produktion durch die Produktion der Kollektiv- und Sowjetwirtschaften zu ersetzen." Zwar gab es Vorgaben, wie viel Besitz ein Bauer haben musste, um als "Kulak" zu gelten (z. B. 1600 Rubel Produktionsmittel, was zehn Pferden oder 13 Kühen entsprach), aber letztlich konnte jeder als "Kulak" bezeichnet werden, der sich den Bolschewiki widersetzte.

Die Kulaken wurden in drei Kategorien unterteilt: 60.000 "Konterrevolutionäre", die sofort in Konzentrationslager verbracht und bei Widerstand exekutiert werden sollten; 150.000 "Kulaken-Aktivisten", die mit ihren Familien in unwirtliche, entlegene Gegenden zu deportieren waren; die dritte Gruppe sollte nur teilweise enteignet und in ihren Heimatdörfern als Arbeiter eingesetzt werden. Das Politbüro veranschlagte, circa drei bis fünf Prozent aller Bauernwirtschaften oder eine Million Höfe mit circa fünf bis sechs Millionen Menschen zu enteignen.

Nachdem der ursprüngliche Plan vorgesehen hatte, bis 1934 nur 15 Prozent der Bauernhöfe in Kollektivwirtschaften zu überführen, beschloss das Novemberplenum des ZK 1929, zu einer totalen Kollektivierung überzugehen und mindestens 80 Prozent aller Bauernhaushalte zu kollektivieren. Die Hauptanbaugebiete für Getreide sollten bis Herbst 1930 kollektiviert sein, alle anderen Regionen bis Frühjahr 1932 folgen. Allerdings gab es keine Anweisungen, wie die Kollektivierung vollzogen werden sollte. Auch blieb unklar, was der Unterschied zwischen einer Kollektivwirtschaft (Kolchose) und einem Staatsbetrieb (Sowchose) sein sollte.

QuellentextKontroverse um Landwirtschaft und Industrie

Stalin über die "innere Lage der Sowjetunion". Aus dem Tätigkeitsbericht des ZK für den XIV. Parteitag, 18.-31.12.1925
[…] Es gibt zwei Generallinien: Die eine geht davon aus, daß unser Land noch lange ein Agrarland bleiben müsse, daß es landwirtschaftliche Erzeugnisse ausführen und Maschinen einführen, daß es dabei bleiben und sich auch in Zukunft in der gleichen Bahn weiterentwickeln müsse. Diese Linie fordert im Grunde genommen den Abbau unserer Industrie. […] Diese Linie würde dazu führen [...], daß sich unser Land aus einer wirtschaftlich selbständigen Einheit, die sich auf den inneren Markt stützt, objektiv in ein Anhängsel des kapitalistischen Gesamtsystems verwandeln müßte. Diese Linie bedeutet eine Abkehr von den Aufgaben unseres Aufbaus. Das ist nicht unsere Linie.
Es gibt eine andere Generallinie, die davon ausgeht, daß wir alle Kräfte aufbieten müssen, um unser Land zu einem wirtschaftlich selbständigen, unabhängigen, auf dem inneren Markt basierenden Land zu machen, zu einem Land, das als ein Anziehungsfeld für alle anderen Länder dient, die nach und nach vom Kapitalismus abfallen und in die Bahnen der sozialistischen Wirtschaft einlenken werden. Diese Linie erfordert maximale Entfaltung unserer Industrie [...]. Sie lehnt die Politik der Verwandlung unseres Landes in ein Anhängsel des kapitalistischen Weltsystems entschieden ab. Das ist unsere Aufbaulinie, die die Partei einhält und die sie auch künftig einhalten wird. Diese Linie ist unerläßlich, solange es eine kapitalistische Umkreisung gibt. [...]

J. W. Stalin, Werke, Band 7, 1925. Die deutsche Ausgabe besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Institut beim ZK der SED, Dietz Verlag Berlin 1952, S. 259 f.

N. I. Bucharin zur Notwendigkeit eines "dynamischen wirtschaftlichen Gleichgewichts" zwischen Landwirtschaft und Industrie, Herbst 1928
[...] Wenn die Trotzkisten nicht begreifen, daß die Entwicklung der Industrie von der Entwicklung der Landwirtschaft abhängt, so begreifen die Ideologen des kleinbürgerlichen Konservatismus nicht, daß die Entwicklung der Landwirtschaft von der Industrie abhängt, das heißt, daß die Landwirtschaft ohne Traktoren, ohne chemische Düngemittel, ohne Elektrifizierung zur Stagnation verurteilt ist. Sie begreifen nicht, daß gerade die Industrie der Hebel der radikalen Umgestaltung der Landwirtschaft ist, und daß es ohne die Hegemonie der Industrie unmöglich ist, die Rückständigkeit, die Barbarei und das Elend des Dorfes zu beseitigen. […]

N. I. Bucharin, Vor dem elften Jahrestag der Oktoberrevolution. Zum Beginn des neuen Wirtschaftsjahres in der Sowjetunion. Bemerkungen eines Ökonomen. In: Internationale Presse-Korrespondenz 8 (1928), 2. Hj., Nr. 117-119, zit. n. Helmut Altrichter / Heiko Haumann (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Bd. 2: Wirtschaft und Gesellschaft, dtv-Dokumente, München 1987, S. 225 f.

Stalin zur Lösung der Agrarkrise vor Studenten der Swerdlow-Universität, 28. Mai 1928
[…] Während wir in der Industrie dem kleinen Kapitalisten in der Stadt die sozialistische Großindustrie entgegensetzen können, die neun Zehntel der gesamten Masse der Industriewaren liefert, können wir der kulakischen Großproduktion im Dorfe [...] nur die noch nicht erstarkten Kollektiv- und Sowjetwirtschaften entgegensetzen, die bloß den achten Teil des Getreides produzieren, das die Kulakenwirtschaften erzeugen. […]
Der Ausweg besteht vor allem darin, von den kleinen, rückständigen, zersplitterten Bauernschaften zu vereinigten, großen, gesellschaftlichen Wirtschaften überzugehen, die mit Maschinen versehen, mit den Errungenschaften der Wissenschaft ausgerüstet und imstande sind, ein Maximum an Warengetreide zu produzieren. Der Ausweg besteht im Übergang von der individuellen Bauernwirtschaft zum kollektiven […] Betrieb in der Landwirtschaft. […]

J. W. Stalin, Werke, Band 11, 1928-März 1929. Die deutsche Ausgabe besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim ZK der SED, Dietz Verlag Berlin 1954, S. 78 f.

Die Kollektivierung ist in eine neue Phase eingetreten. Resolution des ZK-Plenums vom 17. November 1929
[…] Die breite Entfaltung der Kolchosbewegung verläuft unter den Umständen einer Verschärfung des Klassenkampfes im Dorf sowie einer Änderung ihrer Formen und Methoden. Gleichzeitig mit einer Verstärkung des direkten und offenen Kampfes der Kulakenschaft gegen die Kollektivierung, der bis zum direkten Terror geht (Morde, Brandstiftungen, schädliche Tätigkeit), greifen die Kulaken immer häufiger zu getarnten und heimlichen Formen des Kampfes und der Ausbeutung, dringen in die Kolchosen und sogar in die Leitungsorgane der Kolchosen ein, um sie von innen zu zersetzen und zu sprengen. […] Trotz […] der panischen Forderungen rechter Opportunisten, […] das Tempo von Industrialisierung und Vergesellschaftung der Landwirtschaft zu senken, führt die Partei den Kurs auf einen entschiedenen Kampf gegen den Kulaken, auf ein Ausroden der Wurzeln des Kapitalismus in der Landwirtschaft, auf die schnellste Vereinigung der individuellen klein- und mittelbäuerlichen Wirtschaften in große Kollektivwirtschaften, auf die Vorbereitung der Bedingungen für eine Entwicklung des planmäßigen Produktenaustausches zwischen Stadt und Land durch und wird ihn weiter durchführen. […]

Helmut Altrichter / Heiko Haumann (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod. Band 2: Wirtschaft und Gesellschaft, dtv-Dokumente, München 1987, S. 273

Resümee
Die von Stalin auch als "rechte Opposition" bezeichnete Gruppe um Bucharin bestimmte die Wirtschaftspolitik in Übereinstimmung mit der Stalin-Gruppe bis Spätherbst 1928. Auf Sitzungen hoher Parteigremien im Februar 1929 entmachtete Stalin die "rechte Opposition". Die Industrialisierungspolitik Stalins wurde im April 1929 gebilligt. Bucharin verlor seinen Sitz im Politbüro und wurde – wie auch die übrigen Führer der "rechten Opposition" Rykow und Tomskij – anderer wichtiger Funktionen enthoben. Am 25.11.1929 unterwarfen sich diese drei Politiker Stalins "Generallinie" in einem öffentlichen Schuldbekenntnis. […] Bucharin und Rykow wurden nach dem 3. Moskauer Schauprozess hingerichtet.

Wolf D. Behschnitt, Die Russische Revolution 1917-1929. Quellen und Darstellungen. Sozialwissenschaftliche Materialien, Ernst Klett Verlage GmbH, Stuttgart 1987, S. 56

Erneuter Bürgerkrieg

Bereits 1929 war ein extrem gewalttätiges Jahr. Fast der gesamte ländliche Raum des Sowjetreichs befand sich erneut im Bürgerkrieg: Die aus den Städten rekrutierten 25.000 Arbeiteraktivisten zwangen Bauern mit vorgehaltener Waffe, ihre "Getreideverstecke" zu zeigen, führten standrechtliche Erschießungen durch und sorgten für die Deportation der Bauern in Viehwaggons.

Erneut zogen sich Bauern in die Wälder zurück und schlossen sich zu Banden zusammen, die 1929 384 Morde an "Konfiskatoren" begingen und Aktivisten überfielen. Bauern schlachteten ihr Vieh, um es nicht an die Kolchose abgeben zu müssen; mit Äxten, Forken und Mistgabeln bewaffnete Bäuerinnen griffen die Kollektivbauern an. Ende 1929 / Anfang 1930 flohen 250.000 "Kulakenfamilien" aus ihren Heimatdörfern, um der "Dekulakisierung" zu entgehen. Um den Widerstand der Bauern zu brechen, wurden Kirchen geschlossen, Glocken eingeschmolzen und Ikonen verbrannt.

Als Stalin Berichte der GPU erreichten, dass die Lage auf dem Land außer Kontrolle zu geraten drohe, rief er am 2. März 1930 unter dem Titel "Vor Erfolg vom Schwindel befallen" in der Prawda, der zentralen Parteizeitung, die Aktivisten zur Mäßigung auf. Allerdings war dies eine zynische Propagandamaßnahme, denn das Politbüro hatte den Kampf im Dorf entfachen wollen und die GPU hatte klare Anweisungen bekommen, wie viele Bauern zu deportieren waren. Entkulakisierung und Kollektivierung wurden demgemäß rücksichtslos fortgeführt, und die bürgerkriegsartigen Zustände hielten an.

Unter der Flagge des Kampfs gegen das Kulakentum wurden auch ethnische Konflikte gewaltsam ausgetragen: An der Mittleren Wolga wurde das russische Dorf Molozino für sechs Wochen von einer tatarischen Gruppe von Getreideeintreibern regelrecht "besetzt" und von der Außenwelt abgeriegelt, die Einwohner verhaftet, gefoltert und vergewaltigt. In Kasachstan war die Kollektivierungskampagne ein Todesurteil für die Lebensart der Nomaden: Sie mussten ihr Vieh verkaufen, um davon Getreide zu erwerben, das sie dem Staat ablieferten. Angesichts des Kampfes um Leben und Tod machten sesshafte Bauern Jagd auf Kasachen, die sie systematisch ermordeten. Kasachische Stämme wiederum schlossen sich zu Kampfverbänden zusammen, denen sich bald auch turkmenische Clans anschlossen. Gemeinsam erhoben sie sich gegen die Sowjetmacht in Kasachstan und Turkmenistan. 1930 erreichte ein Bericht Moskau: "In weiten Gebieten […] gibt es keine Sowjetmacht und keine Parteiorganisation" mehr.

QuellentextGetreiderequirierung

[…] Man traf sich [...] im Haus eines Bauern, der sein Getreide-Ablieferungssoll nicht erfüllt hatte. Die Dorfsowjet-Diensthabenden trieben alle hin, die den Ablieferungsplan nicht erfüllt hatten, und achteten darauf, daß niemand ohne besondere Erlaubnis die Versammlung verließ. Gewöhnlich hielt Waschtschenko [der Vorsitzende des Dorfsowjets] die Eröffnungsrede. Er berichtete, wieviel Getreide schon vom Dorf abgeliefert worden sei und wieviel noch fehlte. Er zählte die bösartigen Nichtablieferer auf und gab ausführlich bekannt, wo und bei wem verstecktes Getreide gefunden worden sei. […] Waschtschenko appellierte immer und immer wieder: "Wer tritt vor und erklärt freiwillig, daß er seine Ablieferungspflicht erfüllt? Manchmal hob sich eine Hand. [...]
Gewöhnlich aber begann Waschtschenko nach einigen vergeblichen Appellen, die Säumigen einen nach dem andern namentlich an den Tisch zu rufen. […] "Schlagt mir den Kopf ab! […] Ich habe nicht ein Pfund! Kein einziges Körnchen." Diese Worte waren bei den abendlichen Versammlungen am häufigsten zu hören […]. Man rief sie finster oder in hellem Zorn, unter Tränen, schluchzend, manche wie schon verurteilt, andere müde, abgestumpft, gleichgültig. [...] So ging es Nacht für Nacht. Manche Versammlungen zogen sich ununterbrochen zwei, drei Tage hin. […]
Die rückständigen Einzelbauern wurden auf verschiedene Art bedrängt. In ihren Häusern fanden die nächtlichen Versammlungen statt, bei ihnen wurden Bevollmächtigte […] einquartiert. Die Kolchosbauern […] waren […] von Einquartierungen und anderen Verpflichtungen befreit. Die Einzelbauern aber wurden täglich gezwungen, ihre mageren Pferde anzuspannen, um Brennholz für den Dorfsowjet oder die Schule zu fahren, um Abkommandierte in Nachbarkolchosen […] zu bringen oder um stundenlang beim Dorfsowjet "Dienst zu tun" […].
Als äußerste Maßnahme gegen böswillige Nichtablieferer war den dörflichen Machthabern die "bedingungslose Requirierung" gestattet: Eine Brigade von mehreren jungen Kolchosbauern und Angehörigen des Dorfsowjets, fast immer unter Leitung von Waschtschenko, durchsuchte Haus, Scheune und Hof und beschlagnahmte alle der Ablieferung unterliegenden Körnerfrüchte, führte Kuh, Pferd und Schweine fort, nahm auch das Viehfutter mit.
Manchmal ließen sie aus Mitleid Kartoffeln, Erbsen und Mais da, damit die Familie zu essen hatte. Strengere Brigaden nahmen alles fort, hinterließen den Hof wie gefegt. In besonders schweren Fällen wurden auch "alle Wertsachen und überschüssige Kleidung" beschlagnahmt: Ikonen mit silbernen Beschlägen, Samoware, kleine Bildteppiche, selbst metallenes Geschirr – es konnte ja aus Silber sein! –, außerdem in Verstecken aufgefundenes Geld. Eine besondere Anweisung schrieb vor, daß Gold, Silber und ausländisches Geld zu beschlagnahmen seien. Hie und da wurden tatsächlich versteckte Goldmünzen aus der Zarenzeit gefunden – Fünf- und Zehnrubelstücke. Meist aber erwiesen sich die Schätze als Papier: alte großformatige Noten mit den Bildern Peters des Großen oder Katharinas II., oder die unscheinbaren der Kerenskij-Regierung, auch Notgeld aus der Bürgerkriegszeit, [...] manchmal waren es auch sogenannte "Limonen" – Millionen-, oder "Limonarden", Milliarden-Noten aus der sowjetischen Frühzeit. Silberrubel fanden sich, 50-Kopeken-Stücke, auch kupferne Fünfer. Man erklärte uns: "Das Metallgeld von ‚vor den Kolchosen‘ ist mehr wert."
Wolodja und ich waren mehrmals bei solchen Raubüberfällen dabei, nahmen sogar daran teil: Wir hatten an Ort und Stelle eine Liste des Beschlagnahmten aufzustellen. [...] Ich hörte, wie die Frauen verzweifelt schrien und sich an die Säcke klammerten: "Ach, das ist das letzte! Für die Kinder zum Brei! Um Gottes willen – die Kinder werden verhungern!" Und laut heulend warfen sie sich auf ihre Truhen: "Oj, nein, nicht, das ist meine Mitgift, Erinnerung an die selige Mutter! Laßt mir das, liebe Leute, das ist mein Heiratsgut, noch nie angezogene Sachen!"
Ich hörte, wie die Kinder schrien, sich dabei verschluckten, kreischten. Ich sah die Blicke der Männer: eingeschüchterte, flehende, haßerfüllte, stumpf ergebene, verzweifelte oder in halbirrer böser Wut blitzende. "Nehmt doch, nehmt alles! Da – im Ofen steht noch ein Topf Borschtsch. Ist bloß kein Fleisch dran. Aber sonst alles: rote Rüben, Kartoffeln, Weißkohl. Und tüchtig gesalzen! Nehmt, Genossen Bürger! Wartet ab, ich zieh‘ mir die Stiefel aus […]. Sind zwar geflickt und löchrig, aber vielleicht kann sie das Proletariat noch brauchen, die geliebte Sowjetmacht […]."
Es war quälend und bedrückend, all dies zu sehen und zu hören, und noch bedrückender war es, selbst dabei mitzumachen. Nein, falsch: Untätig zuzusehen, wäre noch schwerer gewesen als mitzumachen, zu versuchen, andere zu überzeugen, ihnen zu erklären und dabei sich selbst zu überreden. Denn ich wagte nicht, schwach zu werden und Mitleid zu empfinden. Wir vollbrachten doch eine historisch notwendige Tat. Wir erfüllten eine revolutionäre Pflicht. Wir versorgten das sozialistische Vaterland mit Brot. Wir erfüllten den Fünfjahrplan. […]

Lew Kopelew, Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten, © Steidl Verlag, Göttingen 2003, S. 294 ff.

Hungersnot (1932/33)

Direkte Folge der Kollektivierungs- und Entkulakisierungskampagne war eine Hungersnot, der im Jahr 1932/33 je nach Schätzung zwischen fünf und zehn Millionen Menschen zum Opfer fielen. Besonders betroffen war die Kornkammer der Sowjetunion, die Ukraine, in der es allein circa fünf Millionen Hungertote gab. Wie 1921/22 kam es zu Fällen von Kannibalismus, aber diesmal wurde die Hungersnot verschwiegen und ausländische Hilfe nicht zugelassen. Die Menschen fielen einfach auf den Straßen um und blieben dort liegen; die Städte wurden abgeriegelt, um sie vom Elend der Bauern freizuhalten. Stalin sprach ab 1932 von der "Waffe des Hungers", die die Partei gezielt gegen ihre Feinde einsetzen müsse. Die These, dass es sich um einen gezielten Genozid (ukrainisch: Holodomor) an den Ukrainern handelte, ist indes nicht zu halten, da das Politbüro die Kampagne und Gewalt gegen alle Bauern gleichermaßen richtete, russische Bauern genauso betroffen waren und prozentual die Verluste unter den Kasachen noch größer waren. Während das Gedenken an den Holodomor und die Gräuel von Entkulakisierung und Kollektivierung bis zum Ende der Sowjetunion verboten blieb, gibt es heute in der Ukraine eine ausgeprägte Erinnerungskultur sowie aktive politische Bemühungen, den Holodomor international als Genozid anerkennen zu lassen und damit implizit Russland die Täterschaft anzulasten.

QuellentextHungersnot in Kasachstan

Zwischen 1930 und 1934 kam mindestens ein Viertel der Bevölkerung Kasachstans ums Leben. Mehr als 1,5 Millionen Menschen verhungerten oder gingen an Krankheiten und Seuchen zugrunde. […] Überall das gleiche Bild des Elends: Ausgemergelte Kinder an den Bahnstationen, unbestattete Leichen am Wegesrand, blutige Auseinandersetzungen um einen Kanten Brot, zerfallende Familien, Kannibalismus. […]
[B]ei den Rettungsversuchen der Bolschewiki ging es nicht primär um Hilfe für die hungernde Bevölkerung, sondern darum, die kollabierende Ökonomie zu stützen und die soziale Kontrolle nicht zu verlieren. […] Die Erfüllung von Ablieferungsplänen und Kollektivierungsvorgaben hatte nach wie vor Vorrang und war der alleinige Maßstab für Erfolg oder Misserfolg von Funktionären und Staatsbediensteten. Die Versorgung der Hungernden, zumal, wenn dazu Reserven angezapft werden mussten, die bereits für andere Zwecke vorgesehen waren, trat dahinter zurück. […]
1932 kam es zum völligen Zusammenbruch. Die Landwirtschaft kollabierte. Die letzten Reserven waren aufgezehrt, die Ernte fiel noch schlechter aus als im Vorjahr, und noch immer zogen die Bolschewiki Getreide und Vieh aus den Regionen ab. Praktisch alle Regionen Kasachstans waren nun von der Not betroffen. Überall flohen die Menschen vor dem drohenden Hungertod. [...]
Die Hungersnot zerstörte die Gesellschaft – in den eigentlichen Hungergebieten und darüber hinaus. Denn niemand konnte sich der Katastrophe und ihren Folgen entziehen. Zwar waren die Hungernden jene, die "verwilderten", doch auch die Menschen in ihrer Umgebung wurden von den Dynamiken der entstehenden Hungergesellschaft unweigerlich erfasst. [...]
Die Hungernden begannen, alle Arten von Gräsern und Pflanzen als Ersatznahrung zu sich zu nehmen. Sie aßen Hunde, Katzen, Vögel, Mäuse, was immer sich […] einfangen ließ. […] Danach blieb den Menschen keine andere Wahl, als ihre Heimatregionen zu verlassen. Sie schleppten sich in größere Orte, zu Bahnstationen, Sovchosen und Großbaustellen […]. […]
[Wenn] auch die letzten Vorräte aufgebraucht waren und keine Aussicht auf Hilfe mehr bestand, wurden die Hilflosen, Schwachen und Kranken zurückgelassen […]. [...] Die Kernfamilie blieb vielfach auch unter schwersten Bedingungen zusammen und versuchte, die Krise gemeinsam zu bewältigen. […] Manche hofften, bessergestellte Menschen würden sich ihrer Kinder annehmen. Sie legten Säuglinge vor Sowjetgebäuden ab oder drückten ihre kleinen Kinder vorüberfahrenden Fremden in die Arme. […]
Wo alle Reserven verbraucht waren, verletzten manche Hungernde auch die letzten Tabus und begannen, Menschenfleisch zu verzehren. Nachrichten über solche Vorfälle verbreiteten sich rasch unter der Bevölkerung und versetzten die Menschen in Angst und Schrecken. […]
Die Steppe war jetzt eine gigantische Todeszone. Vielerorts waren die Behörden weder in der Lage, die Lebenden zu versorgen, noch vermochten sie, die Toten auch nur notdürftig zu verscharren. Niemand machte sich noch die Mühe, Gräber für die Leichen auszuheben, die in Straßengräben und Erdlöchern abgelegt wurden. [...]
Unbestattete Leichen wurden in den größeren Orten zu einem normalen Bestandteil des Straßenbildes. […] Niemand wollte mit den Hungernden zu tun haben. […] Oft genug schlug die Ablehnung der Hungernden in offene Gewalt um. […] Die Hungernden wurden zum Bodensatz der Gesellschaft. Sie wurden vertrieben, bedroht und oftmals auch umgebracht. Sie waren Fremde und Bettler: Die Flüchtlinge wurden Teil einer undifferenzierten, grauen Masse, für die es keine Zukunft gab und deren Vergangenheit niemanden interessierte. […]

Robert Kindler, Stalins Nomaden. Herrschaft und Hunger in Kasachstan (Reihe "Studien zur Gewaltgeschichte des 20 Jahrhunderts"), Hamburger Edition – Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Hamburg 2014, S. 232 ff.

Forcierte Industrialisierung und Großbaustellen des ersten Fünfjahrplans

Stalin setzte auch die forcierte Schwerindustrialisierung gegen seine Rivalen Bucharin, Rykow und Tomski sowie die alte technische Intelligenz durch, die behutsamer erst die Leichtindustrie entwickeln und mit den Erlösen aus dem Export von Gebrauchsgütern die Schwerindustrie aufbauen wollten. Auch hier spielte die Utopie von einem hochindustrialisierten Land eine große Rolle, das Kohle, Stahl und schwere Maschinen herstellte, die Wüste belebte, das Wasser bändigte und das bäuerliche Russland in eine Landschaft rauchender Schlote verwandelte.

Auf der Parteikonferenz im April 1929 verkündete das Politbüro die Einführung des Ersten Fünfjahrplans, der auf 1928 vordatiert und vom V. Sowjetkongress im Mai 1929 beschlossen wurde. Er sah die Mobilisierung der gesamten Bevölkerung, enormer Ressourcen, Propagandakampagnen, vor allem aber den Bau von Wasserkraftwerken, Stahlwerken und Maschinenfabriken in nie gesehenem Maßstab vor.

Vorbildcharakter für die gesamte Industrialisierung wurde dem Bau des Staudamms am Dnjepr (DneproGES, 1927-1932) sowie der Stahlwerke in Magnitogorsk und im Kusbass (Magnitostroj und Kuznetskstroj, beide 1929-1932) zugeschrieben, die beide in sagenhaften 1000 Tagen fertiggestellt werden sollten. Unter der Parole "Amerika einholen und überholen" wollte die Sowjetunion das neue Land der unbegrenzten Möglichkeiten sein, in dem die leistungsstärksten Hochöfen, die längsten Staudämme und die größten Kraftwerke geschaffen wurden. Der Anspruch, binnen weniger Jahre ein "rückständiges", agrarisch geprägtes Land in die industrielle Moderne zu katapultieren, faszinierte viele Menschen im In- und Ausland. Zu den neuen Methoden des sozialistischen Arbeitens gehörte der sozialistische Wettbewerb, bei dem verschiedene Brigaden, Bauabschnitte oder wie am Dnjepr die beiden Ufer um die schnellere Fertigstellung wetteiferten; mehr noch wurde verlangt, den Plan überzuerfüllen oder einen "Gegenplan" aufzustellen, mit dem sich die Arbeiterinnen und Arbeiter verpflichteten, ihr Soll schneller zu erfüllen als geplant. Obwohl enorme Summen ausgegeben wurden, um aus dem Ausland Fachkräfte und Maschinen einzukaufen, gab es auf den Baustellen Planungschaos, viel Improvisation und Pfusch. In Magnitogorsk wurde der Bau der Fabrik ohne bestätigten Plan begonnen und dann an anderer Stelle neu begonnen; der erste Hochofen musste kurz nach Inbetriebnahme wieder abgerissen werden, weil der Beton bröckelte.

Die Eile und der Enthusiasmus waren Teil des Programms. Stalin sagte in einer berühmten Rede vor den Wirtschaftsführern des Landes im Februar 1931, Russland müsse seinen Rückstand von 300 Jahren in zehn Jahren aufholen. Die Industrialisierung wurde daher als Kampf ums Überleben, als Wettlauf gegen die Zeit und als Krieg gegen die Natur dargestellt. So heroisch der Industrialisierungskampf in Zeitungen, Spielfilmen und Romanen dargestellt wurde, so elend lebten Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern und teils auch Ingenieurinnen und Ingenieure, für die es oft keine Unterkunft gab, sodass sie in Zelten und Erdhöhlen hausen mussten. Dennoch verklärten viele von ihnen diese Jahre zu einer heroischen Aufbauzeit, in der sie gern für den Fortschritt Opfer erbrachten und mit viel Enthusiasmus und bloßen Händen den Sozialismus aufbauten.

QuellentextÜber die Aufgaben der Wirtschaftler

Rede Stalins auf der ersten Unionskonferenz der Funktionäre der sozialistischen Industrie, 4. Februar 1931, veröffentlicht in der "Prawda", Nr. 35, am 5. Februar 1931

[…] Wir selbst müssen zu Spezialisten, zu Meistern unseres Fachs werden, wir müssen uns dem technischen Wissen zuwenden – diesen Weg hat uns das praktische Leben gewiesen. [...]
Es ist dies natürlich keine leichte Aufgabe, aber sie ist durchaus zu bewältigen. Wissenschaftliche Kenntnisse, technische Erfahrungen, Wissen – all dies kann man erwerben. Heute hat man sie nicht, morgen wird man sie haben. Die Hauptsache ist hier das leidenschaftliche bolschewistische Verlangen nach der Meisterung der Technik, nach der Meisterung der Wissenschaft von der Produktion. Bei leidenschaftlichem Verlangen kann man alles erreichen, alles überwinden.
Zuweilen wird die Frage gestellt, ob man nicht das Tempo etwas verlangsamen, die Bewegung zurückhalten könnte. Nein, das kann man nicht, Genossen! Das Tempo darf nicht herabgesetzt werden! Im Gegenteil, es muß nach Kräften und Möglichkeiten gesteigert werden. Das fordern von uns unsere Verpflichtungen gegenüber den Arbeitern und Bauern der UdSSR. Das fordern von uns unsere Verpflichtungen gegenüber der Arbeiterklasse der ganzen Welt.
Das Tempo verlangsamen, das bedeutet zurückbleiben. Und Rückständige werden geschlagen. [...] Die Geschichte des alten Rußlands bestand unter anderem darin, daß es wegen seiner Rückständigkeit fortwährend geschlagen wurde. Es wurde geschlagen von den mongolischen Khans. Es wurde geschlagen von den türkischen Begs. Es wurde geschlagen von den schwedischen Feudalen. Es wurde geschlagen von den polnisch-litauischen Pans. Es wurde geschlagen von den englisch-französischen Kapitalisten. Es wurde geschlagen von den japanischen Baronen. Es wurde von allen geschlagen wegen seiner Rückständigkeit. Wegen seiner militärischen Rückständigkeit, seiner kulturellen Rückständigkeit, seiner staatlichen Rückständigkeit, seiner industriellen Rückständigkeit, seiner landwirtschaftlichen Rückständigkeit. Es wurde geschlagen, weil das einträglich war und ungestraft blieb. [...] Das ist nun einmal das Gesetz der Ausbeuter – die Rückständigen und Schwachen werden geschlagen. Das ist das Wolfsgesetz des Kapitalismus. Du bist rückständig, du bist schwach – also bist du im Unrecht, also kann man dich schlagen und unterjochen. Du bist mächtig – also hast du recht, also muß man sich vor dir hüten.
[...] Wollen Sie, daß unser sozialistisches Vaterland geschlagen wird und seine Unabhängigkeit verliert? Wenn Sie das nicht wollen, dann müssen Sie in kürzester Frist seine Rückständigkeit beseitigen und ein wirkliches bolschewistisches Tempo im Aufbau seiner sozialistischen Wirtschaft entwickeln. Andere Wege gibt es nicht. Darum sagte Lenin am Vorabend des Oktober: "Entweder Tod oder die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder einholen und überholen."
Wir sind hinter den fortgeschrittenen Ländern um 50 bis 100 Jahre zurückgeblieben. Wir müssen diese Distanz in zehn Jahren durchlaufen. Entweder bringen wir das zuwege, oder wir werden zermalmt. [...]
Wir müssen so vorwärtsschreiten, daß die Arbeiterklasse der ganzen Welt, auf uns blickend, sagen kann: Hier ist sie, meine Vorhut, hier ist sie, meine Stoßbrigade, hier ist sie, meine Arbeitermacht, hier ist es, mein Vaterland – sie machen ihr Werk, unser Werk, gut, unterstützen wir sie gegen die Kapitalisten und entfachen wir die Sache der Weltrevolution. [...]
Ich sage nicht, daß in bezug auf die Leitung der Wirtschaft bei uns in den letzten Jahren nichts geleistet wurde. Es ist gewiß etwas geleistet worden, und sogar sehr viel. Wir haben die Industrieproduktion im Vergleich zur Vorkriegszeit verdoppelt. Wir haben eine Landwirtschaft geschaffen, die die größten Betriebe der Welt hat. Wir hätten aber noch mehr leisten können, wenn wir uns in dieser Zeit bemüht hätten, die Produktion, ihre Technik, ihre finanzielle und ökonomische Seite wirklich zu meistern. [...] Und wir werden es leisten, wenn wir es nur wirklich wollen!

J. W. Stalin, Werke, Band 13, Juli 1930 - Januar 1934. Die deutsche Ausgabe besorgt vom Marx-Engels-Lenin-Stalin-Institut beim ZK der SED, Dietz Verlag Berlin, 1955, S. 34 ff.

Die ersten Schauprozesse (1928-1930)

Gleichzeitig mit der Industrialisierung begann die Verfolgung der alten technischen Intelligenz, die sich mehrheitlich gegen den Fünfjahrplan und gegen eine forcierte Schwerindustrialisierung ausgesprochen hatte. Anstatt auf das Erfahrungswissen der alten Experten zu setzen, startete Stalin eine Diffamierungskampagne gegen die "Schädlinge" und "Spione". Im ersten Schauprozess, der von März bis Juli 1928 die Presse beherrschte, wurden von 53 der Sabotage beschuldigten Bergbauingenieuren aus dem Ort Schachty 38 zu Gefängnisstrafen und elf zum Tode verurteilt. Im zweiten Prozess Ende 1930 ließ Stalin die herausragenden Fachkräfte aus dem Obersten Volkswirtschaftsrat und der Staatlichen Planungsbehörde Gosplan anklagen, sie hätten eine "Industriepartei" gegründet, um Kontakte zu ehemaligen Fabrikbesitzern herzustellen und eine Invasion Frankreichs vorzubereiten. Von den acht angeklagten Ingenieuren wurden sechs zum Tode verurteilt, aber die Strafe wurde nicht in allen Fällen vollstreckt. Die beiden Prozesse steckten aber nur den Rahmen für viele weitere Entlassungen und Verhaftungen in Fabriken, Behörden und Universitäten. Ingenieure sahen sich dem Generalverdacht ausgesetzt, Sabotage zu betreiben.

Das Lagersystem GULag – Strafvollzug und Zwangsarbeit



Manuela Putz

Im Stalinismus war das System der Arbeitsbesserungslager integrativer Bestandteil des sowjetischen Gesellschaftsprojekts. Dabei gingen Zwangsarbeit, Ausbeutung und Unterdrückung mit Kulturarbeit, Umerziehungs- und Reintegrationsbemühungen einher; Massenmord und Massenamnestien standen nebeneinander. Bereits unter Lenin waren 1923 die Solowezker Lager für besondere Bestimmung (SLON) in einer Klosteranlage im Weißen Meer (Randmeer des Arktischen Ozeans im Norden des europäischen Teils Russlands) südlich der Halbinsel Kola eingerichtet worden. Stalins Wirtschafts- und Sozialpolitik, also auch die von ihm angeordneten repressiven Maßnahmen und massenhaften Verhaftungen vermeintlicher "Volksfeinde", legten den Grundstein für die Ausdehnung des sowjetischen Lagersystems zu Beginn der 1930er-Jahre. Im Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals kulminierten 1931 seine Vorstellungen über die Schaffung einer modernen Gesellschaft. Hier wurden viele der verhafteten Ingenieure eingesetzt und "umerzogen". Die Umsetzung des ambitionierten Bauvorhabens, das 227 Kilometer Wasserstraße, 49 Dämme und 19 Schleusen umfasste, erforderte nicht nur Ingenieurswissen, sondern auch Arbeitskräfte. Rund 170.000 Gefangene erbauten mit einfachsten technischen Mitteln den prestigeträchtigen Kanal. Doch ist die Ausdehnung des sowjetischen Lagersystems mit allein wirtschaftlichen Überlegungen nicht zu erklären. Die Abkehr von Gefängnissen als Haftorten und der Einsatz von Zwangsarbeit als Resozialisierungsmaßnahme im Strafvollzug galten den Bolschewiki als fortschrittlich. Der Errichtung des Kanals wurde von bekannten sowjetischen Schriftstellern und Künstlern wie Maxim Gorki (1868-1936) oder Alexander Rodtschenko propagandistisch in Szene gesetzt und dokumentiert: Schlagworte wie Erziehung und "Umschmiedung" (russ.: perekovka) waren Ausdruck des Diskurses um die Schaffung des "Neuen Menschen".

QuellentextDer GULag entsteht

Die Einrichtung von Haftlagern geht auf ein Telegramm Lenins, des Führers der russischen Revolution, zurück, der am 9. August 1918 einer örtlichen Sowjetinstanz befahl, sogenannte Verdächtige in ein – so wörtlich – "Konzentrationslager" zu sperren. Im Erlass "Über den Roten Terror" ermächtigte die sowjetrussische Regierung am 5. September 1918 ihre Geheimpolizei, "die Sowjetrepublik vor ihren Klassenfeinden zu schützen, indem diese in Konzentrationslagern isoliert werden" sollten. […]
Das Solowezki-Besserungsarbeitslager ließ die sowjetische Regierung 1923 auf einer Inselgruppe im Weißen Meer, ca. 150 km südlich des Polarkreises, einrichten. Die auf mehreren Inseln verteilten Gebäude eines jahrhundertealten Klosters, das nach der Errichtung der Sowjetmacht aufgelöst wurde, dienten als Haftort für das erste und bedeutendste Lager sowjetischer Prägung.
Die ersten 150 Gefangenen trafen im Juli 1923 […] ein […]. Mitglieder der verschiedensten Oppositionsparteien, Offiziere der zaristischen Armee, Angehörige des bürgerlichen Parlaments, Kaufleute, Unternehmer, Aristokraten und Geistliche aller Konfessionen – kurzum ein Spiegelbild der vorsowjetischen Gesellschaft – bildeten die Masse der Inhaftierten. Hinzu kamen schon bald die ersten Sympathisanten der Sowjetmacht, die sich enttäuscht von der russischen Revolution abwandten und in die politische Opposition gingen. Später deportierte man auch Kriminelle nach Solowezki. Ende 1923 waren bereits mehr als 3000 Gefangene auf der Inselgruppe […] interniert. Wenn sie durch das Lagertor auf der Hauptinsel marschierten, konnten sie den Spruch lesen: "Lasst uns mit eiserner Hand die Menschheit ihrem Glück entgegentreiben." Zum 1. Januar 1931 zählte das Lager annähernd 72.000 Häftlinge.
Um Lager- und Wachpersonal einzusparen, entwickelte man das Prinzip der sogenannten Häftlingsselbstverwaltung, in der zahlreiche, vor allem untere Positionen und Funktionen von Gefangenen ausgeübt wurden. Im Laufe der Zeit übergab man mehr und mehr Positionen an Kriminelle, die die politischen Häftlinge zusätzlich verhöhnten und malträtierten. Das Machtmonopol gab die Lagerführung freilich nicht aus der Hand. Überliefert sind Erzählungen über brutale Torturen und Misshandlungen: "Der ‚steinerne Sack‘, bei dem man in Nischen eingesperrt wurde, Sitzen auf Stangen, das für den Herunterfallenden tödlich sein konnte, nackt im Sommer den Mücken oder im Winter im Schnee ausgesetzt zu werden. Von Sekirnaja Gora, dem Axtberg, wurden Häftlinge, an Baumstämme gefesselt, die Seiltreppe hinabgestürzt." Immer wieder kam es zur Erschießung von missliebigen Gefangenen. Die Haftbedingungen, insbesondere Unterkünfte, Verpflegung, Bekleidung sowie die medizinische Versorgung, waren völlig unzureichend.
Der Arbeitseinsatz der Gefangenen war noch nicht einem von oben vorgegebenen Wirtschaftsplan unterworfen, sondern diente fast ausschließlich der Lagerinfrastruktur und -selbstversorgung, gelegentlich als Bestrafung oder Willkürmaßnahme. Dies änderte sich jedoch seit Mitte der 1920er-Jahre. Der Großteil der Häftlinge wurde immer systematischer zur Zwangsarbeit, insbesondere zu Holzfällerarbeiten und zum Straßenbau eingesetzt. Eine täglich zu leistende, persönliche Arbeitsnorm wurde eingeführt, von deren Erfüllung man die Höhe der Verpflegungsration abhängig machte. Das Solowezki-Lager war in den 1920er-Jahren der wichtigste und größte Haftort der UdSSR […] [,] die menschliche Versuchsstation, für den sich wenige Jahre später über die ganze Sowjetunion ausbreitenden Archipel Gulag.
Am 7. April 1930 erließ die Sowjetregierung das Statut über die "Besserungsarbeitslager". Die offizielle Bezeichnung der Haftorte verdeutlichte unmissverständlich die gewandelte Haftintention, die nunmehr "Besserung durch Arbeit" lautete. Die Erfahrungen des Solowezki-Lagers nutzten die verantwortlichen Sowjetkader zunächst beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, der ersten und größten in den Volkswirtschaftsplan der UdSSR integrierten Baustelle. Zum ersten Mal basierte eine "Großbaustelle des Kommunismus" nicht nur völlig auf Häftlingszwangsarbeit, vielmehr hatte die Regierung die alleinige Verantwortung für die Realisierung des Projektes den Sicherheitsorganen übertragen. Der 227 km lange Kanal mit 19 Schleusen sollte innerhalb von nur 20 Monaten, von September 1931 bis April 1933, errichtet werden. Entlang der künstlichen Flussstraße entstanden zahlreiche Lager, die einen bestimmten Abschnitt des Kanals zu errichten hatten und der Verwaltung des Weißmeer-Ostsee-Kanal-Lagers, russ. Belomorsko-Baltiski-Kanal-Lag, unterstanden.
Das Produktionsreservoir bildeten mehrere Hunderttausend Häftlinge, die mit ihrer Muskelkraft, mit Spaten und Tragebrettern Abermillionen Kubikmeter Erde bewegten. In drei Schichten mussten die "Kanalarmisten", wie die Gefangenen bald bezeichnet wurden, rund um die Uhr auf ihrem "Kampfabschnitt" schuften. Die Höhe der Essenration war wie im Solowezki-Lager an die Erfüllung der täglichen Arbeitsvorgabe gekoppelt. Die technischen und sanitären Zustände in den meist improvisierten Massenlagern waren katastrophal, Krankheiten, vor allem Typhus und Skorbut, die Folge. Schätzungen über die Anzahl der Toten schwanken zwischen 50.000 und 250.000.
Am 1. Mai 1933 wurde der Kanal termingerecht übergeben. Die Sicherheitsorgane hatten bewiesen, dass auch mit gut organisierter Zwangsarbeit ein Beitrag zur von Stalin 1929 geforderten "forcierten Industrialisierung" zu leisten möglich war. Ein Teil der Häftlinge wurde daraufhin amnestiert, die große Mehrheit jedoch zu anderen Großbaustellen der Industrialisierung transportiert, etwa dem Bau des Moskau-Wolga-Kanals oder der Baikal-Amur-Eisenbahnmagistrale.

© Meinhard Stark, Frauen im Gulag. Alltag und Überleben 1936 bis 1956, Carl Hanser Verlag, München/Wien 2003, S. 28 ff.

QuellentextEin Häftling berichtet

Wir alle waren das Barackenessen leid, wo wir jedes Mal hätten weinen können angesichts der an Stöcken in die Baracke getragenen Suppenbehälter. Wir hätten weinen können aus Furcht, daß die Suppe zu dünn sein würde. Und wenn ein Wunder geschah und die Suppe war dick, dann glaubten wir es nicht und aßen sie vor Freude ganz, ganz langsam. Doch auch nach einer dicken Suppe blieb im angewärmten Magen ein nagender Schmerz – wir hungerten schon lange. Alle menschlichen Gefühle und Regungen – Liebe, Freundschaft, Neid, Menschenfreundlichkeit, Barmherzigkeit, Ruhmsucht, Ehrlichkeit – hatten uns verlassen mit dem Fleisch, das wir während unseres anhaltenden Hungerns verloren hatten. In der geringen Muskelschicht, die wir noch auf den Knochen hatten, die uns noch erlaubte, zu essen, uns zu bewegen, zu atmen und sogar Stämme zu zersägen, Gestein und Sand in die Schubkarren zu schaufeln und sogar die Schubkarren über den endlosen hölzernen Steg in der Goldgrube, auf dem schmalen Holzweg zur Waschvorrichtung zu schieben, in dieser Muskelschicht hatte nur Erbitterung Platz – das langlebigste menschliche Gefühl.

Warlam Schalamow, Durch den Schnee, in: Werke in Einzelbänden / Warlam Schalamow Erzählungen aus Kolyma / aus dem Russ. von Gabriele Leupold. Hg. und mit einem Nachw. von Franziska Thun-Hohenstein, 3. Auflage, © MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH 2007, S. 53 f.



Schon 1934 war die Zahl der Gefangenen auf eine halbe Million angewachsen. Mit dem immer größer werdenden Aufgebot an Arbeitskräften, über das die Hauptverwaltung der Lager (GULag) verfügte, wuchs die Behörde mit ihren Dutzenden Lagerkomplexen zu einem dem NKWD unterstehenden "Staat im Staate" heran, der zunehmend nach seinen eigenen Regeln funktionierte. Seine größte Ausdehnung erreichte der GULag in den Nachkriegsjahren mit rund 2,5 Millionen Gefangenen, die in einem über die gesamte Sowjetunion verzweigten Netz von Lagerpunkten interniert waren. (siehe Karte III) Die Haftbedingungen für die Gefangenen variierten in den einzelnen Lagerkomplexen und waren abhängig von vielen Faktoren: von ihrer Häftlingskategorie (d. h. dem Strafparagrafen, nach dem sie verurteilt worden waren), von Zeitpunkt und Dauer der Haftstrafe, dem geografischen Standort des Haftortes, aber auch den dort vorherrschenden Spezifika, die aus der Zusammensetzung des Lagerpersonals und des Häftlingskontingents erwuchsen. Insbesondere in den Lagerpunkten Workuta, Norilsk oder Kolyma an den nördlichen Rändern der Sowjetunion waren die Bedingungen äußerst lebensfeindlich. Mangelernährung, hygienische Missstände, schwerste körperliche Arbeit im Bergbau oder zur Holzgewinnung unter schwierigen Witterungsverhältnissen, aber auch die Willkür der Lagerverwaltungen und Wachmannschaften, verbunden mit der von den berufskriminellen Häftlingen ausgehenden Gewaltkultur, wirkten sich auf die individuellen Überlebenschancen der Gefangenen aus.

Die räumliche Distanz zwischen Moskau und den Haftorten (im Falle der Kolyma mehr als zehntausend Kilometer), also auch die Kluft zwischen dem, was vom Zentrum angeordnet war, und dem, was sich vor Ort tatsächlich abspielte, war zum Teil groß. Gefälschte Planvorgaben, fiktive Buchführung, Arbeitsverweigerung, aber auch sadistische Lagerleiter oder kriminelle Bandenoberhäupter, die sich zu Herren über Leben und Tod erhoben, gehörten zum Lageralltag. Das sowjetische Strafvollzugssystem war auf allen Ebenen von einer Kultur des "So-tun-als-ob" durchdrungen. Der Lebensraum Lager war weniger streng reglementiert, dafür waren die Hierarchie- und Machtverhältnisse vielschichtiger und komplizierter als es von Historikern und vor allem den Anhängern der Totalitarismustheorie lange Zeit angenommen wurde.

Urbanisierung und Landflucht

Vor Entkulakisierung und Hungertod flüchteten sich zwischen 1929 und 1935 circa 17 Millionen Bauern in die Städte, an deren Rändern sich große Elendsviertel bildeten. Um der Landflucht Herr zu werden, führte die Sowjetregierung im Dezember 1932 ein Passsystem ein, das den Städtern ihr Aufenthaltsrecht dokumentierte, die Bauern aber zu Menschen zweiter Klasse machte: Sie bekamen keine Pässe und durften daher die Städte nicht betreten. Auch der Bezug von Lebensmittelkarten, die es von 1929 bis 1935 gab, wurde darüber geregelt. Das konnte die Landflucht aber nicht stoppen: Viele lebten in der Illegalität mit falscher Identität unter Verheimlichung der "Kulakenherkunft" in den Städten, um dort durch die Annahme einer körperlichen Arbeit zum "Proletarier" aufzusteigen, dem eine Parteikarriere oder ein Studium offenstanden. Auch wenn die Wohnungslage katastrophal war, wurden die Städte doch wesentlich besser mit Lebensmitteln versorgt als das Land, und die rasant wachsende Industrie brauchte dringend immer neue Arbeitskräfte. Die rigorose Passpolitik wurde erst 1974 wieder aufgehoben, aber Moskau und Leningrad blieben bis zum Ende der Sowjetunion Städte mit Zuzugssperre.

Nicht nur in Reaktion auf die "Verbäuerlichung" und Verslumung der Städte, sondern auch vor dem Hintergrund einer urbanen Utopie der Bolschewiki begann in den 1930er-Jahren ein regelrechter Kult um die Städte im Allgemeinen und Moskau im Besonderen, das die architektonische Verkörperung der sowjetischen Moderne werden sollte. 1932 gründete sich der Verband der Architekten, die dem Rationalismus und Konstruktivismus der 1920er-Jahre abschworen. Stattdessen bevorzugten sie die Übernahme verschiedener Stilrichtungen (Stileklektizismus), die sowohl nüchtern-sachlich als auch pompös-schwülstig sein konnten. Der Generalplan zur Rekonstruktion Moskaus wurde 1935 beschlossen. Er sollte die Stadt der Goldenen Kuppeln, die für das religiös geprägte, alte Russland stand, in eine moderne Metropole mit breiten Magistralen, strukturiert von einigen Monumentalbauten, verwandeln, in der sich die Menschen mit Autos fortbewegten und in großen Wohnblöcken mit mindestens sechs Stockwerken lebten. Der Abriss des zarischen und Bau des sowjetischen Moskaus begann bereits Anfang der 1930er-Jahre. Symbolisch steht dafür die Sprengung der Christ-Erlöser-Kirche 1931, an deren Stelle ein gigantischer Palast der Sowjets errichtet werden sollte, der aber nie realisiert wurde. Stattdessen eröffnete 1958 dort ein Freibad. Zur Neugestaltung Moskaus gehörte die 1935 eröffnete Metro genauso wie die Einrichtung des Gorki-Kultur- und Erholungsparks. Die Metrostationen huldigten als Tempel der Werktätigen der Geschwindigkeit der Zeit; der Gorki-Park sollte unter der Losung "Im Akkord arbeiten, sich kultiviert erholen" der Erziehung des Neuen Menschen dienen. Nach dem Muster des Generalplans wurden auch nach 1945 viele andere Städte nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den annektierten osteuropäischen Staaten umgestaltet.

Der Neue Mensch

Gleichzeitig mit der Hetzkampagne gegen die alte Intelligenzija starteten die Bolschewiki ein Programm zur massenhaften Ausbildung von neuen Ingenieuren und führten an den Hochschulen Arbeiterquoten ein: 1928 sollten 65 Prozent, 1929 70 Prozent aller Studienanfänger aus der Arbeiterschaft stammen; Parteimitglieder wurden bevorzugt aufgenommen. Wydwischenie (russ.; Beförderung) wurde die Abordnung junger, kommunistischer Menschen aus der Arbeiterschaft zum Studium genannt. Unter der Losung "Die Technik entscheidet alles" legten Partei und Gewerkschaften Sonderprogramme auf, mit denen sie jährlich tausend junge Menschen als "Partei-" oder "Gewerkschaftstausender" zum Studium schickten.

QuellentextBolschewistische Lebensart

[...] [D]as Bild vom "neuen Menschen" war ein überwiegend männliches. Gleichberechtigung der Frau hieß Erwerbstätigkeit und Vermännlichung der Frau. Propagandaplakate der 1920er Jahre zeigen muskulöse Arbeiterinnen mit harten Gesichtern und schwach ausgeprägten weiblichen Attributen. Die Dominanz der männlichen Leitbilder resultierte aus der fortdauernden Einschätzung, dass Frauen rückständig seien und sich an die männlich definierten Erfordernisse anzugleichen hätten.
Die Forderung nach der Befreiung der Frauen von der Hausarbeit und "Vergesellschaftung der Lebensweise" mündete in Visionen von völlig neuen Wohnformen. Gemeinsamer Nenner dieser Vorschläge war die Formel "Kommunehaus". Seit Mitte der 1920er Jahre wurden in der Sowjetunion Entwürfe von Kommunehäusern diskutiert. Grundidee war die Vereinigung von individuell und von kollektiv genutzten Räumen innerhalb eines Gebäudes. Das Kommunehaus sollte helfen, die bürgerliche Lebensweise zu überwinden, sich von traditionellen Familienstrukturen zu emanzipieren sowie Hausarbeit und Kinderbetreuung als gesellschaftliche Dienstleistung zu organisieren. Architekten und Stadtplaner machten sich in den 1920er Jahren intensiv Gedanken über die geeigneten baulichen Rahmenbedingungen für eine neue Lebensweise und die Lenkung sozialer Prozesse im Sinne der Erziehung des "neuen Menschen".
Unabhängig von der Art seiner Behausung sollte sich der "neue Mensch" in seiner Lebensweise vom bisherigen Typus abheben. Es galt für Kommunisten als unschicklich, eine schöne Wohnung und überhaupt materiellen Besitz anzustreben. Vielmehr war ein spartanischer Lebensstil angesagt, Minimalismus und Funktionalität waren das Ideal. Die Wohnung beziehungsweise das Zimmer eines Bolschewiken sollte frei von Nippes, Blumentöpfen, Häkeldeckchen und anderen Zeichen "kleinbürgerlicher" Häuslichkeit sein. Das Gleiche galt für die äußere Erscheinung der Menschen: Verpönt waren alle Attribute des Individualismus wie modische Kleidung, auffällige Frisuren, Schmuck oder Kosmetika. [...]

Dietmar Neutatz, Träume und Alpträume. Eine Geschichte Russlands im 20. Jahrhundert, Verlag C. H. Beck München 2013, S. 178 f.

QuellentextTagebuch aus Moskau

[7. Juni 1932] […] Ich sehe ja, dass ich mich häufig falsch verhalte, aber ich kann nicht anders, es geht nicht! Es geht einfach nicht! Nochmal: ich kann nicht. Meine Psychologie ist halt so. […] Womit soll das bloß enden? Ach! Wie widerlich ist das alles, es kostet mich eine große Willensanstrengung, das alles zu schreiben. Ich kann absolut nicht schreiben. Meine Stimmung ist idiotisch, gar nicht "politisch", was sehr schlecht ist, ich weiß. Erstaunlich, selbst die Zeitung lese ich mit Widerwillen. […]
[25.9.34] In mir sind zwei Menschen. Der eine ist ein staatlicher Mensch, der täglich fordert: Sieh dich vor, beachte die Vorschriften, sei vorsichtig, red keinen unnützen Blödsinn daher, gib acht auf dich und auf das, was du sagst. Die ganze Zeit gibt er mir Anweisungen. Dieser Mensch lebt die meiste Zeit in mir. Der andere, das ist ein Mensch, der in meiner Seele allen Schmutz aufsammelt, den übriggebliebenen Abfall. Und er sucht immer den geeigneten Zeitpunkt, diesen stinkenden Unrat irgendjemandem über den Kopf zu schütten und sich dadurch von der Last des Abfalls zu befreien. Jener Mensch ist seltener in mir, aber es gibt ihn. […]

Jochen Hellbeck (Hg.), Tagebuch aus Moskau 1931-1939, dtv dokumente, München 1996, S. 83; S. 165

QuellentextAusbildung einer neuen privilegierten Klasse

Aus den Erinnerungen des österreichischen Physikers Alexander Weißberg-Cybulski, seit 1931 Hochschullehrer in Charkow:

Die hohen Parteileute in Moskau, die ich im Jahre 1931 kennengelernt habe, lebten vorbildlich bescheiden. Aber ein Jahr später begann schon die Privilegierung gewisser Schichten. Früher gab es ein Höchstgehalt für alle Parteimitglieder.[...] Die Parteimitgliedschaft sollte keinerlei materielle Vorteile bringen. Die Mitglieder der Regierung sollten nicht besser bezahlt werden als qualifizierte Arbeiter.
Die Zerstörung der Landwirtschaft im Zuge der Kollektivierung brachte in den Jahren 1930 bis 1933 […] eine Situation im Dorf, die die Sicherheit des Systems gefährdete. Ohne einen straff disziplinierten Apparat der Gewalt hätte Stalin diese Krise nicht überwinden können. […] Man mußte deshalb die Tschekisten privilegieren, sie durften nicht ebenso hungern wie die übrige Bevölkerung, sonst hätten sie sich vielleicht den Volksmassen angeschlossen, und die Diktatur wäre gestürzt worden. Im Kampf um die Erhaltung seiner Macht war Stalin gezwungen, diesen Teil der Bürokratie durch außerordentliche materielle Zuwendungen zu bestechen.
Aber Stalin verwendete dieses Mittel auch auf anderen Gebieten. Er brauchte Ingenieure und Techniker, um die Pläne der Industrialisierung zu erfüllen. Auch diese Schicht wurde privilegiert, wenn auch nicht in dem Ausmaße wie die Tschekisten.
An der ideologischen Front waren es Schriftsteller und Journalisten, die die Vorteile ihrer Stellung genossen. Sie hatten das Lob der Diktatur zu singen. Es war eine mörderisch langweilige, entehrende, aber gut bezahlte Arbeit. Hier war es aber persönliche Eitelkeit und nicht die Notwendigkeit der Erhaltung seiner Macht, die Stalin zu großer Freigebigkeit verführte.
Aber die besten Brocken erhielten die führenden Administratoren, die Männer, die den Partei- und Staatsapparat leiteten. Von ihnen hing die Sicherheit des Diktators ab, eine Verschwörung unter ihnen konnte zu einer siegreichen Palastrevolution führen. Sie erhielten Privilegien, die weit über das Ausmaß dessen hinausgingen, was man erwarten konnte. […] Und dabei war das Land so arm. […] Sie erhielten Dienstautos, sie erhielten Freiplätze in den Sanatorien des Kaukasus, sie aßen in besonderen Restaurants zu Spottpreisen und so weiter. Aber das waren damals alles noch Kleinigkeiten im Vergleich zu dem, was in den späteren Jahren an der Spitze vor sich ging.

Alexander Weißberg-Cybulski, Hexensabbat. Rußland im Schmelztiegel der Säuberungen, Verlag der Frankfurter Hefte, Frankfurt / M., 1951, S. 674 f.


Zu den Auserwählten sollten ausdrücklich auch Frauen gehören. Am 22. Februar 1929 führte das ZK eine Frauenquote von 20 Prozent für die Neuaufnahmen an den Technischen Hochschulen, von 25 Prozent an Hochschulen für Chemie und Textilindustrie, Technika und Arbeiterfakultäten sowie von 35 Prozent an Hochschulen in Textilregionen ein. Das Ingenieurstudium wurde auf drei, maximal vier Jahre verkürzt und die Theorie durch Marxismus-Leninismus ersetzt. Allerdings hatten die Absolventinnen und Absolventen 1931 so wenig technisches Fachwissen, dass diese Reform rückgängig gemacht wurde.

Mit der Ausbildung zum Ingenieur bekam der Neue Mensch seinen letzten Schliff. Die ideale Biografie des Sowjetmenschen, die in Zeitungen, Spielfilmen und Romanen gepriesen wurde, war die eines Arbeiters, der mit der Revolution zu den Bolschewiki fand, im Bürgerkrieg gegen die Weißen kämpfte, in den 1920er-Jahren Aufbauarbeit in Partei oder Gewerkschaft leistete und im ersten Fünfjahrplan zum Studium abgeordnet wurde, um danach auf einer der Großbaustellen zu arbeiten. Die Propaganda führte dabei gern Frauen als Beispiele an, weil sie sich aus der doppelten Unterdrückung von Zarenreich und Patriarchat befreit hatten: "Die Biographie der Ljubow Wiktorowna – das ist die Biographie unseres Landes, unserer Partei, widergespiegelt im Objektiv eines menschlichen Lebens. Wo es heute für die Partei, für die Arbeiterklasse am wichtigsten ist, dorthin geht Jablonskaja. Deshalb machte sie sich an die Front auf, nachdem sie als junges Mädchen 1919 in die Partei eingetreten war. In Gefangenschaft der Weißen geraten und von dort geflohen, stürzte sie sich erneut mit Feuereifer in die Parteiarbeit und Verteidigung des Landes. Das Ende des Bürgerkrieges kam, und die Partei reorganisierte ihre Reihen für die Arbeit an der Wirtschaftsfront. Jablonskaja arbeitet im Sowjet für Arbeit und Verteidigung. Die Partei schickt die besten Kommunisten zum Studieren – Jablonskaja geht zum Studium an die Moskauer Technische Universität und verlässt sie 1926 als Ingenieur." (zitiert nach Zeitschrift "Inschenernyj trud" – Ingenieursarbeit, Nr. 3, 1934, S. 74)

Während im Westen der Jurist als allseits einsatzfähiger Beruf galt, der in Unternehmen, Behörden und Regierung gebraucht wurde, war in der technikbegeisterten Sowjetunion dem Ingenieur diese Rolle zugedacht. Die Prawda schwärmte 1934: "Die historische Rolle unserer sowjetischen Ingenieure ist einmalig. Alle wirklich technischen und wissenschaftlichen Probleme, die Epoche machen werden, entscheiden in Zukunft die Ingenieure unseres Landes." Tagebücher und Memoiren zeigen, dass viele junge Leute den Traum vom Neuen Menschen und vom Aufbau des Sozialismus träumten. Für sie waren der Enthusiasmus und die Vision einer lichten Zukunft real.

Kritik und Selbstkritik

Auch "Kritik und Selbstkritik" war eine Technik, um den Neuen Menschen zu formen. Einerseits entsprang diese Praxis der marxistischen Dialektik, nach der sich die Welt in Gegensätzen entwickelt, die überwunden werden müssen. Kritik und Selbstkritik dienten also der kritischen Begleitung sowohl der sozioökonomischen als auch der eigenen individuellen Entwicklung, um Probleme zu erkennen und zu bekämpfen. Sie war ein Instrument der Diagnose und Nachsteuerung.

Andererseits wurde sie unter Stalin immer wieder als Mittel zur "Anklage und Selbstanklage" missbraucht. Mit Beginn des Großen Umbruchs wurde es eine weitverbreitete Praxis, Partei-, Gewerkschafts- oder Betriebsangehörige vor die Parteiversammlung zu zitieren, wo sie sich der Fehler schuldig bekennen mussten, derer sie vorher bezichtigt worden waren. Je nach Schwere des Vergehens und in Abhängigkeit von den jeweiligen Kampagnen gegen "Schädlinge" oder "Volksfeinde" konnte ein solches Ritual mit einem Tadel oder aber mit Parteiausschluss, gefolgt von Entlassung, Verhaftung, Lager oder Erschießung, enden.

QuellentextDenunziation

[…] [G]egen Ende der zwanziger Jahre […] erhob [das Regime][...] den Anspruch, das Freizeitverhalten der Untertanen zentraler Leitung und Kontrolle zu unterwerfen. […] Doch nicht überall, wo es die Bevölkerung entmündigte, übte es auch wirklich Macht aus. Wo Kontaktzonen aufgehoben und Begegnungen zwischen Bolschewiki und Arbeitern nur noch in standardisierter Form, in Clubs, Parteizellen, auf Fabrikversammlungen und während der Aufmärsche anläßlich der Staatsfeste, stattfanden, konnte sich das Regime auf seine Kommunikationskanäle schon nicht mehr verlassen.
Denn die Untertanen, die mit der inszenierten Lüge leben mußten, logen zurück, wenn die Machthaber sie zum öffentlichen Sprechen aufforderten. Die Bolschewiki konnten die Kommunikationsbedingungen nach Belieben verändern, sie monopolisierten die Medien und wachten darüber, daß die jeweils ausgegebenen Sprachregelungen und Lebenshaltungen eingehalten wurden. So aber beraubte sich die Macht ihrer Wirkungen, weil sie in den öffentlichen Räumen Auftrittsverbote verhängte und weil sie den Untertanen abverlangte zu preisen, was nicht existierte.
Die Bolschewiki herrschten über die Räume der Lüge, im privaten Raum, in der Küche, aber geboten ihnen die Untertanen Schweigen. Hier regierten der Spott und der Alkohol.
[…] Von Anbeginn versuchten [...] [die Bolschewiki] deshalb, auch den Wohnraum der Untertanen zu verstaatlichen, Wohnungen in Orte des sozialistischen Kollektivs zu verwandeln.
Seit den frühen zwanziger Jahren entstanden in allen großen Städten der Sowjetunion Kommunalwohnungen, in denen gewöhnlich mehrere Familien untergebracht wurden. Die "kommunalka" war eine Sowjetunion en miniature, in ihr zeigten sich alle Leiden der stalinistischen Gesellschaftsordnung. Sie war ein Ort der Destruktivität: sie zwang Fremde, miteinander zu leben, Toilette, Küche und Bad gemeinsam zu nutzen. In der Kommunalka gediehen Mißtrauen, Furcht und Haß.
Ende 1927, als der Zuwanderungsdruck auf die großen Städte zunahm, begann das Regime mit der Ausquartierung von Menschen aus ihren Wohnungen. Niemand durfte jetzt noch mehr als acht Quadratmeter Wohnraum beanspruchen. Es waren die Vorsitzenden der Hauskomitees, die den Rayon-Sowjets mitteilten, welcher Wohnraum noch zu vergeben war. Mit dieser Funktion fiel den Vorsitzenden der Hauskomitees auch die Kontrolle über das Privatleben der Bewohner zu. Sie überprüften den Wohnraum in den Häusern, kontrollierten, wer sich illegal in der Stadt aufhielt, und denunzierten, wer keine Erlaubnis besaß, sich in der Stadt niederzulassen. Die Vorsitzenden der Hauskomitees waren der verlängerte Arm des stalinistischen Terrorapparates. Das zeigte sich bereits im April 1929, als die Regierung eine Verordnung erließ, die die lokalen Sowjets anwies, alle ehemaligen Hausbesitzer aus ihren Wohnungen zu vertreiben. Die Vorsitzenden der Hauskomitees sollten den Geächteten die Nachricht überbringen und den frei werdenden Wohnraum an Arbeiter vergeben. Zu Beginn der dreißiger Jahre wurden allein in Leningrad Tausende von "sozial fremden Elementen" aus ihren Wohnungen vertrieben.
Furcht und Mißtrauen zogen in die Kommunalwohnungen ein, der geringste Anlaß konnte zu einer Denunziation und Vertreibung führen. In den Jahren des Großen Terrors entglitten die Denunziationen jeglicher Kontrolle.
Der Exzeß brachte sich nicht zuletzt aus der kollektiven Solidarhaftung hervor, die das Regime unter den Bewohnern der Kommunalwohnungen einführte. Die Bewohner einer Kommunalka mußten einen "Bevollmächtigten" und einen "Volksrichter" wählen, die im Auftrag des Regimes Ordnung in den Wohnungen herstellten und die Bewohner eiserner Disziplin unterwarfen. Vandalismus, staatsfeindliche Äußerungen und asoziales Sozialverhalten sollten angezeigt und mit der Entfernung des Beschuldigten aus der Wohnung geahndet werden. Nun gelang dem Regime eine solche Disziplinierung nur ausnahmsweise. Aber es veränderte den Alltag der Untertanen, es säte Furcht und Mißtrauen, es erzeugte ein System des ständigen Verdachts, des Hasses und der Fremdenfurcht. [...]

Jörg Baberowski, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus. © 2005 Deutsche Verlags-Anstalt, in der Verlagsgruppe Random House, München, S. 103 ff.
Alle Rechte vorbehalten S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main

Schriftsteller als Seeleningenieure

In der Sowjetunion sollte die Kunst kein Amüsement oder eine Ablenkung von harter Arbeit sein, sondern sie hatte den Staatsauftrag, bei der Formung des Neuen Menschen und beim Aufbau des Sozialismus zu helfen. "Die Kunst ist kein Selbstzweck, sie spielt eine kolossale Rolle in der Umerziehung, in der Umarbeitung der Menschen", verkündete die Propaganda und forderte die Schriftsteller auf: "Seid echte ‚Seeleningenieure‘! Seid unsere Lehrer des neuen Lebens!" Der 1932 gegründete Schriftstellerverband schwor auf dem ersten Kongress 1934 die Schriftsteller auf den "Sozialistischen Realismus" (kurz: Sozrealismus) als einzig zulässigen Schreibstil ein. Wer publizieren wollte, musste Mitglied des Verbandes sein und sich an den neuen Stil halten, der das Werden des Neuen Menschen als dialektischen Bildungsprozess vorführte: Die ausgebeutete Kreatur lehnt sich spontan gegen das Unrecht auf, kämpft für Gerechtigkeit, überwindet Zweifel und Hindernisse, um am Ende als gebildeter Bolschewik sein Glück im Kollektiv zu finden: "Unser positiver Held kämpft für das Glück. Aber er kämpft für das Glück aller Arbeitnehmer, sein persönliches Glück sieht er in dem Glück aller, seinen Nutzen sieht er genau darin, das Leben des gesamten Kollektivs zu verbessern. Unser Held steht für persönlichen Mut, Entschlusskraft, Initiative [...], aber er steht nicht über der ‚Masse’, und sein Heldentum ist genau deshalb wunderbar, weil es einen massenhaften Charakter hat." (zitiert nach "Front nauki i techniki" – Front der Wissenschaft und Technik, Nr. 5-6, 1934, S. 3). Aber nicht nur die Schriftsteller, sondern jeder Sowjetbürger sollte am Schreib- und Bildungsprozess beteiligt werden. Arbeiter und Ingenieure wurden angeleitet, ihre Biografie als Aufstieg aus der zarischen Finsternis zum bolschewistischen Licht zu schreiben. Unter dem Schriftsteller Maxim Gorki wurde die "Geschichte der Fabriken und Werke" (1931-1938) als Publikationsreihe gegründet, in der Arbeiter ihre Erfahrung während der Revolution und beim Aufbau des Sozialismus als ihre sowjetische Geschichte niederschrieben.

Auch der Spielfilm diente der Formung des Neuen Menschen. Lenin schätzte den Film als die "wichtigste aller Künste". Auf ihrem XIII. Kongress im Mai 1924 hatte die Partei beschlossen, dass der Film bei der Erziehung, Ausbildung und Agitation der Massen eine zentrale Rolle einnehmen sollte. Um die Filmindustrie besser zu kontrollieren, wurde 1930 der Verband "Sowkino" in "Sojuskino" umorganisiert. Stalin machte sich selbst zum Chefzensor. Kein Film kam in die Kinos, den er nicht in seinem privaten Vorführraum im Kreml begutachtet hatte. Im Rahmen des Erziehungsauftrags entstanden in den 1930er-Jahren auch viele Kinokomödien und Musicalfilme, die sich an Hollywood orientierten und so ein Massenpublikum gewannen.

Die "goldenen dreißiger Jahre"?

Die Jahre 1934 bis 1936 werden bisweilen als "goldene Jahre" bezeichnet: Der Schrecken der Kulturrevolution und Kollektivierung schien vorbei, die GPU hatte der NKWD ersetzt, der XVII. Parteitag 1934 wurde als "Parteitag der Sieger" gefeiert, und im Herbst 1935 wurden auch die Lebensmittelkarten abgeschafft. Im Unterschied zum ersten Fünfjahrplan sah der zweite (1933-1937) wesentlich geringere Kennzahlen und eine Konzentrierung auf die Leichtindustrie vor. Konsum war nicht mehr verpönt, sondern galt als Zeichen des Erfolgs; die verdiente Arbeiterin oder der erfolgreiche Ingenieur sollten eine neue Wohnung beziehen, ein schickes Kostüm respektive einen gut sitzenden Anzug tragen und ein Auto fahren. Der Bauleiter von Magnitostroj Jakow Gugel (1895-1937) erklärte: "Wenn wir den Hochofen gebaut haben, dann vernichten wir die Wanzen, dann werden wir uns waschen und rasieren. Erst der Hochofen, dann die Wanzen." Am 4. Mai 1935 erklärte Stalin, die alte Losung, "Die Technik entscheidet alles" müsse durch die neue Losung "Die Kader entscheiden alles" ersetzt werden: "Ohne Menschen, die die Technik beherrschen, ist die Technik tot. [...] Deshalb müssen die Menschen, die Kader, die Arbeiter, die die Technik beherrschen, jetzt besonders hervorgehoben werden." Schon 1931 waren alte Ingenieure rehabilitiert worden; im August 1935 folgte eine Amnestie für Bauern, die zu weniger als fünf Jahren Haft verurteilt worden waren; im Dezember 1935 erklärte Stalin: "Der Sohn ist für seinen Vater nicht verantwortlich." Die Kinder von "Kulaken" sollten daher die gleichen Chancen wie Arbeiterkinder haben.

Die Stalinsche Verfassung von 1936

Begünstigt wurde diese Vorstellung von den "goldenen Jahren" von der Propaganda, die die neue Verfassung 1936 begleitete: "Das Leben ist besser, das Leben ist lustiger geworden." Die Verfassung versprach den Menschen Grundrechte wie freie Meinungsäußerung, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit, allerdings nur "in Übereinstimmung mit den Interessen der Werktätigen und zum Zwecke der Festigung des sozialistischen Systems". Das bedeutete letztlich nichts anderes als die Festschreibung der Parteilinie und die Kriminalisierung jeglicher Abweichung. Die Verfassung von 1936 ersetzte die formal noch bestehende Räterepublik durch den Parteienstaat: Während die Rätekongresse abgeschafft und durch den Obersten Sowjet ersetzt wurden, schrieb Artikel Nr. 126 die führende Rolle der Partei fest, die als "Vortrupp der Werktätigen […] den führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen wie der staatlichen", bilde.

"Hausfrauenbewegung"

Die Verfassung war begleitet von Maßnahmen, die die zuvor propagierte Emanzipation der Frau in Teilen zurücknahmen. Die Institution der Familie wurde 1936 in der Verfassung festgeschrieben, die Scheidung mit hohen Gebühren belegt und gleichzeitig ein Familienschutzgesetz erlassen, das Abtreibungen erneut verbot. Bereits 1935 hatte die Regierung die Bewegung der "Gesellschaftsarbeiterinnen", zu deutsch auch "Hausfrauenbewegung", initiiert, die die nicht werktätigen Ehefrauen von Ingenieuren, Wirtschaftsführern und Offizieren dazu aufrief, dem Mann sein Heim und seinen Arbeitsplatz zu verschönern. Der männlichen Führungselite wurde damit das Recht zugesprochen, ihre Frau von der Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Statt der Ingenieurin wurde nun die Ingenieursehefrau propagiert. Zum einen trug die Partei damit einem konservativen Familienbild Rechnung, zum anderen sollte die "Hausfrauenbewegung" diejenigen Frauen erreichen, die bisher von Staat und Partei unkontrolliert zu Hause blieben. Nadeschda Krupskaja (1869-1939), die Witwe Lenins, erklärte, wie die Frauen für eine bessere Produktivität ihrer Männer sorgen könnten: "Wenn er die Fürsorge um ihn, das Interesse an seiner Arbeit spürt, wenn er in seiner Ehefrau einen Genossen und Freund sieht, dann stellt sich bei ihm gute Laune ein, dann wird ihm leichter, und er wird fröhlicher arbeiten. Wenn der Mann ein Blaumacher ist, dann soll sich seine Ehefrau fragen, ob das nicht auch ihre Schuld ist."

Die Marginalisierung des Politbüros in den 1930er-Jahren

Obwohl seit 1930 das Politbüro ausschließlich aus Stalins Gefolgsleuten bestand und er 1930 auch den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare Rykow durch seinen engsten Vertrauten Wjatscheslaw Molotow (1890-1986) ersetzt hatte, entmachtete Stalin auch diesen Kreis vollkommen. Er unterwarf sich das Politbüro, indem er Partei und Staat miteinander verschmolz. Er verlagerte sämtliche wichtigen Entscheidungen auf das Politbüro, dessen Sitzungen er aber so reduzierte, dass schließlich alle Entscheidungen nur noch im Umlaufverfahren oder während der Zusammenkünfte auf seiner Datscha (russ. für Wochenendhaus, Sommerhaus) in Kunzewo (Vorort von Moskau) getroffen wurden. Tagte das Politbüro anfangs noch sechsmal im Monat, reduzierte Stalin Ende 1932 die Treffen auf zweimal im Monat; 1935 rief er das Politbüro nicht einmal mehr jeden Monat zusammen. Aus formalen Regierungsgeschäften waren also formale Parteibeschlüsse und daraus informelle Treffen auf der Datscha geworden. Druckmittel, die den Politbüromitgliedern zuvor noch zur Verfügung gestanden hatten, wie Rücktrittserklärungen, Ablehnungen oder Ultimaten, waren wirkungslos. Fortan war man von Stalins Gunst abhängig, der entschied, wen er auf die Datscha lud und wen nicht. Zudem war es schwierig, in Kunzewo nüchtern zu bleiben. Chruschtschow berichtete: "Übermäßig getrunken wurde an Stalins Tisch schon seit der Zeit vor dem Kriege. […] A. S. Schtscherbakow trank sich schließlich zu Tode, und er trank nicht deswegen so viel, weil er vom Alkohol nicht lassen konnte, sondern einfach deshalb, weil es Stalin gefiel, wenn sich die Leute, die ihn umgaben, unter den Tisch tranken. Allgemeiner gesagt, Stalin fand es unterhaltsam zu beobachten, wenn die Leute in seiner Umgebung sich in peinliche oder gar entwürdigende Situationen brachten. Aus irgendeinem Grunde fand er die Erniedrigung anderer sehr amüsant."

Die Stachanowkampagne

Im Kontrast zur propagierten Hinwendung zum Menschen stand die Stachanowkampagne. Alexei Stachanow (1906-1977) war ein Grubenarbeiter im Donbass, der in der Nachtschicht zum 31. August 1935 1457 Prozent seiner Norm erfüllte. Das war der Startschuss für alle Arbeiter und Arbeiterinnen, ebenfalls ihre Normen systematisch überzuerfüllen. Die Stachanowbewegung war nicht nur ein "verschärfendes Element" der Stalinisierung der Gesellschaft allgemein, sondern beschwor wie zur Zeit der Kulturrevolution den "Klassenkampf" zwischen Arbeitern und Ingenieuren herauf. Die Presse postulierte, dass Ingenieure nicht mehr Leiter und Planer, sondern Handlanger der Stachanowisten seien. Ihre Aufgabe bestünde darin, die Maschinen umzustellen und Hilfsvorrichtungen anzubringen; nur wer selbst ein Stachanowist sei, könne von den Arbeitern Respekt verlangen. Die Hysterie der Stachanowbewegung dauerte bis 1938. Während die Presse Arbeitererfolge ausschlachtete und Ingenieure diffamierte, führte die systematische Überlastung von Maschinen zu deren Ruin, das Ignorieren von Sicherheitsvorschriften zu schweren Arbeitsunfällen und das übersteigerte Arbeitstempo zu einem hohen Prozentsatz an Ausschussware.

Der Große Terror (1937/1938)

Lange Zeit herrschte in der westlichen Forschung Einigkeit darüber, dass der Große Terror 1934 mit der Ermordung des Leningrader Parteiführers Sergei Kirow (1886-1934) begann. Der Ermordung folgte die Verhaftung von Sinowjew und Kamenew sowie von Hunderten von Parteimitgliedern und eine Parteisäuberung, die direkt zu den Schauprozessen von 1936 bis 1938 führten. Während der Westen sein Wissen über die "Säuberung" lange Zeit aus der Geheimrede Chruschtschows von 1956 bezog, in der von der Ermordung der Parteispitze, der Wirtschaftsführer und der Militärführung die Rede war, ist seit Öffnung der Archive bekannt, dass der Terror sich auch gegen die Volksmassen und keineswegs nur gegen die Eliten richtete. Der "Große Terror" bezeichnet daher heute nur die zwei Jahre des massenhaften Terrors 1937 und 1938, begleitet von den Schauprozessen 1936 bis 1938.

QuellentextProtokoll Nr. 112 der Präsidiumssitzung des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR

Angenommen durch die Befragung der Mitglieder des Präsidiums des ZEK der UdSSR am 1. Dezember 1934

1. Über die Ordnung des Gerichtsverfahrens in Fällen der Vorbereitung bzw. Verübung von Terrorakten.
[...]
Akte Nr. 532/10

1. Den Untersuchungsbehörden ist vorzuschlagen, die Fälle von Personen, die der Vorbereitung bzw. der Verübung von Terrorakten beschuldigt werden, im Schnellverfahren abzuwickeln.

2. Den Gerichtsorganen ist vorzuschlagen, die Vollstreckung der Urteile zur Höchststrafe in Anbetracht von Gnadengesuchen der Verbrecher dieser Kategorie nicht hinauszuschieben […].

3. Den Organen des NKVD der Union der SSR ist vorzuschlagen, die Verurteilung zur Höchststrafe bei Verbrechern der genannten Kategorien sofort nach der Urteilsverkündung zu vollstrecken.

2. Über Veränderungen in den geltenden Strafprozeßbüchern der Unionsrepubliken.
[...] Das Zentrale Exekutivkomitee der UdSSR verordnet:
Folgende Änderungen, die die Untersuchung und Überprüfung von Fällen terroristischer Organisationen und terroristischer Akte gegen Funktionäre der Sowjetmacht betreffen, sind in die geltenden Strafprozeßbücher der Unionsrepubliken einzutragen:

1. Das Untersuchungsverfahren ist in diesen Sachen innerhalb eines Zeitraums von nicht mehr als zehn Tagen abzuschließen

2. Den Angeklagten ist die Anklageformel 24 Stunden vor der Gerichtsverhandlung auszuhändigen.

3. Die Verhandlung ist ohne Beteiligung der Parteien zu führen.

4. Kassationseinsprüche gegen das Urteil sowie die Einreichung von Gnadengesuchen sind nicht zuzulassen.

5. Die Verurteilung zur Höchststrafe ist sofort nach Fällung des Urteils zu vollstrecken.

Sekretär des CIK [ZEK] der UdSSR
(A. Enukidze) A. Enukidze
[Siegel: "Zentrales Exekutivkomitee. Union Sozialistischer Sowjetrepubliken"]

Rev. Übersetzung hier nach: Helmut Altrichter (Hg.), Die Sowjetunion. Von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod, Bd. 1: Staat und Partei, München 1985, S. 196
Externer Link: www.1000dokumente.de/index.html?c=dokument_ru&dokument=0019_str&l=de



Unabhängig davon, ob man davon ausgeht, dass der Große Terror eine reine Gewaltorgie war, die einzig dem Zweck diente, "Mordlust" auszuleben und die Herrschaft durch Angst zu festigen, oder ob man meint, das Morden diente der Schaffung einer neuen Gesellschaft und der Vernichtung des Feindes, der "fünften Kolonne", in den eigenen Reihen, war die Volkszählung 1937 für die Entfesselung des Terrors entscheidend. Die Volkszähler, die alle ermordet wurden, fanden heraus, dass die "neue sozialistische Gesellschaft", die Stalin 1936 mit seiner Verfassung ausgerufen hatte, gar nicht existierte. Die nie veröffentlichten Ergebnisse belegten, dass es noch unzählige Menschen gab, die dem Zaren gedient, der falschen Partei angehört und im Bürgerkrieg auf der Seite der "Weißen" gekämpft hatten. Die Hälfte der Bevölkerung erklärte, an Gott zu glauben.

Obwohl der stellvertretende, ab 1936 erste NKWD-Vorsitzende Jeschow kein Politbüromitglied war, lud Stalin ihn stets zu den Sitzungen ein und unterwarf schließlich das Politbüro dem NKWD. Stalin machte die Mitarbeiter seines engsten Kreises zuletzt auch dadurch gefügig, dass er deren nahe Verwandte verhaften ließ: die Brüder von Ordschonikidse und Kaganowitsch, die Söhne Mikojans, die Schwiegertochter Chruschtschows, die Ehefrau seines Sekretärs Alexander Poskrjobyschew (1891-1965) und viele mehr.

Die Moskauer Schauprozesse (1936-1938)

Mit den Schauprozessen wurden die alten Bolschewiki und Wegbegleiter Lenins angeklagt und hingerichtet. Sie dienten aber nicht nur der Beseitigung all jener, die Stalin einmal widersprochen hatten, sondern auch der Verbreitung einer Hysterie, die überall, selbst in den Führungsgremien der Bolschewiki, den Feind vermutete und so den Massenterror vorbereitete. Daher waren die Schauprozesse öffentlich, auch wenn das Publikum aus ausgewählten Claqueuren bestand.Die Gerichtsstenogramme wurden vollständig in der Prawda abgedruckt, damit jeder lesen konnte, was der Staatsanwalt Andrei Wyschinski (1883-1954) der ehemaligen Führungsriege vorzuwerfen hatte. Entscheidend war dabei auch, dass er eine Sprache benutzte, mit der er die Angeklagten unflätig beschimpfte und entwürdigte: "Erschießt sie wie die räudigen Hunde!"

QuellentextSchauprozess 1936 – „Die tollwütigen Hunde müssen allesamt erschossen werden“

Genossen Richter, ich komme zum Schluß. Es kommt die letzte Stunde, die Stunde der Sühne dieser Leute für die schweren Verbrechen, die sie an unserem großen Lande begangen haben. Die letzte Stunde der Sühne dieser Leute, die die Waffen gegen das Teuerste und Geliebteste, was wir haben, erhoben, gegen die geliebten Führer unserer Partei und unserer Heimat […].
Ein trauriges und schmachvolles Ende erwartet diese Leute, die einst in unseren Reihen standen, obwohl sie sich weder durch Standhaftigkeit, noch durch Ergebenheit gegenüber der Sache des Sozialismus ausgezeichnet haben. […]
Vor uns sind Verbrecher, gefährliche, verstockte, grausame, schonungslos unserem Volke gegenüber, unseren Idealen gegenüber, den Führern unseres Kampfes gegenüber – den Führern des Sowjetlandes, den Führern der Werktätigen der ganzen Welt!
Der Feind ist heimtückisch. Ein heimtückischer Feind darf nicht geschont werden. Das ganze Volk kam in Bewegung bei der ersten Nachricht von dieser ungeheuerlichen Freveltat. Das ganze Volk bebt und ist entrüstet. Und ich, der Vertreter der Staatsanklage, vereinige meine entrüstete, empörte Stimme des staatlichen Anklägers mit den brausenden Stimmen von Millionen!
Genossen Richter, ich will schließen und Sie an das erinnern, was in Sachen der schwersten Staatsverbrechen das Gesetz fordert. Ich gestatte mir, Sie an Ihre Pflicht zu erinnern, diese Leute, alle sechzehn, als Staatsverbrecher schuldig zu erkennen und gegen sie in vollem Umfange jene Artikel des Gesetzes anzuwenden, deren Anwendung die Anklage fordert.
Ich fordere, daß diese tollwütigen Hunde allesamt erschossen werden!
***
Das Militärgericht des Obersten Gerichtshofs der UdSSR verurteilte alle Angeklagten zum höchsten Strafmaß, zum Tode durch Erschießen unter gleichzeitiger Konfiskation ihres gesamten Privateigentums. Das Gnadengesuch der Verurteilten wurde vom Präsidium des Zentralen Vollzugsausschusses der UdSSR abgelehnt. Am 25. August 1936 wurde das Urteil vollstreckt.

A. J. Wyschinski, Gerichtsreden, Dietz Verlag Berlin 1952, S. 542 f. (Prozess gegen Sinowjew, Kamenew, u. a.)

QuellentextA. J. Wyschinski – ein Lebenslauf

"Verhaften, prozessieren, erschießen!" war das Credo von Stalins Chefankläger Andrei Januarjewitsch Wyschinski. Dass er selbst den Terror überlebt hat, grenzt angesichts seiner Vergangenheit an ein Wunder: Sein Vater entstammte einem alten polnischen Adelsgeschlecht und diente als hoher Beamter unter dem Zaren. Wyschinski studierte Rechtswissenschaften in Kiew und schloss sich später den Menschewiki an. Für seine politische Tätigkeit wurde er in Baku ein Jahr ins Gefängnis gesteckt, wo er Josef Stalin kennenlernte. Nach der Februarrevolution betätigte sich der Jurist einige Monate lang als Milizionär der provisorischen Regierung und stellte in dieser Funktion prompt einen Haftbefehl für einen gewissen Lenin aus – wegen Spionagetätigkeit für Deutschland.
Allein eine einzige dieser Stationen hätte ihn während der späteren Verfolgungswellen den Kopf kosten können. Die Nähe zu Stalin allein kann nicht genügend Schutz gewesen sein, denn auch engste Vertraute waren nicht sicher. Das zeigt das Beispiel von Nikolai Jeschow, der als Chef der Geheimpolizei dem Terror einen Namen gab, um dann 1938 selbst als Verschwörer verhaftet und hingerichtet zu werden.
Wyschinski aber wurde erst Dozent, dann Rektor der Moskauer Universität. Später führte er als Generalstaatsanwalt die Moskauer Prozesse. Sein Buch zur "Theorie der Beweisführung bei Gericht im sowjetischen Recht" wurde als theoretische Basis für die Repressionen verstanden.
Nach der Kapitulation Deutschlands hatte er als Abgesandter der UdSSR bei den Nürnberger Prozessen unter anderem dafür Sorge zu tragen, dass der Molotow-Ribbentrop-Pakt 1939 und die Ermordung polnischer Offiziere in Katyn 1941 ausgeklammert wurden. 1946 folgte Wyschinski dann als Außenminister auf Wjatscheslaw Molotow. Am Ende überlebte er sogar Stalin um ein Jahr – auf dem Posten des ständigen Vertreters der Sowjetunion bei den Vereinten Nationen in New York. Dort starb der Jäger der "Verräter" 1954 – auf Feindesland.

ANH, "Der Theoretiker der Repression", in: Süddeutsche Zeitung vom 10./11. November 2012

QuellentextSchauprozesse 1937

Was sich in den letzten Tagen des Januars 1937 im Oktobersaal des Moskauer Gewerkschaftshauses abspielte, wirkt in der Beschreibung der Iswestija zunächst wie ein großes Fest: "Die besten Vertreter der sowjetischen Gesellschaft füllen den Gerichtssaal", schreibt das Regierungsorgan am 24. Januar. "Orden funkeln an der Brust von Stoßarbeitern, Piloten und Wissenschaftlern. Unter den Anwesenden sind die Schriftsteller Alexei Tolstoi, Lion Feuchtwanger, Alexander Fadejew und andere." Doch in diese nette Ouvertüre kracht im nächsten Satz ein Paukenschlag, der Schlimmes ahnen lässt: "Grenzenloser Hass, abgrundtiefe Verachtung, unsäglicher Ekel sprechen aus ihren Blicken, während sie die Angeklagten anstarren." Es ist ein Schlachtfest, das hier vorbereitet wird und das ganze Land in einen Blutrausch versetzt, aus dem es erst allmählich wieder zu sich kommen wird.
Der "Prozess gegen das sowjetfeindliche trotzkistische Zentrum" gibt den Auftakt zum Terror-Jahr 1937, in dem die "Große Säuberung" ihren Höhepunkt erreicht: Nach vorsichtigen Schätzungen verhaftet die sowjetische Geheimpolizei NKWD zwischen Herbst 1936 und Winter 1938 mehr als anderthalb Millionen Menschen, etwa 700.000 werden erschossen. [...]
Dieser besinnungslose Amoklauf gegen das eigene Volk und die eigenen Parteigenossen wäre nicht zu erklären ohne die drei sorgsam inszenierten Verfahren, mit denen das Regime seine Feinde markierte und seine Untertanen auf die Verfolgungen einstimmte. Die Moskauer Prozesse in den Jahren 1936, 1937 und 1938 impfen der Gesellschaft das Misstrauen und den Verschwörungswahn ein, die den Diktator Josef Stalin selbst auszeichneten. Zugleich sollen sie der Weltöffentlichkeit den Anschein vermitteln, dass sich die Führung des Sowjetstaates mit Recht gegen ihre Feinde wehrt. Beobachter aus dem Ausland werden bewusst einbezogen.
Die Iswestija berichtet weiter: "Mehr als 40 Korrespondenten der wichtigsten Presseagenturen und Zeitungen aus der ganzen Welt haben lange vor Beginn des Prozesses ihre Plätze eingenommen. Zahlreiche Vertreter des diplomatischen Corps sind anwesend, darunter der amerikanische Botschafter Davis, der französische Botschafter Coulondre und andere." Der Oktobersaal des Gewerkschaftshauses ist in eine Weltbühne verwandelt. Was hier gespielt wird, gilt heute noch – 75 Jahre später – als das Musterbeispiel eines Schauprozesses. [...]
Die Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow im Dezember 1934 unter bis heute nicht geklärten Umständen diente Stalin als Anknüpfungspunkt für ein komplexes Netz von Verschwörungstheorien, die zum einen dazu dienten, sich alter Gegenspieler in der Partei zu entledigen, und zum anderen im Volk ein Klima der Angst zu schüren, weil jeder unter Verdacht stand, ein Saboteur oder Spion zu sein. Auch wenn die Vorwürfe im Einzelnen variierten, folgten sie alle einer Grundlinie: Beteiligung am Kirow-Mord, Verschwörung gegen Stalin und weitere Führer, Kontakte zum im Exil lebenden Stalin-Gegenspieler Leo Trotzki, Verrat und Spionage für Deutschland und Japan. Je phantastischer die Anschuldigungen waren, desto wirkungsvoller: Wenn selbst altgediente Bolschewiken, die Veteranen der Revolution, daran gearbeitet haben sollen, das Land zu schwächen und seine Führer zu stürzen, musste man von nun an überall Feinde vermuten.
Sie zu entlarven war die Kunst des Generalstaatsanwalts Andrej Wyschinski – und der Folter-Spezialisten des NKWD. Beweise brauchte das Gericht nicht, es urteilte auf Grund der Aussagen der Angeklagten, die sich gegenseitig belasteten und phantastische Geständnisse ablegten. Die Fragen Wyschinskis wirkten "wie ein Skalpell, das diese wandelnde Leiche seziert", schrieb die Iswestija anerkennend. Dennoch waren die Mittel der Logik allein nicht seine wichtigste Waffe. Wyschinski beschimpfte die Angeklagten als "Doppelzüngler", "Natterngezücht" und "menschlichen Abfall" und peitschte damit die Emotionen der Zuhörer auf. "Ich fordere, dass diese toll gewordenen Hunde allesamt erschossen werden!", schloss er eine Rede im ersten Prozess. Seit nach dem Ende der Sowjetunion die Archive geöffnet wurden, ist belegt, dass Stalin sich persönlich im Detail um die Inszenierung der Prozesse kümmerte. Seinem Geheimdienstchef Nikolai Jeschow gab er Anregungen für Verschwörungstheorien. Er redigierte Anklageschriften, fügte willkürlich Namen hinzu und lies sich die Beschuldigten nach dem Verhör in seinem Dienstzimmer im Kreml vorführen.
Der Prozess als scripted reality war derweil keine Neuheit in der sowjetischen Kultur. Bereits in den 20er-Jahren wurden Agitationsgerichte (Agitsudy) als Lehrstücke aufgeführt. Um den Bauern, die oft nicht einmal lesen konnten, die neue Gesellschaftsordnung nach der Revolution und die Moralvorstellungen des Sozialismus zu vermitteln, wurden in einer Form von Wandertheater moralische Vergehen symbolisch vor Gericht gestellt und verhandelt. Nun wurden solche Lehrstücke mit echten Menschen aufgeführt – und mit echten Todesurteilen.
Einen ersten Praxistest bestand die Methode 1928 in der Region Schachty im Donbas. Die Industrialisierung des Landes erlebte immer wieder Rückschläge; Arbeiter kamen bei Unfällen ums Leben, Züge entgleisten, neue Maschinen gingen kaputt, weil niemand gelernt hatte, sie zu bedienen. In keinem Fall durfte die politische Führung für die Niederlagen verantwortlich gemacht werden. Im Schachty-Prozess wurden 53 "bürgerliche Spezialisten" angeklagt, im Auftrag ausländischer Mächte die sowjetische Industrie sabotiert zu haben. "Es kam darauf an, eine Öffentlichkeit zu erzeugen, die sich im Gerichtssaal zu einem mächtigen Anklagechor erhob", schreibt [der Berliner Stalinismus-Forscher Jörg] Baberowski. "Die Geheimpolizei gab die Eintrittsbilletts aus und sorgte dafür, dass das Publikum nach jedem Verhandlungstag ausgetauscht wurde. Auf diese Weise konnten mehr als 100.000 Besucher das Geschehen im Gerichtssaal miterleben." Zeitungsberichte und ein Kinofilm über den Prozess vervielfachten die Wirkung, der Prozess wurde in Schulen, Fabriken und Arbeiterclubs diskutiert. Eine hysterische Angst vor Saboteuren brach aus.
Welche Wirkung das Spektakel des zweiten Moskauer Prozesses auf die Zuschauer hatte, zeigt diese Reaktion eines Kolchos-Arbeiters, die die Iswestija am 26. Januar 1937 veröffentlichte: "Für mich, einen einfachen Kolchos-Bauern, ist es schwer, die richtigen Worte zu finden, um auszudrücken, was mir hier im Gerichtssaal durch den Kopf geht. Aber eines kann ich sagen: Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, nicht einmal im Traum, dass die Erde solche Schurken hervorbringen kann. Was sie getan haben und was sie geplant haben, geht mir durch Mark und Bein, und ich möchte aus vollem Hals schreien: ‚Tod euch, ihr verdammten Schlächter!‘"
Selbst viele Beobachter aus dem Ausland waren beeindruckt. Der deutsche Schriftsteller Lion Feuchtwanger notierte in seinem als Buch veröffentlichten Bericht "Moskau 1937", durch seine Anwesenheit im zweiten Schauprozess hätten sich seine Bedenken aufgelöst, "wie sich Salz in Wasser auflöst. Wenn das gelogen war oder arrangiert, dann weiß ich nicht, was Wahrheit ist." [...]
[1937] wurden die Todesurteile gegen die "Verschwörer des sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums" unmittelbar nach der Verkündigung vollstreckt. Und vor der NKWD-Zentrale gegen die Urteile zu demonstrieren, wäre damals niemandem in den Sinn gekommen. [...]

Julian Hans, "1937 lässt grüßen!", in: Süddeutsche Zeitung vom 10./11. November 2012



Die Anschuldigungen waren groteske Konstrukte: Sie hätten im Auftrag von Trotzki, der Gestapo und ausländischer Geheimdienste geplant, Stalin und das Politbüro zu töten, nachdem sie bereits Kirow hätten ermorden lassen. Dem Prozess gegen Sinowjew, Kamenew und andere im August 1936 folgte im Februar 1937 die Anklage gegen Georgi Pjatakow (1890-1937), ZK-Mitglied und Erster Stellvertreter Ordschonikidses, und bedeutende Wirtschaftsführer, denen in erster Linie Sabotage und Schädigung der Volkswirtschaft vorgeworfen wurden. Der Volkskommissar für Schwerindustrie Ordschonikidse, von dem Stalin verlangt hatte, Anklagepunkte gegen seine Fachleute zu liefern, erschoss sich im Vorfeld. Im dritten Schauprozess im März 1938 wurden der "Parteiliebling" Bucharin, Rykow und andere zum Tode verurteilt. Die Urteile wurden sofort nach Verkündigung vollstreckt, die Familien der Verurteilten inhaftiert oder ebenfalls ermordet. Da fast alle Angeklagten geständig waren, glaubte teilweise sogar die Presse im Ausland an die Schuld der Verurteilten. Dass die Angeklagten geschlagen, gefoltert oder mit der Geiselnahme ihrer Familien zu den Geständnissen gezwungen wurden, konnte sich damals selbst im Ausland kaum jemand vorstellen.

QuellentextSchauprozess 1938

Auszüge aus dem Prozeßbericht, 2.-13. März 1938

Vormittagssitzung vom 2. März 1938
Gerichtskommandant: Das Gericht erscheint, bitte sich von den Plätzen zu erheben.
Vorsitzender: Bitte sich zu setzen. Ich erkläre die Sitzung des Militärkollegiums des Obersten Gerichtshofes der Union der SSR für eröffnet.
Zur Verhandlung steht die Strafsache von Bucharin Nikolai Iwanowitsch, Rykow Alexei Iwanowitsch [es folgen die Namen der 19 weiteren Angeklagten], angeklagt des Vaterlandsverrats, der Spionage, der Diversion, des Terrors, der Schädlingsarbeit, der Untergrabung der Militärmacht der UdSSR, der Provozierung eines militärischen Überfalls auswärtiger Staaten auf die UdSSR, das heißt wegen Verbrechen, die unter die §§ 58–1–a, 58–2, 58–7, 58–8, 58–9, 58–11 des Strafgesetzbuches der RSFSR fallen.
Vorsitzender: Angeklagter Bucharin, Nikolai Iwanowitsch, haben Sie die Anklageschrift erhalten?
Bucharin: Ja, ich habe sie erhalten.
Vorsitzender: Angeklagter Rykow, Alexei Iwanowitsch, haben Sie die Anklageschrift erhalten?
Rykow: Ja. […]
Vorsitzender […]: Ich wiederhole die Frage bezüglich der Verteidigung: Angeklagter Bucharin, wünschen Sie einen Verteidiger?
Bucharin: Nein.
Vorsitzender: Angeklagter Rykow, wünschen Sie einen Verteidiger?
Rykow: Nein. […]
Vorsitzender: Angeklagter Bucharin, bekennen Sie sich der gegen Sie erhobenen Anklagen schuldig?
Bucharin: Ja, ich bekenne mich der gegen mich erhobenen Anklagen schuldig.
Vorsitzender: Angeklagter Rykow, bekennen Sie sich der gegen Sie erhobenen Anklagen schuldig?
Rykow: Ja, ich bekenne mich schuldig. […]

[Mit einer Ausnahme erklären sich alle Angeklagten schuldig.]

Abendsitzung vom 12. März 1938
Gerichtskommandant: Das Gericht erscheint, bitte sich von den Plätzen zu erheben.
Vorsitzender: Bitte sich zu setzen.
Angeklagter Bucharin, es wird Ihnen das letzte Wort erteilt.
Bucharin: Bürger Vorsitzender und Bürger Richter, ich bin mit dem Bürger Staatsanwalt vollständig einverstanden bezüglich der Bedeutung des Prozesses, auf dem unsere ruchlosen Verbrechen aufgedeckt wurden, die der "Block der Rechten und Trotzkisten" verübte, einer dessen Führer ich war und für dessen ganze Tätigkeit ich die Verantwortung trage.
Dieser Prozeß, der in der Serie der anderen Prozesse den Abschluß bildet, deckt alle Verbrechen, deckt die verräterische Tätigkeit auf, den historischen Sinn und die Wurzel unseres Kampfes gegen die Partei und die Sowjetregierung. […]
Vor Gericht bekannte ich mich und bekenne ich mich der Verbrechen schuldig, die ich begangen habe und die mir vom Bürger Staatlichen Ankläger am Ende der gerichtlichen Untersuchung und auf Grund des dem Staatsanwalt vorliegenden Untersuchungsmaterials zur Last gelegt wurden. Vor Gericht erklärte ich auch und unterstreiche und wiederhole es jetzt, daß ich mich politisch für die ganze Gesamtheit der vom "Block der Rechten und Trotzkisten" verübten Verbrechen schuldig bekenne. Ich unterliege dem strengsten Strafmaß, und ich bin mit dem Bürger Staatsanwalt einverstanden, der einige Male wiederholte, daß ich an der Schwelle meiner Todesstunde stehe. […]

[18 der 21 Angeklagten wurden zur Erschießung verurteilt, und die Beschlagnahmung ihres ganzen persönlichen Eigentums wurde angeordnet.]

Theo Pirker (Hg.), Die Moskauer Schauprozesse 1936-1938, dtv Dokumente, © 1963, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München, S. 202 ff.

Der NKWD-Befehl 00447

Der Augustprozess 1936 und der Februarprozess 1937 waren der Auftakt und die Einstimmung zu einer Kampagne viel größeren Ausmaßes. Auf dem Februar/März-Plenum des ZK 1937 entwarfen Stalin, Georgi Malenkow (1901-1988), Molotow, Kaganowitsch und Jeschow ein Szenario, nach dem die ganze Sowjetunion von ausländischen Spionen, Schädlingen, Saboteuren und ehemaligen Kulaken durchsetzt war. Unmittelbar danach begann Stalin im ganzen Land, die Kader der Partei- und Sowjetorganisationen, die Wirtschaftsführer und das leitende technische Personal sowie die gesamte Führungsspitze der Roten Armee zu verhaften. Die Erschießung des Marschalls Tuchatschewski erfolgte am 12. Juni still und heimlich ohne Schauprozess wie auch die Exekution von rund 10.000 weiteren Offizieren. Die Verhaftungen geschahen meist nachts, und die Menschen zitterten, wenn sie ein als "Brotlieferwagen" getarntes Fahrzeug des NKWD vorfahren hörten, das im Volksmund "schwarze Krähe" hieß. Im Juni 1937 ging Stalin dazu über, sich von Jeschow Listen mit Namen der Funktionäre aus Staat, Partei und Verwaltung, die als "Volksfeinde" verdächtig waren, vorlegen zu lassen, deren Erschießung er mit seiner Unterschrift besiegelte.

QuellentextÜber die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler

Referat und Schlusswort des Genossen Stalin auf dem Plenum des ZK der KPdSU(B), 3. und 5. März 1937

Genossen!
Aus den auf dem Plenum erstatteten Berichten und aus den Diskussionsreden ist ersichtlich, daß wir es hier mit folgenden drei grundlegenden Tatsachen zu tun haben.
Erstens, die Schädlings-, Diversions- und Spionagetätigkeit von Agenten ausländischer Staaten, unter denen die Trotzkisten eine ziemlich aktive Rolle spielten, hat [...] alle beziehungsweise fast alle unsere Organisationen in Mitleidenschaft gezogen, sowohl die Wirtschaftsorganisationen als auch die Verwaltungs- und Parteiorganisationen.
Zweitens, Agenten ausländischer Staaten, darunter Trotzkisten, sind nicht nur in die unteren Organisationen eingedrungen, sondern sind auch auf einige verantwortliche Posten gelangt.
Drittens, einige unserer führenden Genossen sowohl im Zentrum als auch im Lande haben nicht nur das wahre Gesicht dieser Schädlinge, Diversanten, Spione und Mörder nicht zu erkennen vermocht, sondern sich derart sorglos, vertrauensselig und naiv gezeigt, daß sie nicht selten selbst dazu beigetragen haben, daß Agenten ausländischer Staaten auf diese oder jene verantwortlichen Posten gelangten.
Das sind die drei unbestreitbaren Tatsachen, die sich zwangsläufig aus den Berichten und den Diskussionsreden ergeben. [...]
Der ruchlose Mord am Genossen Kirow war die erste ernste Warnung, die davon zeugte, daß die Feinde des Volkes Doppelzünglerei betreiben und sich bei ihrem doppelzünglerischen Treiben als Bolschewiki, als Parteimitglieder maskieren werden, um sich Vertrauen zu erschleichen und sich den Zutritt zu unseren Organisationen zu erschließen.
Der Prozess gegen das "Leningrader Zentrum", ebenso wie der "Sinowjew-Kamenew"-Prozeß, bekräftigten erneut die Lehren, die sich aus dem ruchlosen Mord am Genossen Kirow ergaben. [...]
Es hat also Signale und Warnungen gegeben.
Was bedeuteten diese Signale und Warnungen?
Sie bedeuteten eine Aufforderung, die Schwäche in der Organisationsarbeit der Partei zu liquidieren und die Partei zu einer uneinnehmbaren Festung zu machen, in die kein einziger Doppelzüngler einzudringen vermag.
Sie bedeuteten eine Aufforderung, Schluß zu machen mit der Unterschätzung der politischen Arbeit der Partei und eine entschiedene Wendung zu vollziehen, in Richtung auf eine größtmögliche Verstärkung dieser Arbeit, in Richtung auf eine Verstärkung der politischen Wachsamkeit. [...]
Woraus ist zu erklären, daß diese Warnungen und Signale nicht die gebührende Wirkung hatten? […]
Es liegt daran, daß unsere Parteigenossen, beschäftigt mit den Wirtschaftskampagnen und hingerissen von den kolossalen Erfolgen an der Front des Wirtschaftsaufbaus, einige sehr wichtige Tatsachen einfach vergessen haben, die zu vergessen Bolschewiki nicht das Recht haben. Sie haben eine grundlegende Tatsache aus dem Gebiet der internationalen Lage der UdSSR vergessen und haben zwei sehr wichtige Tatsachen nicht bemerkt, die unmittelbar Bezug auf die heutigen Schädlinge, Spione, Diversanten und Mörder haben, welche sich hinter dem Parteimitgliedsbuch verbergen und sich als Bolschewiki maskieren. […]
Was sind das für Tatsachen, die unsere Parteigenossen vergessen oder die sie einfach nicht bemerkt haben?
Sie haben vergessen, daß die Sowjetmacht nur auf einem Sechstel der Erde gesiegt hat, daß fünf Sechstel der Erde von kapitalistischen Staaten beherrscht werden. Sie haben vergessen, daß sich die Sowjetunion in kapitalistischer Umkreisung befindet. [...]
Weiter. In ihrem Kampf gegen die trotzkistischen Agenten haben unsere Parteigenossen nicht bemerkt, [...] daß der Trotzkismus sich aus einer politischen Strömung in der Arbeiterklasse, die er vor 7-8 Jahren war, in eine hemmungslose und prinzipienlose Bande von Schädlingen, Diversanten, Spionen und Mördern verwandelt hat, die im Auftrage von Spionageorganen ausländischer Staaten handeln. [...]
Es muß klargelegt werden, daß im Kampf gegen den gegenwärtigen Trotzkismus jetzt nicht die alten Methoden, nicht die Methoden der Diskussion, sondern neue Methoden, die Methoden der Ausrottung und der Zerschmetterung nötig sind.

J. W. STALIN, Werke. Band 14: Februar 1934-April 1945. Diese Ausgabe erscheint auf Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1976, S. 119 ff.

QuellentextVerhaftungen in der Zeit des Großen Terrors

[…] Die Verhaftungen nahm das NKWD/MWD meist nachts vor. Wenn es an der Tür der kommunalen Gemeinschaftswohnung läutete oder an die Hütte klopfte, hielten sich alle Bewohner ruhig. Niemand wollte auffallen. Nach bangen Minuten traten mindestens zwei bewaffnete Sicherheitsbeamte, meist uniformiert, in den Raum und legten einen Haftbefehl vor. […] Eine Untersuchung folgte, deren Augenmerk auf möglichen Beweisen lag: fremdsprachige Bücher und Briefe, "konterrevolutionäre" Symbole, Fotoapparate, Ausweise und Geld. Ein Protokoll verzeichnete jeden konfiszierten Gegenstand. Wer Glück hatte, erhielt von den Uniformierten Ratschläge, was vorsichtshalber in den mitzunehmenden Koffer oder das Bündel hinein sollte: warme Sachen und Schuhe etwa […]. Selten verließ ein Nachbar oder eine Nachbarin in dieser Stunde den eigenen Raum, um der Arretierten beizustehen oder sich von ihr zu verabschieden. […]
"Konterrevolutionäre Tätigkeit", "Antisowjetische Agitation und Propaganda", "Spionage" oder "Verrat der Heimat" waren die wichtigsten Tatbestände des berüchtigten Paragraphen 58 des Strafgesetzbuches, nach denen politische Gefangene verurteilt wurden. Ehefrauen von inhaftierten "Volksfeinden" konnten einem Beschluss des Politbüros der KPdSU vom 5. Juli 1937 zufolge einfach in Sippenhaft genommen werden.
Traumatisch wirkte bei den Müttern der Abschied bzw. die gewaltsame Trennung von ihren Kindern. […] Die Tochter von Käte L. war noch keine zwei Jahre alt: "Ich dachte doch nicht, dass die mich mit dem Kind verhaften würden. [...] Dann haben die mir gesagt, ich soll das Kind abgeben. Da habe ich gesagt, ich habe nichts getan, und ich gebe mein Kind nicht weg, ich geb das nicht her. Ich hab’s festgehalten. Und da war dann so ein Weibsbild, die war wahrscheinlich aus einem Kinderheim, und da haben zwei Soldaten mich festgehalten, einer hat mir das Kind vom Arm gerissen und hat’s der gegeben und weg war das Kind.[…]"

© Meinhard Stark, Frauen im Gulag. Alltag und Überleben 1936 bis 1956, Carl Hanser Verlag, München/Wien 2003, S. 38 f.


Schließlich begann Stalin, ganze Kontingente der zu erschießenden und der zu Lagerhaft zu verurteilenden "Schädlinge" festzulegen. Der NKWD-Befehl vom 30. Juli 1937 mit der Nr. 00447 "Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente" rückte die breite Bevölkerung ins Visier des Terrors. Grundlage dafür waren Listen, die Stalin zuvor im ganzen Land von den örtlichen Parteisekretären und NKWD-Vorsitzenden angefordert hatte, auf denen die zurückgekehrten "Kulaken", Mitglieder zerschlagener Parteien sowie ehemalige Häftlinge und Kriminelle systematisch erfasst waren. Der Befehl 00447 legte zwei Kategorien von Strafmaß fest: "Der ersten Kategorie sind alle äußerst feindlich Gesinnten der oben aufgeführten Elemente zuzuordnen. Sie sind sofort zu verhaften und nach der Behandlung ihres Falles durch die Troikas zu erschießen. Der zweiten Kategorie sind alle übrigen, weniger aktiven, aber dennoch feindlichen Elemente zuzuordnen. Sie sind zu verhaften und für acht bis zehn Jahre in Lager einzuweisen." "Troikas" waren Schnellgerichte, die aus örtlichem NKWD-Vorsitzendem, Staatsanwalt und Parteivorsitzendem bestanden. Die Aktion sah vor, in vier Monaten 260.000 Personen zu verhaften und davon rund 73.000 zu erschießen. Doch schon bald meldeten die örtlichen NKWD-Stellen, die Kontingente seien erschöpft, und fragten an, ob man sie ausweiten dürfte. Stalin unterschrieb auch diese Listen.

Terror gegen "feindliche" Ethnien

Neben dem Befehl 00447, der breite Bevölkerungskreise ins Visier nahm, gab es weitere Operationen gegen ganze, als "feindlich" eingestufte ethnische Gruppen. Der Befehl 00439 vom 25. Juli 1937 richtete sich gegen alle deutschen oder ehemaligen deutschen Staatsbürger, die pauschal der Spionage und Sabotage (im kommunistischen Sprachgebrauch: Diversion) bzw. der Kooperation mit dem deutschen Generalstab und der Gestapo verdächtigt wurden. 42.000 Menschen kamen im Zuge der "deutschen Operation" ums Leben. Ein ähnliches Schicksal ereilte alle polnischen Angehörigen mit dem NKWD-Befehl vom 9. August "Über die Liquidierung der polnischen Diversions- und Spionagegruppen". 140.000 Menschen wurden allein in diesem Zusammenhang verhaftet. Weiter gab es eine "Operation zur Zerschlagung der Spionage- und Diversionsgruppen von Polen, Letten, Deutschen, Esten, Finnen, Griechen, Iranern, Charbinern, Chinesen und Rumänen." Hier ließ Stalin dem NKWD freie Hand, alle zu verhaften, die dieser als Angehörige einer solchen Gruppe identifizierte. Die größten Aussiedlungen erfolgten in den Grenzregionen. Als im August 1937 die japanische Armee in den Norden Chinas einmarschierte, ließ Stalin die gesamte koreanische Volksgruppe als potenzielle Kollaborateure der Japaner nach Kasachstan und Usbekistan deportieren.

Das Ende des Massenterrors

Es ist unklar, was genau das Ende des Terrors herbeiführte:

  • die Vorstellung, der Feind sei besiegt, die Gesellschaft "gereinigt"?

  • erste Anzeichen für Unruhen und Auflehnung gegen den Massenterror? So sollen Frauen vor den NKWD-Gefängnissen die Freilassung ihrer Männer verlangt haben;

  • der drohende Kollaps der Wirtschaft, weil es nirgends mehr technisches Personal, Fabrikleiter und Kader in den Volkskommissariaten gab?

  • weil Jeschow, wie verbürgt ist, in Stalins Augen gefährlich und zu unabhängig wurde? Stalin wurde berichtet, Jeschow habe geprahlt, er habe alle und jeden in der Hand und könne die Führer der Sowjetunion nach Belieben verhaften lassen. Zudem war Stalin der Lebensstil Jeschows verhasst, der exzessiv trank, dem Luxus frönte und ein unverhohlener Vergewaltiger war. Stalin ließ Jeschow im November 1938 durch Berija ersetzen und damit den Terror beenden. Der Verhaftung Jeschows im April 1939 folgte im Februar 1940 die Exekution.

Die genaue Zahl der Opfer des Großen Terrors ist unbekannt. Die unter Chruschtschow eingesetzte Pospelow-Kommission ermittelte 1,5 Millionen Verhaftungen und 682.000 Erschießungen. Als gesichert gelten heute diese Zahl an Exekutionen sowie mindestens 3,14 Millionen Verhaftungen.

Außenpolitik unter Stalin

Mit dem Großen Umbruch begann auch eine "Stalinisierung" der Außenpolitik, was bedeutete, dass absolute Loyalität zu Stalin nun mehr als Auslandserfahrung zählte; die diplomatische Etikette wich einem Kommunikationsstil, der von Abblocken und Drohen geprägt war. Personell vollzog sich der Wandel in zwei Schritten: Stalin ersetzte den Außenminister Tschitscherin 1930 durch Maxim Litwinow (1876-1951), der als Revolutionär seit 1918 das bolschewistische Russland in London vertreten hatte. Obwohl er als weniger umgänglich galt, respektierten ihn seine internationalen Gesprächspartner als Kenner des Westens. Litwinow vertrat die sowjetische Politik einer Annäherung an den Westen, namentlich an England und Frankreich, die durch einen Nichtangriffspakt mit Frankreich 1932 und die Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund 1934 gekrönt wurde. Hatte Tschitscherin in den 1920er-Jahren um die Anerkennung der Sowjetunion kämpfen müssen, folgte Litwinow in den 1930er-Jahren einem Defensivkurs, um die Existenz der Sowjetunion durch möglichst viele Nichtangriffsverträge abzusichern. Diesen Kurs der "kollektiven Sicherheit" beschloss das ZK angesichts der Gefahr, von Deutschland im Westen und Japan im Osten angegriffen zu werden. Doch offenbar vor dem Hintergrund des Münchner Abkommens 1938, das Stalin vor Augen führte, dass der Westen weder seine Verpflichtungen einhalten noch die Sowjetunion an Verhandlungen beteiligen würde, änderte er den außenpolitischen Kurs radikal. Am 3. Mai 1939 tauschte Stalin den anglophilen, jüdischen Litwinow gegen seinen engsten Gefolgsmann, Regierungschef Molotow, aus und nahm Kurs auf ein Bündnis mit Deutschland.

Obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits viele Diplomaten im Zuge des Großen Terrors verhaftet und viele Botschaften verwaist waren, richtete Molotow als erstes eine Säuberungskommission im Außenamt ein, die sämtliche Abteilungsleiter verhaften ließ. Litwinow selbst entging dem Terror und wurde 1941 als Botschafter in die USA geschickt. Auch die Komintern unterlag nun Terrormaßnahmen, die sie erheblich dezimierten. Der damals im Moskauer Exil lebende Wolfgang Leonhard (*1921), dessen Mutter 1936 verhaftet worden war, berichtete später: "In wenigen Monaten wurden mehr Funktionäre des Kominternapparates verhaftet, als vorher in zwanzig Jahren von allen bürgerlichen Regierungen zusammengenommen."

Der Hitler-Stalin-Pakt

Der Hitler-Stalin-Pakt war ein Schock für die Weltöffentlichkeit, die nach Moskau geflohenen Deutschen und die sowjetische Öffentlichkeit, die am Vortag noch gelesen hatten, dass alle Feinde, Spione und Diversanten im Auftrag Deutschlands handelten. Auch die Forscherinnen und Forscher sind immer wieder von diesem Coup erstaunt, der angesichts der weltanschaulichen Gegensätze unmöglich schien. Während kein Zweifel daran besteht, dass Hitler diesen Pakt forcierte, um seine Kriegspläne durchzusetzen und einen Zweifrontenkrieg zu vermeiden, wird bis heute über Stalins Motive gestritten: Spielte auch er auf Zeit? Glaubte er ernsthaft, sich die Weltherrschaft mit dem deutschen Diktator dauerhaft teilen zu können? Oder schlug er nur ein, weil er von den Verhandlungen über ein Beistandsabkommen mit Großbritannien und Frankreich frustriert war?

Jüngste Forschungen zeigen, dass sich Stalin weniger um die Weltanschauung Hitlers scherte, sondern vielmehr davon beeindruckt war, wie dieser mit harter Hand und ohne Zögern seine Macht ausbaute; die deutsche Schule der Gewalt imponierte ihm. Hitler und Stalin verband zudem ihre Verachtung für die professionelle Diplomatie. Wie Stalin war Hitler bemüht, das Außenamt seinem Politikstil anzupassen, und hatte dafür 1938 seinen treuen Gefolgsmann Joachim von Ribbentrop (1893-1946) zum Außenminister bestellt.

Am 23. August unterschrieb dieser in Moskau zusammen mit dem sowjetischen Außenminister Molotow in Anwesenheit Stalins einen Nichtangriffspakt. Dessen Brisanz lag in einem geheimen Zusatzprotokoll, mit dem Deutschland und die Sowjetunion Polen unter sich aufteilten und der Sowjetunion die Besetzung des Baltikums und von Teilen Rumäniens zugestanden wurde. "Anschließend wurde im selben Raum, es war das Arbeitszimmer Molotows, ein kleines einfaches Abendessen zu viert serviert. Gleich zu Anfang gab es eine kleine Überraschung: Stalin stand auf und hielt eine kurze Ansprache, in der er von Adolf Hitler als dem Manne sprach, den er schon immer außerordentlich verehrt habe", berichtet Ribbentrop.

Am 1. September überfiel Deutschland Polen, am 17. September marschierte die Rote Armee von Osten nach Polen ein – unter dem Vorwand, das Land schützen zu wollen. Stalin zwang den drei baltischen Republiken einen Beistandspakt auf und besetzte sie und Bessarabien (Rumänien) im Juni 1940. Das sich dem "Beistand" widersetzende Finnland wurde im Winterkrieg 1939/40 bezwungen. Im Baltikum, in Ostpolen, das der Ukraine und Weißrussland einverleibt wurde, und in Bessarabien begannen 1940 Deportationen und Massenerschießungen der bürgerlichen Eliten. Im April/Mai 1940 ließ das Moskauer Politbüro im Wald von Katyn rund 20.000 polnische Offiziere und Intellektuelle erschießen.

Da im Krieg das deutsche Exemplar des Zusatzprotokolls vernichtet wurde und die sowjetische Seite ihres unter Verschluss hielt, konnte letztere lange Zeit dessen Existenz bestreiten. Ebenfalls unter Verheimlichung der Aktenlage versuchten die sowjetischen Ankläger in den Nürnberger Kriegsprozessen 1945/46, die deutsche Seite für die Morde von Katyn verantwortlich zu machen – allerdings ohne Erfolg. Erst 1989 bekannte Michail Gorbatschow (*1931) sowohl die Schuld der Sowjetunion am Massaker von Katyn als auch die Existenz des Hitler-Stalin-Pakts. Bis dahin war der Mythos, die Rote Armee habe Polen, das Baltikum und Bessarabien vor NS-Deutschland geschützt, ein wichtiger Baustein zur Legitimation der UdSSR.

Der Große Vaterländische Krieg



Am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Stalin hatte zuvor Warnungen seiner Militärs als "Provokation" abgetan und eine Mobilmachung untersagt. Die deutschen Truppen überrannten daher die Rote Armee, die gerade in den Anfangstagen große Verluste erlitt, und erreichten bereits im September Leningrad; im Dezember standen sie vor Moskau. Stalin und sein engster Kreis reagierten nach innen mit einer Doppelstrategie: Einerseits zwangen sie die Bevölkerung auch mit Gewalt zum Kriegsdienst, ließen Verweigerer und "Versager" verhaften oder erschießen; andererseits riefen sie das ganze Volk als "Brüder und Schwestern" zur Verteidigung ihrer Heimat und zum "Großen Vaterländischen Krieg" auf.

QuellentextRadioansprache Stalins am 3. Juli 1941

Genossen! Bürger! Brüder und Schwestern!
Kämpfer unserer Armee und Flotte!
An Euch wende ich mich, meine Freunde!
Der von Hitlerdeutschland am 22. Juni wortbrüchig begonnene militärische Überfall auf unsere Heimat dauert an. Trotz des heldenhaften Widerstands der Roten Armee und ungeachtet dessen, daß die besten Divisionen des Feindes und die besten Einheiten seiner Luftwaffe schon zerschmettert sind und auf den Schlachtfeldern ihr Grab gefunden haben, setzt der Feind, der neue Kräfte an die Front wirft, sein Vordringen weiter fort. […] Über unsere Heimat ist eine ernste Gefahr heraufgezogen.
[…] Mit dem uns aufgezwungenen Krieg hat unser Land den Kampf auf Leben und Tod gegen seinen schlimmsten und heimtückischsten Feind, den deutschen Faschismus, aufgenommen. […] Die Rote Armee und die Rote Flotte kämpfen aufopferungsvoll [...] um jeden Fußbreit Sowjetbodens. [...] Die Tapferkeit der Kämpfer der Roten Armee ist beispiellos. [...] Zusammen mit der Roten Armee erhebt sich das ganze Sowjetvolk zur Verteidigung seiner Heimat.
Was ist erforderlich, um die Gefahr, die über unsere Heimat heraufgezogen ist, zu beseitigen, und welche Maßnahmen müssen getroffen werden, um den Feind zu zerschmettern?
Vor allem ist es notwendig, daß unsere Sowjetmenschen, die Männer und Frauen des Sowjetlandes, die ganze Größe der Gefahr begreifen, die unserem Lande droht […]. […]
Es ist ferner notwendig, daß in unseren Reihen kein Platz für Miesmacher und Feiglinge, für Panikmacher und Deserteure ist, daß die Menschen unseres Landes keine Furcht im Kampf kennen und opferwillig in unseren Vaterländischen Befreiungskrieg gegen die faschistischen Unterdrücker ziehen. [...]
Die Rote Armee, die Rote Flotte und alle Bürger der Sowjetunion müssen jeden Fußbreit Sowjetbodens verteidigen, müssen bis zum letzten Blutstropfen um unsere Städte und Dörfer kämpfen, müssen die Kühnheit, Initiative und Findigkeit an den Tag legen, die unserem Volk eigen sind. [...]
Wir müssen einen schonungslosen Kampf gegen alle Desorganisatoren des Hinterlands, gegen Deserteure, Panikmacher, Verbreiter von Gerüchten organisieren, wir müssen Spione, Diversanten und feindliche Fallschirmjäger vernichten […]. […] Alle, die durch ihre Panikmacherei und Feigheit die Landesverteidigung behindern, müssen ohne Ansehen der Person sofort dem Kriegsgericht übergeben werden. [...]
Den Krieg gegen das faschistische Deutschland darf man nicht als gewöhnlichen Krieg betrachten. Er ist nicht nur ein Krieg zwischen zwei Armeen. [...] Dieser Vaterländische Volkskrieg gegen die faschistischen Unterdrücker hat nicht nur das Ziel, die über unser Land heraufgezogene Gefahr zu beseitigen, sondern auch allen Völkern Europas zu helfen, die unter dem Joch des deutschen Faschismus stöhnen. In diesem Befreiungskrieg werden wir nicht allein dastehen. In diesem großen Krieg werden wir treue Verbündete an den Völkern Europas und Amerikas haben, darunter auch am deutschen Volk, das von den faschistischen Machthabern versklavt ist. Unser Krieg für die Freiheit unseres Vaterlandes wird verschmelzen mit dem Kampf der Völker Europas und Amerikas für ihre Unabhängigkeit, für die demokratischen Freiheiten. Das wird die Einheitsfront der Völker sein, die für die Freiheit, gegen die Versklavung und die drohende Unterjochung durch die faschistischen Armeen Hitlers eintreten. [...]
Genossen! Unsere Kräfte sind unermeßlich. Der frech gewordene Feind wird sich bald davon überzeugen müssen. Zusammen mit der Roten Armee erheben sich Tausende und Abertausende der Arbeiter, Kollektivbauern und der Intelligenz zum Krieg gegen den Feind, der uns überfallen hat. Erheben werden sich die Millionenmassen unseres Volkes. […] In jeder Stadt, der die Gefahr eines feindlichen Überfalls droht, müssen wir eine [...] Volkswehr schaffen, müssen wir alle Werktätigen zum Kampf mobilisieren, um in unserem Vaterländischen Krieg gegen den deutschen Faschismus unsere Freiheit, unsere Ehre, unsere Heimat unter Einsatz unseres Lebens zu verteidigen. […]
Alle unsere Kräfte – für die Unterstützung unserer heldenhaften Roten Armee, unserer ruhmvollen Roten Flotte!
Alle Kräfte des Volkes – für die Zerschmetterung des Feindes!
Vorwärts zu unserem Sieg!

J. W. Stalin, Werke, Band 14: Februar 1934-April 1945. Diese Ausgabe erscheint auf Beschluss des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, Verlag Roter Morgen, Dortmund 1976, S. 236 ff.



Nachdem Stalin im Mai 1941 von Molotow den Vorsitz des Rats der Volkskommissare übernommen hatte, setzte er jetzt den Stabschef und den Volkskommissar für Verteidigung "wegen Unfähigkeit" ab und übernahm selbst deren Ämter. Stalin zog sich nicht in den Regierungsbunker an der Wolga zurück, sondern nahm auch am 7. November 1941 demonstrativ die Parade auf dem Roten Platz ab. Er nutzte den Krieg, um die Bevölkerung zu einer Leidensgemeinschaft zusammenzuschmieden und sich selbst als "genialen Feldherren" zu inszenieren, der 1945 den Titel "Generalissimus" erhielt.

Während viele Menschen den Krieg als "freiere Zeit" beschrieben, Schriftsteller, deren Werke zuvor nicht mehr gedruckt worden waren, wieder publizieren konnten und seit 1943 sogar die orthodoxe Kirche wieder zugelassen wurde, um unter dem neugewählten Patriarchen für den Sieg und den obersten Feldherren zu beten, setzte Stalin auch während der Kriegsjahre auf Terror: Den schnellen Vormarsch der Wehrmacht lastete er seinen Kommandeuren an, die er reihenweise verhaften und erschießen ließ. Aus den Arbeitslagern wurden "Himmelfahrtskommandos" aus Häftlingen rekrutiert, die der NKWD mit vorgehaltener Waffe zum Kämpfen zwang. In den Landesteilen, die die Sowjetmacht beim Rückzug aufgeben musste, wurden rund 150.000 Gefangene erschossen. Allgemein wurde jeder Fehler am Arbeitsplatz als politisches Verbrechen gewertet; das Verlassen des Arbeitsplatzes galt als Fahnenflucht. 1941 wurden in der Sowjetunion 1,4 Millionen Menschen wegen "Bummelei" am Arbeitsplatz zu Haftstrafen verurteilt. Auch ließ Stalin wie schon zur Zeit des Großen Terrors all jene ethnischen Gruppen deportieren, denen er eine Kollaboration mit dem Feind unterstellte: 1941 wurden 450.000 Wolgadeutsche nach Kasachstan zwangsumgesiedelt; 1944 folgten die nordkaukasischen Völker, die Stalin für "Banditen" hielt. Von den zwei Millionen Menschen überlebten die Umsiedlung nur zwei Drittel.

Nach einer zweiten Offensive der Wehrmacht 1942, bei der deutsche Truppen bis zum Elbrus im Kaukasus vorstießen, kam die Wende mit der Einkesselung der 6. Armee bei Stalingrad im Herbst 1942. Nachdem sich die von Hunger und Kälte gezeichneten deutschen Soldaten dort bis Anfang Februar 1943 ergeben hatten, rückte die Rote Armee seit 1943 nahezu unaufhaltsam vor. Am 27. Januar 1944 wurde Leningrad befreit, Mitte 1944 war der Feind außer Landes getrieben; Anfang 1945 standen sowjetische Truppen an der Demarkationslinie des Hitler-Stalin-Pakts. Unter großen Verlusten eroberten sie bis Anfang Mai 1945 die deutsche Hauptstadt. (siehe Karte IV)

Deutsche Besatzung

Die Menschen in der Sowjetunion waren durch die deutschlandfreundliche Propaganda der vorangegangenen zwei Jahre und das Vorenthalten jeder Information über den Frontverlauf vollkommen unvorbereitet. Im Baltikum, in der Ukraine und in Weißrussland wurden die deutschen Truppenverbände anfangs als "Befreier" begrüßt. Dass Hitler diesen Krieg zu einem Kampf um "Lebensraum im Osten" gegen slawische "Untermenschen" erklärt hatte, erfuhr die sowjetische Bevölkerung erst im Kontakt mit den Deutschen. Statt eine Selbstverwaltung zu ermöglichen und die Kollektivwirtschaft abzuschaffen, verlangten die Besatzer Getreide sowie die Auslieferung von Juden und Bolschewiki, nahmen Verhaftungen und Erschießungen vor, plünderten, vergewaltigten und transportierten Menschen zur Zwangsarbeit nach Deutschland ab. Leningrad sollte auf Hitlers Weisung ausgehungert werden. Während der 900-tägigen Blockade starb von den drei Millionen Einwohnern eine Million an Unterernährung. Auch in der Sowjetunion war es eines der erklärten Ziele der Besatzer, dort ansässige Juden zu ermorden. Allein in der Schlucht von Babi Jar nahe Kiew erschossen deutsche Polizeibataillone bei einem der ersten großen Massaker am 29./30. September 1941 mehr als 33.000 Juden. Insgesamt ermordeten deutsche Einsatzkräfte und ihre einheimischen Handlanger nahezu 2,5 Millionen sowjetische Juden.

QuellentextBelagerung Leningrads

Jura Rjabinkin, 16 Jahre alt
6., 7. November [1941]. Über die Lage an den Fronten ist mir nichts bekannt. Stalin soll eine Rede gehalten und darin die Ursachen unseres Rückzugs erläutert und die USA und England auffallend scharf angegriffen haben, weil ihre Unterstützung zum gegenwärtigen Zeitpunkt wenig effektiv sei und wir praktisch allein gegen Deutschland kämpften. […]
Wir haben keinen Reis für Brei mehr. Demnach werde ich drei Tage hungern müssen. [...] Mutter ist krank geworden. Es muß ernst sein, da sie keinen Hehl daraus macht. Husten, Schnupfen mit Brechreiz, Heiserkeit, Fieber und Kopfschmerzen. […]
Ich kann den Unterrichtsstoff jetzt einfach nicht mehr aufnehmen und habe gar keine Lust zum Lernen. Ich denke immer nur ans Essen, an die Bombenangriffe und Geschosse. […]
9. und 10. November. Wenn ich einschlafe, träume ich jedes Mal von Brot, Butter, Piroggen und Kartoffeln. Außerdem denke ich vor dem Schlafen stets daran, daß die Nacht in zwölf Stunden vorüber ist und ich dann ein Stück Brot essen kann. […]
In der letzten Dekade mußten wir 400 g Graupen, 615 g Butter, 100 g Mehl verfallen lassen Diese Dinge waren nirgends zu haben. Wo sie trotzdem verkauft wurden, bildeten sich sofort riesige Schlangen. Hunderte und aber Hunderte standen bei bitterer Kälte auf der Straße, dabei reichte die Lieferung allenfalls für 80 bis 100 Menschen. Die Leute aber blieben, froren und gingen mit leeren Händen weg. Um 4 Uhr morgens standen sie auf, warteten bis 21 Uhr vor den Verkaufsstellen und kriegten doch nichts. […] Und das wochenlang. Danach hat man keine Wünsche mehr. Es bleibt nur stumpfe kalte Gleichgültigkeit gegenüber allem, was vor sich geht. Du ißt Dich nicht satt, schläfst nicht genug, frierst und sollst zu alledem noch lernen. [...]
Ich sitze und weine. Ich bin doch erst sechzehn! Die Hunde, die diesen Krieg vom Zaun gebrochen haben!

Lidija Ochapkina, 28 Jahre
[…] In der Wohnung war es schrecklich kalt, die Wände waren bereift […]. Mußte ich Ninotschka trocken legen, dann kroch ich zu ihr unter die Decke und schob die trockene Windel unter sie, damit sie sich nicht erkältete, die andere warf ich auf den Fußboden, und sie gefror im Nu [...].
Ich war schon so abgemagert, daß meine Beine eigentlich keinen Körper mehr zu tragen hatten. Meine Brust war wie bei einem Mann, nur Warzen. Die Haut spannte sich über meinen Backenknochen, die Augen waren eingefallen. Die Kinder waren gleichfalls sehr mager, mir blieb das Herz stehen, wenn ich ihre dünnen Beinchen und Ärmchen und die kleinen, durchsichtigen Gesichter mit den großen Augen sah. Brennholz hatten wir überhaupt keins. So konnten wir auch kein Wasser heiß machen oder etwas kochen. […] Wasser kam auch nicht mehr aus der Leitung, wir mußten es aus der Newa holen. Ich fuhr immer mit einem Kinderschlitten hin, mit einem Eimer und einer Kasserolle darauf. Wir brauchten viel Wasser, nicht nur fürs Essen. Schließlich mußte ich noch Windeln waschen. […]

Ales Adamowitsch, Daniil Granin, Das Blockadebuch. Zweiter Teil. Aus dem Russischen von Ruprecht Willnow, 2. Aufl., Verlag Volk und Wissen, Berlin 1987, S. 155 f., 167 f., 191
© Cornelsen Schulbuchverlage Berlin 2014

QuellentextDeportation im Nordkaukasus – und ihre Folgen

[…] Am 31. Januar 1944 ordnete das Staatskomitee für Verteidigung der Sowjetunion die Auflösung der Tschetscheno-Inguschischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (TschIASSR) und die Verbringung aller ihrer tschetschenischen und inguschischen Einwohner nach Zentralasien an. [...]
Am frühen Morgen des 23. Februar 1944 trat die Operation "Tschetschewiza" (Linse) in die entscheidende Phase. Die zentrale Rolle spielte das von Josef Stalins Vertrautem Lawrentij Berija geführte Volkskommissariat für innere Angelegenheiten (NKWD). [...] Im Juli 1944 meldete Berija [...] in einem Bericht an Stalin, im Februar und März seien 496.460 Tschetschenen und Inguschen deportiert worden. Dazu setzte man etwa 180 Züge mit je 65 Güterwaggons ein. 411.000 Personen brachte man nach Kasachstan, 85.500 nach Kirgistan. Dort wurden die "Spezialumsiedler" genannten Deportierten bereits von einem ganzen Netz an "Spezialkommandanturen" des NKWD erwartet, das bis 1955 eine totale Kontrolle über sie ausübte. Für nicht genehmigtes Verlassen des Verbannungsorts war eine Strafe von 20 Jahren Zwangsarbeit festgelegt. [...]
Die auffindbaren Daten über die Zahl der Todesopfer während der Deportation und in der ersten Zeit des Zwangsaufenthalts in Zentralasien schwanken erheblich, doch ist die Annahme realistisch, dass durch Hunger, Kälte, Krankheiten sowie Misshandlungen von Seiten sowjetischer Aufsichtsorgane mindestens ein Drittel der Tschetschenen und Inguschen umkam – ein enormer Aderlass für die ohnedies kleinen Völker. [...]
Nicht ganz vier Jahre nach [...] [Stalins] Tod, im Januar 1957, wurde die Tschetscheno-Inguschische Republik vom Obersten Sowjet wiedererrichtet. Die beiden Völker konnten in ihre Heimat zurückkehren. Das Trauma der Deportation nahmen sie mit sich – und es blieb auch im kollektiven Gedächtnis der folgenden Generationen.
Apologeten der Deportation in der Sowjetunion und im heutigen Russland behaupten, Tschetschenen und Inguschen hätten während des Kriegs im Hinterland der sowjetischen Front Aufstände und Anschläge unternommen. Sie hätten der Roten Armee schaden und damit den Vormarsch der Wehrmacht beschleunigen wollen, die indes nur einen kleinen Teil ihres Siedlungsgebiets besetzt hatte. [...] Immer wieder verwiesen wird in diesem Kontext auf die Tschetschenen Majrbek Scheripow und Hassan Israilow (getötet 1942 beziehungsweise 1944), die das – völlig unrealistische – Ziel einer Abspaltung des ganzen Nordkaukasus von der Sowjetunion verfolgt hatten. Es dürfte sich heute aber kaum noch wirklich feststellen lassen, wie umfassend ihr "Aufstand" wirklich war. [...]
Der inguschische Politologe Jakub Patijew meinte, dass der Grund der Deportation seines Volkes nicht eine Kollaboration mit der Wehrmacht war, sondern "die geographische Lage des Ethnos und das Bemühen des Zentrums, den Lebensraum für andere auszuweiten". Diese "anderen" waren die besonders "prorussischen" und "prosowjetischen" Osseten, die offenkundig von der Deportation der Inguschen und der Auflösung ihrer Republik profitierten. [...]
Der amerikanische Historiker Norman M. Naimark sah einen Grund für die Deportation der Tschetschenen und Inguschen in dem Umstand, dass sie einer "Verschmelzung von russischem und Sowjetpatriotismus im Weg" gestanden seien. Zudem verwies er auf die kulturelle und religiöse Autonomie der beiden Völker (die mit dem sowjetischen Anspruch auf allumfassende Kontrolle unvereinbar war), ihren Widerstand gegen die "Modernisierung" in ihrer sowjetischen Variante sowie auf ihren aktiven und passiven Widerstand gegen die Kollektivierung der Landwirtschaft Anfang der dreißiger Jahre, die ihre traditionelle Lebensweise weitgehend zerstörte.
Im de facto unabhängigen Tschetschenien der Jahre 1991 bis 1994 und 1996 bis 1999 waren beständige Hinweise auf die Schrecken der Kriege im Nordkaukasus des 19. Jahrhunderts, die mit der Unterwerfung der Tschetschenen durch das Zarenreich endeten, sowie der Deportation von 1944 ein wichtiger Teil der Rechtfertigung der Abspaltung von Russland. [...]
Zahllose – mitunter von russischen Behörden herausgegebene oder finanzierte – Bücher, Broschüren, Artikel sowie Materialien für Fernsehen und Internet bemühten sich, die postsowjetische, russische (und, wenn möglich, auch die internationale) Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass Tschetschenen und Inguschen "schon immer Banditen" und geradezu "genetisch" fanatisch, unzivilisiert, ungezügelt und gewaltbereit gewesen seien. Deshalb dürften sie sich weder über die Deportation von 1944 noch über das Vorgehen der russischen Streitkräfte 1994 und 1999 wundern.
Diese Darstellung beeinflusst die in der mehrheitlich slawischen Gesellschaft, Öffentlichkeit und politischen Elite gepflegten Feindbilder. Nordkaukasier (also nicht nur Tschetschenen und Inguschen) werden oft als Verbrecher und Terroristen kollektiv verunglimpft oder rassistisch als "Schwarze" beschimpft. So finden Forderungen wie "Schluss mit dem Füttern des Kaukasus!" nach einer Meinungsumfrage des angesehenen und unabhängigen Moskauer Lewada-Zentrums vom Oktober 2013 über 70 Prozent Zustimmung. [...]
Die Deportation hat bis heute auch großen Einfluss auf das Verhältnis der nordkaukasischen Völker untereinander. [...] Ein Grund für die inguschisch-ossetische Feindschaft ist eine Folge der Deportation – der Streit über den Prigorodnyj-Bezirk, den die Inguschen für ihre historische Wiege halten. [...] 1957, bei der Wiedererrichtung der Tschetscheno-Inguschischen Republik, verblieb ein Großteil des Prigorodnyj-Bezirks bei Nordossetien, was ein schwerer Schlag für die eng mit diesem Landstrich verbundene nationale Identität der Inguschen war. Sie kehrten nach 1957 aus der Verbannung jedoch ungeachtet aller Behinderungen durch die Unionsbehörden in Moskau wie der nordossetischen Führung auch in den Prigorodnyj-Bezirk zurück. [...]
Im Frühjahr 1990 begannen in Nordossetien die Vorbereitungen zur Bildung einer "Bürgerwehr". Ab Mitte 1991 wurden – in offenkundiger Verletzung russischer Gesetze – diese "Bürgerwehr" sowie eine "Republikanische Garde" aufgestellt. [...] In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 1992 kam es im Prigorodnyj-Bezirk zu ersten großen Zusammenstößen zwischen inguschischen Paramilitärs einerseits und der Miliz (Polizei), der Sonderpolizei OMON, der "Bürgerwehr" und der "Republikanischen Garde" Nordossetiens andererseits. Am 2. November 1992 begannen 68.000 Soldaten der russischen Armee und Paramilitärs aus Nord- und Südossetien eine Großoffensive gegen inguschische Dörfer im Prigorodnyj-Bezirk und vertrieben innerhalb weniger Tage die meisten Bewohner. Viele Inguschen betrachten diese "ethnische Säuberung" bis heute als eine Art Fortsetzung der Deportation von 1944. […]

Martin Malek, "Deportierte Völker", in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. Februar 2014

Bürgerkrieg

Während die Wehrmacht die sowjetische Bevölkerung ermutigte, Jagd auf Juden, Kommunisten und fliehende Rotarmisten zu machen, sollten die versprengten sowjettreuen Truppen, die sich nicht rechtzeitig hatten zurückziehen können, auf Stalins Weisung Partisanengruppen bilden. Viele von ihnen verselbstständigten sich mit eigenen Aktionen und politischen Programmen. Estnische antisowjetische Widerstandsgruppen verübten Sabotage gegen die Rote Armee und riefen eine "Partisanen-Republik" aus. Nach Weißrussland und in die Ukraine kehrten politische Emigranten und zarische Offiziere zurück; bevor die deutschen Besatzer die Ukrainische Aufstandsarmee (UPA) entwaffnen konnten, zogen sich die 3000 Mann in die Wälder zurück und kämpften sowohl gegen die Deutschen als auch gegen die Sowjetarmee. In Weißrussland befanden sich im Jahr 1943 verschiedenste bewaffnete Gruppen: Rotarmisten, die noch gegen die Deutschen Widerstand leisteten, Banden von Deserteuren und die Polnische Heimatarmee "Armja Krajowa". In den ukrainisch-polnischen Gebieten in Wolhynien und Cholm begann im Frühjahr 1943 ein blutiger ethnischer Krieg, der seinen Höhepunkt im Winter 1944 erreichte, als die UPA sämtliche Polen aus dem Gebiet vertrieb oder ermordete. In Reaktion darauf massakrierte die Armja Krajowa die ukrainische Bevölkerung.

Zum Höhepunkt der deutschen Besatzung Ende 1943 lebten 70 Millionen Sowjetbürger unter deutscher Herrschaft. Schätzungen gehen davon aus, dass davon rund eine Million Menschen aktiv in den Bürgerkrieg involviert waren. Als 1943 die Wehrmacht mit dem Rückzug begann, lösten sich die antikommunistischen Truppen zusehends auf oder flohen mit der Wehrmacht; die nationalen Gruppen zogen sich in ihre Heimatgebiete im Baltikum sowie in der Westukraine zurück und kämpften verbissen auch über das Ende des Weltkriegs hinaus weiter.

Da mit den fliehenden deutschen Truppen auch die meisten der Krimtataren flohen, ordnete Stalin an, 180.000 Krimtataren als "Vaterlandsverräter" deportieren zu lassen. Um einem möglichen pantürkischen Einfluss auf die muslimischen Georgier entgegenzuwirken, ließ er an die 100.000 meschetische Türken, die Kalmücken und die turksprachige Bevölkerung Südgeorgiens zwangsweise umsiedeln. In der Ukraine waren im Januar 1946 noch 20.000 NKWD-Soldaten, 10.000 reguläre Soldaten und 26.000 Milizionäre im Kampf gegen die Rebellen im Einsatz; in Moldawien, dem annektierten Bessarabien, kämpfte die Sowjetmacht noch 1950 gegen bewaffnete Widerstandsgruppen.

Opferzahlen

Obwohl Historikerinnen und Historiker heute von 25 bis 30 Millionen sowjetischen Kriegstoten ausgehen, sprach Stalin 1945 nur von sieben Millionen Opfern. Er stilisierte sich und das Sowjetvolk zu strahlenden Siegern, was sich nicht mit den realen Verlustzahlen vertrug. Erst Chruschtschow nannte 1956 die Zahl von 20 Millionen Kriegstoten. Von insgesamt 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen hatten 1,8 Millionen überlebt. Rund 235.000 von ihnen wurden anschließend zu Lagerhaft wegen "Kollaboration mit dem Feind" verurteilt. Auch die 2,75 Millionen nach Deutschland verschleppten Zwangsarbeiter blieben ihr Leben lang als Kollaborateure stigmatisiert.

QuellentextSchicksal sowjetischer Kriegsgefangener

Die sowjetischen Kriegsgefangenen waren neben den Juden diejenige Opfergruppe, die im Zweiten Weltkrieg das schlimmste Schicksal erlitt. Zwischen dem 22. Juni 1941 und Kriegsende gerieten etwa 5,7 Millionen Rotarmisten in deutsche Hand. Im Januar 1945 zählte man in deutschen Lagern noch 930.000. Maximal eine Million waren entlassen worden, die meisten als sogenannte "Hilfswillige" für – oft erzwungene – Hilfsdienste in der Wehrmacht. Weitere 500.000 waren nach Schätzung des Oberkommandos des Heeres (OKH) geflohen oder befreit worden. Die restlichen 3 300000 (57,5 % der Gesamtzahl) waren umgekommen. [...]
Schon im August 1941 brachen in Lagern im Osten Seuchen wie Ruhr und Typhus aus […]. In den Lagern im besetzten Polen wurden bis zum 20. Oktober 1941 bereits 54.000 Tote gezählt. Allein in den folgenden zehn Tagen verzeichnete man weitere 45.690 Todesfälle, täglich fast 4600. Im November erreichte die Sterberate 38 Prozent, im Dezember 46 Prozent. […] Insgesamt kamen bis zum Februar 1942 etwa zwei Millionen der 3,5 Millionen Gefangenen des Jahres 1941 um. [...]
Die Heeresführung nahm das Hungersterben der sowjetischen Gefangenen ganz bewusst als Faktum hin. Als der Generalquartiermeister im November 1941 von den Stabschefs der Ostarmeen darauf angesprochen wurde, dass die Armeen die sowjetischen Gefangenen als Arbeitskräfte brauchten, diese aber in den Lagern verhungerten, stellte er lapidar fest: "Nichtarbeitende Kriegsgefangene […] haben zu verhungern. Arbeitende Kriegsgefangene können im Einzelfalle auch aus Heeresbeständen ernährt werden." [...]

Christian Streit, "Keine Kameraden", in: "Ich werde es nie vergessen". Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004-2006. Hg. vom Verein "KONTAKTE-KOHTAKTbI"e. V., Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, Ch. Links Verlag – LinksDruck GmbH, Berlin 2007, S.11 ff., Externer Link: www.freitagsbriefe.de

QuellentextAus den Erinnerungen von Fjodor Michajlowitsch Solowjow

[…] Als der Krieg begann, wurde unsere Kampfeinheit nach Belarus verlegt. 1941 wurde ich verwundet. Ich musste zur Behandlung im Dorf Sadnjaja Grjada bleiben und wurde dort von deutschen Soldaten gefangengenommen. Wir Gefangenen wurden nach Minsk gebracht. Von Minsk gingen wir zu Fuß zu einem Waldlager, etwa 7 Kilometer von der Stadt entfernt. Ich war verletzt. Meine Wunden bluteten. Die Kameraden halfen mir zu gehen. Diejenigen, die sich nicht fortbewegen konnten, wurden auf der Stelle erschossen. [...] Im Lager waren Hunderte, Tausende von Gefangenen. Die Lebensbedingungen waren schrecklich: Krankheiten wie Typhus und Ungeziefer. Die Offiziere haben aus Spaß Gefangene erschossen. Wir wurden einmal täglich verpflegt. Nicht alle bekamen das Essen: es gab wenig Geschirr. Manche hatten das Essen in den Feldmützen oder einfach in den Händen. Die Leichen wurden massenhaft in einem Gemeinschaftsgrab außerhalb des Lagers bestattet. Es verging der Winter. Im Frühjahr 1942 wurden die am Leben Gebliebenen wie Vieh in Waggons getrieben und nach Deutschland abtransportiert.
In Deutschland mussten wir die schwersten Arbeiten leisten: Transportarbeit bei der Eisenbahn und später in einer Flugzeugfabrik. 1943-1945 arbeitete ich im Bergwerk in der Stadt Wanne-Eickel im Ruhrgebiet, ein hungriger und entrechteter Sklave unter der Nummer 2633. Die Nahrung reichte gerade zum Überleben. Mir haben allerdings die deutschen Steiger geholfen. Sie gingen ein großes Risiko ein: Wegen Hilfe für die Kriegsgefangenen hätten sie ins Visier der Gestapo geraten können.
Im Mai 1945 haben uns die Alliierten befreit. […] Dann kamen die sowjetischen Sicherheitsoffiziere. Sie haben uns unser Weiterleben nach der Rückkehr in die UdSSR mit schönen Worten beschrieben. [...] Wir hatten keine Ahnung, was die Sowjetmacht für uns vorbereitet hatte. Das erste, was wir hörten, waren die Worte: "Na, ihr Herrschaften, Verräter und Polizisten, seid ihr angekommen?" Wir haben begriffen, dass wir aus einer Hölle in eine andere geraten waren. Wir wurden zunächst auf die Insel Rügen in der Ostsee verbracht. […] Es begannen Verhöre. Mir wurde freiwillige Arbeit bei den Deutschen zur Last gelegt. Ich sollte […] der Sowjetmacht geschadet haben. Ich sei ein Verräter und Feind des sowjetischen Volkes. Es gab Nachtverhöre. Ich wurde nicht nur einmal zusammengeschlagen. In der Zelle durfte ich nicht schlafen. Es wurde Wasser reingegossen. Es kam ständig ein Wächter mit einem Hund. Ich wurde sowohl physisch als auch moralisch unterdrückt. Nach dem Abschluss dieser "Ermittlung" wurde ich nach dem § 58 Abs. 1b des Strafgesetzbuches zu 15-jährigem Freiheitsentzug sowie zu fünfjährigem Entzug der Bürgerrechte verurteilt. […] Im Dezember 1945 wurden wir in Frankfurt/Oder in Viehwaggons getrieben und nach Workuta gebracht. […] Auf unseren Waggon wurde geschrieben: "Verräter und Volksfeinde!" Das war unser Motto bei der Rückkehr nach Hause. […]

"Ich werde es nie vergessen". Briefe sowjetischer Kriegsgefangener 2004-2006. Hg. vom Verein "KONTAKTE-KOHTAKTbI" e. V., Verein für Kontakte zu Ländern der ehemaligen Sowjetunion in Kooperation mit dem Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst, Ch. Links Verlag – LinksDruck GmbH, Berlin 2007, S.90 ff., Externer Link: www.freitagsbriefe.de

Kooperation und Konfrontation mit den West-Alliierten

Im Rahmen der seit 1941 bestehenden "Anti-Hitler-Koalition" mit Großbritannien und den USA erhielt die Sowjetunion seit 1942 erhebliche Lieferungen an Kriegsmaterial, das bis 1945 den Gegenwert von elf Milliarden Dollar erreichte. Gleichzeitig forderte Stalin von seinen Verbündeten die Eröffnung einer zweiten Front, um die Kriegslast der Sowjetunion auf mehrere Schultern zu verteilen. Auf den Konferenzen der "großen Drei", in Teheran 1943 sowie Jalta und Potsdam 1945, inszenierte er sich als charmanter und entgegenkommender Verhandlungspartner, der allerdings durch die Beschlüsse seines "Parlaments", des Obersten Sowjets, gebunden sei. Zuweilen ließ Stalin seinen Außenminister Molotow den "Buhmann" spielen, der die aggressive Aufteilung Europas und die Einverleibung Ostmitteleuropas bis zur Elbe unter den Einfluss der Sowjetunion zu vertreten hatte, während er selbst den Nachgiebigen mimte. Der britische Premierminister Winston Churchill (1874-1965) war anfangs so beeindruckt, dass er Stalin für sich liebevoll "Uncle Joe" nannte.

Während Stalin 1943 den Alliierten gern den Gefallen tat, die Komintern als Kampfzentrale für den internationalen Kommunismus aufzulösen, schuf er gleichzeitig die Voraussetzungen für die Sowjetisierung halb Europas. Der Übergang von einer Sicherheitspolitik, die einen erneuten Angriff auf die Sowjetunion verhindern sollte, zur Umgestaltung einer "Pufferzone" nach stalinistischem Vorbild war dabei fließend. Dass Stalin eine demokratische Selbstbestimmung der durch die Rote Armee besetzten Gebiete nicht zulassen würde, offenbarte sich auf dem letzten Treffen im Juli/August 1945 in Potsdam, als die Alliierten die Nachkriegsordnung Europas, die Grenzverschiebungen und den "Bevölkerungsaustausch" festschrieben.

Das Hauptanliegen der Konferenzteilnehmer war die Neutralisierung eines aggressiven Deutschlands, das nicht nur seine Gebiete östlich von Oder und Neiße an Polen abtreten musste, sondern unter den vier Siegermächten aufgeteilt wurde. Deren Unvermögen, sich auf eine Zukunft für Deutschland zu einigen, führte 1949 zur Gründung zweier deutscher Staaten. Angefangen von der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands über Polen 1945 bis zur Tschechoslowakei 1948 installierte Stalin mit Hilfe der Staatssicherheit unter dem Schutz der Roten Armee in den ostmitteleuropäischen Ländern nationale Regierungen und Parteien, die vom Politbüro in Moskau gesteuert wurden. Oppositionelle Politiker, bürgerliche Eliten und Andersdenkende wurden deportiert, verhaftet, in Schauprozessen angeklagt oder ermordet, wenn sie nicht fliehen konnten. Staats- und Parteistrukturen wurden nach dem Vorbild Moskaus geschaffen, die Landwirtschaft kollektiviert, die Wirtschaft verstaatlicht, Wissenschaft und Kunst der Ideologie unterworfen. Einzig Jugoslawien, in dem kaum sowjetische Truppen standen, ging unter Josip Broz Tito (1882-1980), der 1948 mit Stalin brach, seinen eigenen, nicht weniger gewalttätigen Weg.

Die Absicht wechselseitiger Unterstützung besiegelten die nunmehr sozialistischen Länder durch die Gründung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) 1949 und den Abschluss eines Verteidigungsbündnisses, des "Warschauer Pakts", 1955.

Der Beginn des Kalten Krieges

Der Konflikt der Alliierten um die künftige Weltordnung bekam mit dem Abwurf der ersten US-Atombombe über Hiroshima am 6. August 1945 eine neue Qualität. Stalin kommentierte: "Hiroshima hat die ganze Welt erschüttert. Das Gleichgewicht ist zerstört." Zwei Lager, die sich feindlich gegenüberstanden, hatten nun auch die Möglichkeit, einander zu vernichten. In der Wissenschaft wurde daher die Ost-West-Konfrontation auch auf die Formel: Ideologie + Bombe = Kalter Krieg gebracht. Allerdings gibt es durchaus kontroverse Thesen zu den Ursachen des Kalten Krieges. Während die einen der Aggressivität der Sowjetunion mit ihrem Anspruch auf die Weltrevolution die Schuld geben, sehen andere die USA in der Verantwortung: Sie habe mit der Atombombe die nach dem Krieg vollkommen ausgeblutete Sowjetunion, die erst 1949 ihre eigene erste Atombombe erfolgreich testete, in die Enge getrieben. Dritte wiederum machen Missverständnisse und Kommunikationsprobleme zwischen den beiden Welten für das Misstrauen und Hochrüsten verantwortlich. Zumindest bis zu Stalins Tod gab es keine um Verständnis bemühte Kommunikation mehr. Im März 1947 erläuterte der US-Präsident Harry S. Truman (1884-1972), was die beiden Lager trennte: "Die eine Lebensweise gründet sich auf den Willen der Mehrheit und zeichnet sich durch freie Einrichtungen, freie Wahlen, Garantie der individuellen Freiheit, Rede- und Religionsfreiheit und Freiheit von politischer Unterdrückung aus. Die zweite Lebensweise gründet sich auf den Willen einer Minderheit, der der Mehrheit aufgezwungen wird. Terror und Unterdrückung, kontrollierte Presse und Rundfunk, fingierte Wahlen und Unterdrückung der persönlichen Freiheiten sind ihre Kennzeichen." Auf sowjetischer Seite antwortete Andrei Schdanow im September 1947: "[…] solange der Krieg andauerte, wagten die reaktionären Kreise Englands und der USA nicht, der Sowjetunion und den demokratischen Ländern mit offenem Visier entgegenzutreten, weil sie sich wohl bewusst waren, dass die Sympathien der Volksmassen in der ganzen Welt ungeteilt auf der Seite der Sowjetunion und der demokratischen Länder waren".

QuellentextDie Zwei-Lager-Theorie

Rede des Sekretärs des ZK der KPdSU, Schdanow, bei der Gründung der Kominform, September 1947
Die als Folge des Krieges eingetretenen grundlegenden Änderungen in der internationalen Lage und in der Lage der einzelnen Länder haben das gesamte politische Weltbild verändert. Es entstand eine neue Gruppierung der politischen Kräfte. Je größer die Periode ist, die uns vom Kriegsende trennt, desto krasser treten zwei Hauptrichtungen in der internationalen Nachkriegspolitik hervor, die der Teilung der in der Weltarena wirkenden politischen Kräfte in zwei Hauptlager entsprechen: das imperialistische und antidemokratische Lager einerseits und das antiimperialistische und demokratische Lager andererseits. Die führende Hauptkraft des imperialistischen Lagers stellen die USA dar. […]
Das Hauptziel des imperialistischen Lagers stellt die Festigung des Imperialismus dar, die Vorbereitung eines neuen imperialistischen Krieges, der Kampf gegen Sozialismus und Demokratie sowie die Unterstützung reaktionärer und antidemokratischer profaschistischer Regimes und Bewegungen. […]
Die antiimperialistischen und antifaschistischen Kräfte stellen das andere Lager dar. Die Grundlage dieses Lagers bilden die UdSSR und die Länder der neuen Demokratie. […]
Das antiimperialistische Lager stützt sich auf die Arbeiterbewegung und auf die demokratische Bewegung in allen Ländern, auf die brüderlichen kommunistischen Parteien in allen Ländern, auf die Kämpfer der nationalen Befreiungsbewegung in den kolonialen und den abhängigen Ländern sowie auf die Hilfe aller fortschrittlichen demokratischen Kräfte, die in jedem Lande vorhanden sind. Das Ziel dieses Lagers ist der Kampf gegen die Gefahr neuer Kriege und gegen die imperialistische Expansion, die Festigung der Demokratie sowie die Ausrottung der Überbleibsel des Faschismus. […]
Bei der Lösung dieser Hauptaufgabe der Nachkriegsperiode fällt der Sowjetunion und ihrer Außenpolitik die führende Rolle zu. Das ergibt sich aus dem Wesen des sozialistischen Sowjetstaates, dem alle aggressiven Ausbeuterregungen zutiefst fremd sind und der daran interessiert ist, möglichst günstige Voraussetzungen zur Durchführung des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft zu schaffen. Eine dieser Voraussetzungen ist der äußere Frieden. […]
Die sowjetische Außenpolitik geht von der Tatsache aus, dass zwei Systeme – der Kapitalismus und der Sozialismus – für eine längere Periode nebeneinander bestehen. […]
Der Übergang des amerikanischen Imperialismus zu einem aggressiven, unverhüllt expansionistischen Kurs nach Beendigung des zweiten Weltkrieges fand seinen Ausdruck sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik der USA. […]
Konkrete Ausdrucksformen der expansionistischen Bestrebungen in den USA stellen gegenwärtig die "Truman-Doktrin" und der "Marshall-Plan" dar. Diese beiden Dokumente sind im Grunde genommen der Ausdruck der gleichen Politik, obwohl sie sich in der Form unterscheiden, in der in beiden Dokumenten ein und derselbe amerikanische Anspruch auf die Versklavung Europas serviert wird. […]

Externer Link: www.cvce.eu/obj/der_shdanow_bericht_22_september_1947-de-914edbc9-abdf-48a6-9c4a-02f3d6627a24.html

Spätstalinismus

Die Jahre 1945 bis 1953 galten lange als graue und trostlose Zeit, da dem erneuten Terror nicht einmal mehr der zur Schau gestellte Enthusiasmus der 1930er-Jahre gegenüberstand. Dennoch lassen sich für Neuerungen erste Aufbrüche und Anzeichen entdecken. Entgegen vieler Voraussagen aus Wissenschaft und Politik war die Sowjetunion im Krieg nicht zusammengebrochen, sondern im Gegenteil gestärkt und mit neuem Selbstbewusstsein aus ihm hervorgegangen. Das betraf nicht nur die Partei- und Staatsführung. Auch die Soldatinnen und Soldaten meinten, ihr Anteil am Sieg müsse sich nun in der Mitgestaltung der Friedenszeit niederschlagen. Auf ihrem Weg nach Westen hatten sie Wohlstand gesehen und hofften nun selbst darauf. Angesichts der religiösen und literarischen Freiheiten, die ihnen während des Krieges gewährt worden waren, glaubten viele Menschen, die Nachkriegszeit werde weitere Reformen bringen. Alle drei Hoffnungen wurden allerdings bald enttäuscht.

Hungers- und Wohnungsnot

Die Nachkriegszeit war in erster Linie von Mangel, Not und Zerstörung geprägt. Die abrückende Wehrmacht hatte nicht nur die Städte, sondern auch die Dörfer und Felder niedergebrannt. Die Lage spitzte sich 1946/47 in Folge einer globalen Dürre zu, die in der Sowjetunion zu der dritten großen Hungersnot nach 1921/22 und 1932/33 führte. Doch während im Westen die Regierungen einiges unternahmen, um die Not ihrer Bevölkerung zu lindern, verheimlichte Stalin auch diese Hungerkatastrophe und tat sie als Werk des "Feindes" ab. Chruschtschow, der um Hilfe für die besonders betroffenen Ukrainer bat, herrschte er an: "Sie sind ein Waschlappen! Die lügen Ihnen die Hucke voll, um an Ihre Sentimentalität zu appellieren. Die wollen Sie mit solchen Berichten doch nur dazu zwingen, die Vorratsreserven verteilen zu lassen." Schätzungen gehen davon aus, dass 1946/47 100 Millionen Menschen an Mangelernährung litten und in den Jahren 1946/47 an die zwei Millionen an Hunger starben. 1947 stabilisierte sich die Lebensmittelversorgung auf niedrigem Niveau, und die Lebensmittelkarten wurden wieder abgeschafft. Die Nahrungsmittelmenge, die 1953 ein durchschnittlicher Sowjetbürger täglich zu sich nahm, bestand aus 500 Gramm Mehl, Graupen und Nudeln, ungefähr genauso viel Kartoffeln und circa 400 Gramm Milchprodukten. Damit aß ein Sowjetmensch nicht mehr, als einem GULag-Häftling zustand. Fleisch war Mangelware und wurde fast ausschließlich an die Großstädte Moskau und Leningrad geliefert.

Das Politbüro hielt auch nach dem Krieg und der Hungersnot an der Kollektivierung fest. Auch in den zuvor von den Deutschen besetzten Gebieten bzw. in den neuen Republiken wurde sie durchgeführt. Um den Widerstand der Bauern zu brechen, deportierte der NKWD bis 1950 rund 200.000 Ukrainer, 140.000 Litauer, 42.000 Letten, 20.000 Esten und 36.000 Moldawier, von denen viele noch beim Transport oder am Bestimmungsort in Sibirien oder Kasachstan umkamen.

Die Lebensbedingungen waren allgemein ärmlich, beengt und entbehrungsreich. In Moskau lebten die Menschen bis in die 1950er-Jahre hinein auf weniger als vier Quadratmetern pro Person; selten hatte eine vier- und mehrköpfige Familie mehr als ein Zimmer zur Verfügung. Außerhalb Moskaus gab es nicht einmal Kanalisation, Wasserleitungen oder Zentralheizung. Dennoch konzentrierte sich die Baupolitik weiterhin auf repräsentative Monumentalbauten. Im Rahmen des 1947 revidierten Generalplans entstanden bis 1957 in Moskau sieben Hochhäuser im "Zuckerbäckerstil" (abwertende Bezeichnung für die als übertrieben monumental und verzierungsreich empfundene Architektur des sowjetischen Klassizismus). Im neoklassizistisch-stalinistischen Baustil wurden auch in anderen sowjetischen Städten repräsentative Wohnblöcke errichtet, die die neuangelegten Prachtstraßen säumten, aber die Wohnungsnot kaum linderten.

Großprojekte zur Umgestaltung der Natur

Der Glaube an den Fortschritt und an die Allmacht der Technik war in der Sowjetunion wie auch in der westlichen Welt ungebrochen. Im Wettlauf mit dem Westen suchten Staat und Partei, die Überlegenheit des Sozialismus durch Erfolge in der Technik zu beweisen. Das Politbüro unter Stalin sorgte nicht nur dafür, dass ausgewählte Wissenschaftler seit 1946 in "geschlossenen", geheimen Städten ideale Arbeitsbedingungen erhielten, um die Atombombe und Raketentechnik zu entwickeln.

QuellentextWiederaufbau

Aus den Erinnerungen des späteren Generalsekretärs der KPdSU, Leonid Breshnew

[…] Es war der heiße Sommer 1946. In jenem Jahr schickte mich die Partei nach Sapaoroshje. […] Der Eindruck war, man muss schon sagen, ziemlich trostlos. Die Faschisten hatten in der Stadt sämtliche 70 Betriebe gesprengt. Als im Werk "Saporoshstal" mit dem Wiederaufbau der Blechstraße begonnen wurde, entdeckten wir an allen Pfeilern der mittleren Reihe den mit roter Farbe aufgemalten Buchstaben "F" (Feuer). Rote Pfeile wiesen auf die Stelle, wo Sprengstoff anzubringen war.
Zudem lag die ganze Stadt in Trümmern. Die Staatliche Kommission hatte berechnet: In Sapaoroshje waren mehr als 1000 große Wohnblocks, 24 Krankenhäuser, 74 Schulen, 2 Hochschulen, 5 Lichtspielhäuser, 239 Läden zerstört worden. Die Stadt war ohne Wasser, ohne Heizung, ohne Strom. Immenser Schaden war auch der Landwirtschaft rings um Sapaoroshje zugefügt worden. [...]
[D]ie Menschen arbeiteten Tag und Nacht, doch insgesamt hat sich mir diese Zeit als etwas Leuchtendes und Freudiges eingeprägt. In Sapaoroshje traf der erste Zug mit Erz aus Kriwoi Rog ein – das war ein Triumph. Der Trocknungsprozess des Hochofens begann – welch eine Freude. Es begann die Erprobung des Windgebläses des Wärmekraftwerks, über den Schrägaufzug krochen die ersten Kippkübel mit der Begichtung aufwärts – das waren wiederum Ereignisse, die für jeden Teilnehmer am Wiederaufbau besondere Bedeutung hatten. [...]
Schließlich brach der lang erwartete, denkwürdige Tag an. Zum letzten Male wurde die Bereitschaft überprüft. Dann erging die Anweisung: "Hochofen anblasen!" Ein Arbeiter drehte den Heißwindschieber, der Obermeister rannte mit brennender Fackel zum gusseisernen Stichloch, im Ofen setzte ein Dröhnen ein, und im gleichen Augenblick heulte am Hauptgebäude des Wärmekraftwerks mit voller Lautstärke die Sirene los und verkündete die zweite Geburt von "Sapaoroshje". Auf dieses Signal hin rannten in der Stadt alle auf die Straße. Unbekannte umarmten sich, weinten vor Freude. Und einen Tag später, am 30. Juni 1947, floss das erste uns allen so kostbare Saporoshje-Roheisen. […]

L. I. Breshnew, Wiedergeburt. In: ders., Auf dem Wege Lenins. Reden und Aufsätze. Bd. 7, Jan. 1978-März 1979, Dietz Verlag Berlin 1980, S. 67-69, 102 f.



Auch Natur und Land sollten umgestaltet und die Überlegenheit des Menschen über die Natur bewiesen werden. Aber auch die Dürre von 1946 spielte eine Rolle für die Verabschiedung des "Stalin-Plans zur Umgestaltung der Natur" im Oktober 1948. Er sah vor, binnen 15 Jahren riesige Waldgürtel entlang der Flüsse im Süden der Sowjetunion anzupflanzen, um das Klima abzukühlen und der Bodenerosion vorzubeugen. Der 1950 beschlossene Plan der "Stalinschen Großbauten des Kommunismus" fasste fünf Kanal-, Wasserkraft- und Staudammbauprojekte zusammen, die wie in den 1930er-Jahren in nie dagewesenen Dimensionen die Wüste bewässern und Sibirien elektrifizieren sollten. Im globalen Machbarkeitsgeist der 1950er-Jahre entwickelten sowjetische Wissenschaftler auch den Plan, die sibirischen Flüsse umzuleiten, um die Steppen in Zentralasien zu begrünen. Während diese Idee auf dem Papier blieb, realisierten sowjetische Ingenieurinnen und Ingenieure, Arbeiterinnen und Arbeiter Großteile der anderen beiden Pläne bis in die 1960er-Jahre hinein und bauten damit, nicht ohne Stolz, ihr Land auf.

Stiljagi und Schdanowschtschina

Nicht nur Kriegsbeute wie ein Fahrrad oder eine Nähmaschine brachte Kunde vom Westen. Das Politbüro beschloss 1948 selbst, Filme aus dem Westen zu zeigen, da die eigene Filmindustrie im Krieg zum Erliegen gekommen war. So wurde "Tarzan" in der Sowjetunion bekannt und Johnny Weissmüller zu einem Star. Auch die BBC und Voice of America strahlten seit 1947 Sendungen in russischer Sprache aus. Westliche Musik und Tänze erlebten einen Boom, und ein kleiner Teil der städtischen Jugend begann, sich nach westlichem Stil zu kleiden. Die "Stiljagi" trugen enge Hosen, bunte Krawatten und Tarzan-Frisuren. Sie benannten die Moskauer Flaniermeile Gorki-Straße in "Broadway" um und trafen sich in Szenecafés zum Cocktailtrinken. Dies war weder eine Massenbewegung noch politischer Protest, aber eine bewusste Provokation in dem Anspruch, ein anderes, nicht den Normen entsprechendes Leben zu führen.

Während die Stiljagi nur Hohn und Spott zu ertragen hatten, ergriff das Politbüro rigide Maßnahmen, bekannt als Schdanowschtschina nach dem Chefideologen Andrei Schdanow (1896-1948), um vermeintliche westliche Einflüsse zu unterbinden. Die Zeitschriften "Swesda" und "Leningrad" wurden 1946 wegen ideologischer Abweichungen verboten. Die Werke der Dichterin Anna Achmatowa (1889-1966) und des Humoristen Michail Soschtschenko (1895-1958) schmähte Schdanow als "vulgär, trivial und kleinbürgerlich", als "antisowjetisches Gift" und "politischen Hooliganismus". Die neue Hysterie richtete sich gegen "Kosmopolitismus", der als "unrussisch" und "unpatriotisch" angegriffen wurde. Es war eine Zeit, in der die Propaganda behauptete, alle entscheidenden Erfindungen der Welt, wie beispielsweise die Glühbirne oder der Dieselmotor, seien einst in Russland gemacht, aber dann vom Ausland gestohlen worden. Slogans wie "Schwatze nicht, der Feind hört mit" suggerierten, dass die Sowjetunion nach wie vor von Spionen durchsetzt sei.

Antisemitismus

Die antiwestliche Kampagne schlug langsam in eine antisemitische Kampagne um. Teils griff das Politbüro auf alte judenfeindliche Stereotypen zurück, teils sah Stalin eine Bedrohung in der Gründung Israels 1948, dessen Botschafterin, Golda Meir (1898-1978), in Moskau von sowjetischen Juden frenetisch gefeiert wurde. Das Jüdische Antifaschistische Komitee, das während des Kriegs wichtige Propagandaarbeit für den sowjetischen Staat geleistet hatte, wurde 1948 aufgelöst und seine Mitglieder Anfang 1949 verhaftet. Seinen Vorsitzenden Solomon Michoe˙ls (1890-1948) ermordete der NKWD 1948 bei einem "Autounfall".

Am 28. Januar 1949 meldete die Prawda die Entlarvung einer "Antipatriotischen Gruppe" von Theaterkritikern. Spätestens jetzt offenbarte sich, obwohl es nie offen ausgesprochen wurde, dass mit "Kosmopoliten" Juden gemeint waren, denn alle Angeklagten waren Juden. Insgesamt wurden 217 Schriftsteller, 108 Schauspieler, 87 Maler und 19 Musiker verhaftet und nach einem Prozess 1952 13 von ihnen hingerichtet.

Offiziell stellte sich die Sowjetunion immer noch als Land der Emanzipation der Juden dar. Tatsächlich war die gesamte Nachkriegszeit von einem latenten Antisemitismus geprägt: 1949 wurden Juden beispielsweise in der gesamten Sowjetunion aus führenden Positionen entlassen. Sie bekamen keine Studienplätze und nur schlechte Arbeitsstellen. Der Höhepunkt dieser antijüdischen Kampagne war die Verhaftung von jüdischen Ärzten. Am 13. Januar 1953 meldete die Prawda, ein Komplott von Ärzten, die Schuld am Tod von Schdanow und anderen Politbürogrößen trügen, sei aufgedeckt worden. Dieser Auftakt zu einer dritten großen Terrorwelle, die wohl ausschließlich Juden getroffen hätte, fand durch Stalins Tod ein jähes Ende; die Ärzte kamen sofort frei.

Die Leningrader Affäre

Die Leningrader Affäre war eine "Disziplinierungsmaßnahme" Stalins gegen eine Parteiführung, die er für zu unabhängig hielt, eine erneute Gewaltlektion für die Mitglieder von Politbüro und ZK, die sich aus Angst, einer Verschwörung beschuldigt zu werden, nicht trauten, sich ohne Stalin zu treffen. Die neun Leningrader Parteiführer wurden 1950 zusammen mit dem Leiter der Staatlichen Planungsbehörde Gosplan in einem geheimen Prozess angeklagt, eine feindliche Gruppierung zum Kampf gegen die Partei gegründet zu haben. Sechs der Angeklagten wurden zum Tode, die anderen zu Lagerhaft verurteilt. Insgesamt ließ Stalin zwischen 1949 und 1952 weitere 214 Personen zum Tode verurteilen und 2000 Leningrader Parteiführer entfernen.

Das Lagersystem in der Kriegs- und Nachkriegszeit

Manuela Putz

Mit dem Krieg hatten sich die Feindkategorien der Bolschewiki und damit auch die Zusammensetzung des Häftlingskontingents verschoben. Die Anzahl der Gefangenen im Lager, die über Kriegs- und Kampferfahrungen verfügten, stieg. Viele der sogenannten Kriegsverbrecher hatten tatsächlich mit den Deutschen in den besetzten Gebieten zusammengearbeitet. Aber nur wenige waren an den deutschen Massenmordaktionen beteiligt gewesen, während die Mehrzahl unter dem Vorwand der Kollaboration denunziert worden war, weil sie ihren Beruf unter den Deutschen weiter ausgeübt hatten.

Seit 1948 wurden mit der Einrichtung von Speziallagern tatsächliche und vermeintliche Staats- und Kriegsverbrecher von Berufskriminellen isoliert. Insbesondere in diesen streng bewachten Speziallagern formierten sich Widerstand und ein Bewusstsein von politischer Haft. Das dem Geist der 1930er-Jahre entsprechende Massenstrafvollzugssystem war trotz zunehmender Reglementierungsversuche der Staatsmacht in der Nachkriegszeit immer schwerer zu beherrschen. Anfang der 1950er-Jahre lebten 2,5 Millionen Menschen in Lagern und begannen, sich mit Aufständen gegen die unhaltbaren Zustände zu wehren. (siehe Karte III)

Stalins Tod

Am 5. März 1953 starb Stalin in Folge eines Schlaganfalls. Seine engste Umgebung lebte so in Angst und Schrecken vor ihm, dass sich niemand traute, nach ihm zu sehen, als er am 1. März nicht zur gewohnten Zeit aufstand. Als seine Haushälterin ihn schließlich regungslos auf dem Boden liegend fand, verständigte die Leibwache die Politbüromitglieder. Erst sie riefen Ärzte, die sich aus Angst vor dem halbseitig Gelähmten kaum trauten, ihn anzufassen.

Das ganze Land war in Trauer um den "geliebten Führer" – so wurde es dargestellt, und so empfanden es viele Menschen, die über drei Jahrzehnte die Propaganda verinnerlicht hatten, dass die Sowjetunion ohne den "weisen Stalin", den "Vater aller Völker", den "genialen Feldherren", den "geliebten Führer" nicht leben könnte. Aber diejenigen, deren Angehörige Stalin hatte ermorden lassen, verbargen auf den offiziellen Trauerfeiern ihre Freude und feierten heimlich Partys. Auf den Straßen Moskaus kam es unter den Massen von Trauernden, die sich von dem im Säulensaal des Gewerkschaftshauses aufgebahrten Stalin verabschieden wollten, zu einer Massenpanik, bei der Hunderte von Menschen, manche sprechen gar von mehreren Tausend Opfern, zu Tode getrampelt wurden

Stalin wurde einbalsamiert neben Lenin ins Mausoleum gelegt. Erst 1961 ließ Chruschtschow ihn während des XXII. Parteitags aus dem Mausoleum entfernen und an der Kremlmauer verscharren.

QuellentextReaktionen auf den Tod Stalins

Rede Wjatscheslaw Molotows auf der Trauerkundgebung auf dem Roten Platz am 9. März 1953 anlässlich Stalins Tod
Teure Genossen und Freunde!
In diesen Tagen erlitten wir alle einen tiefen Schmerz – das Hinscheiden Josef Wissarionowitsch Stalins, den Verlust des großen Führers und gleichzeitig eines uns nahestehenden, geliebten, unendlich teuren Menschen.
Wir, seine alten und nächsten Freunde, Millionen und aber Millionen Sowjetmenschen sowie die Werktätigen in allen Ländern, in der ganzen Welt, nehmen heute Abschied vom Genossen Stalin, den wir alle so liebten, und der immer in unseren Herzen leben wird. […]
Wir können mit Recht stolz darauf sein, dass wir die letzten dreißig Jahre unter der Führung des Genossen Stalin gelebt und gearbeitet haben. Wir sind von Lenin und Stalin erzogen worden. Wir sind Schüler Lenins und Stalins, und wir werden stets dessen eingedenk sein, was uns Stalin bis zuletzt lehrte, denn wir wollen treue und würdige Schüler Lenins, treue und würdige Schüler Stalins sein. […]
Dem Vermächtnis des großen Stalin folgend, gibt uns unsere Partei eine klare Linie für den weiteren Kampf um die große Sache der Errichtung des Kommunismus in unserem Lande. […] Der unsterbliche Name Stalin wird immer in unseren Herzen, in den Herzen des Sowjetvolkes und der gesamten fortschrittlichen Menschheit leben. […]
Es lebe die große, alles besiegende Lehre von Marx, Engels, Lenin, Stalin! Es lebe unsere mächtige, sozialistische Heimat, unser heldenhaftes Sowjetvolk! Es lebe die große Kommunistische Partei der Sowjetunion!

G. M. Malenkow, L. P. Berija, W. M. Molotow, Reden auf der Trauerkundgebung am Tage der Beisetzung von J. W. Stalin auf dem Roten Platz in Moskau, 9. März 1953, Dietz Verlag Berlin 1953, S. 18-23

Der Dissident und spätere Nobelpreisträger Alexander Solschenizyn zum Tod Stalins:
Er ist gestorben, der asiatische Diktator! Abgeschrappt, der Bösewicht! […] Hier aber stehen die Lehrerinnen aus der Schule, russische Mädchen, und schluchzen hemmungslos. "Wie soll’s jetzt mit uns weitergehen?" Ihr Väterchen haben sie verloren […]. Wie schön wäre es, ihnen über den Platz hinweg zuzurufen: "Na und? Dafür wird man eure Eltern nicht mehr erschießen! Eure Verlobten nicht mehr einsperren! Und euch selber niemals als Familienmitglieder holen!"
Ich habe Lust zu johlen […]. Doch weh, die Ströme der Geschichte fließen langsam. Und so setze ich meinem bestens trainierten Gesicht die Grimasse gramvollen Lauschens auf. Einstweilen – verstell dich […] wie gewohnt.

Alexander Solschenizyn, Der Archipel GULAG, Schlussband, übersetzt von Anna Peturnig, © 1976 bei Scherz Verlag Bern/München, S. 423. Der Abdruck erfolgt mit Genehmigung der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.

Die Sowjetunion 1953

Unter Stalin war die Sowjetunion zur Weltmacht aufgestiegen, die im Krieg halb Europa dem eigenen Einflussbereich einverleibt hatte und an deren Existenzfähigkeit und Zukunft niemand mehr zweifelte. Erreicht worden war dies allerdings nicht durch effiziente Führung, optimale Ressourcennutzung und modernes Wirtschaften, sondern mit einer Mischung aus Zwang und Enthusiasmus, durch extensiven Einsatz von Mitteln und Menschen, erkauft vielfach durch die Opfer und Leidensbereitschaft der Bevölkerung. Die Kampagne, die Stoßarbeit und der sozialistische Wettbewerb waren die Basis von Schwerindustrialisierung, Städtebau und Infrastrukturprojekten. Die Anziehungskraft, die die Sowjetunion in den 1930er-Jahren noch auf westliche Arbeiteraktivisten und linke Intellektuelle als Staat des Fortschritts, der Moderne und der Befreiung des Menschen gehabt hatte, verlor sie jedoch weitestgehend mit der Sowjetisierung Ostmitteleuropas, als Zwang und Gewalt an die Stelle des Befreiungsgedankens traten.

Mit Ausnahme der Eliten lebten die Menschen in der Sowjetunion zu Beginn der 1950er-Jahre extrem arm und bedrängt: In den Städten wohnte pro Zimmer eine Familie mit drei Generationen; auf dem Land lebten die Menschen nach wie vor in Holzhäuschen ohne Strom und Kanalisation. Während die Arbeiterinnen und Arbeiter einen geringen Lohn erhielten und die Städte mit dem Wichtigsten versorgt wurden, bekamen die Kolchosangestellten de facto keinen Lohn für ihre Arbeit und mussten sich von ihrem Stück Hofland ernähren. Die Bauernschaft war, angesichts des eigenen Leids und ihrer konstanten Ausbeutung, gegenüber den Parolen und Glaubenssätzen der Bolschewiki weitestgehend immun geblieben. Aber in den Städten und Ballungszentren hatte sich im Denken und Handeln vieler Menschen das stalinistische Weltbild festgesetzt: Danach war die Sowjetunion der beste Staat auf Erden, bürgte für das gerechteste Gesellschaftssystem, wurde vom weisesten Führer regiert, aber gleichzeitig von unzähligen Feinden von innen und außen bedroht.

Prof. Dr. Susanne Schattenberg ist Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Zu ihren Forschungsgebieten gehören der Stalinismus, die Kulturgeschichte der Außenpolitik und die Sowjetunion nach 1953. Aktuell arbeitet sie an einer Breschnew-Biografie.
Kontakt: E-Mail Link: schattenberg@uni-bremen.de

Manuela Putz ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Osteuropa und promoviert an der Universität Bremen zu politischer Haft und oppositionellem Selbstverständnis im Poststalinismus. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Dissens, alternative Literatur und Kunst in der Sowjetunion und der Emigration sowie Erinnerungskulturen im heutigen Russland.