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Cui bono? Agitatoren der verschwörungsideologischen Szene

Pia Lamberty

/ 5 Minuten zu lesen

Die Motive zur Verbreitung von Verschwörungserzählungen sind vielfältig. Individuelle Persönlichkeitsausprägungen können dabei ebenso wirksam werden wie wirtschaftliche Interessen oder politische Ziele. Über die Verbreitung in wenig kontrollierten Kanälen der sozialen Medien rekrutieren extremistische Gruppierungen oder sektenähnliche Bewegungen ihre Anhängerschaft.

Am 29. August 2020 demonstrieren in Berlin Anhänger verschiedener Gruppierungen gegen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in Berlin. Die Demonstrierenden trugen untern anderem das Zeichen der QAnon-Bewegung sowie Reichsflagge und Reichskriegsflaggen. (© picture-alliance, Geisler-Fotopress | Christoph Hardt)

Warum verbreiten Menschen nun eigentlich Fake News und Verschwörungserzählungen? Mit Blick auf die heterogene Szene der Verschwörungsanhängerschaft lassen sich hier unterschiedliche Motivationen vermuten. Zum einen gibt es diejenigen, die selbst an solche Narrative glauben und ihre Version der Wahrheit sichtbar machen wollen. Durch die Verbreitung der entsprechenden Inhalte können sie sich selbst überhöhen und erhalten Reaktionen von anderen.

Daneben gibt es Akteurinnen und Akteure, die versuchen, mit den Ängsten der Menschen Geld zu verdienen. Es wird dann zum Beispiel behauptet, dass der neue Mobilfunkstandard 5G krank mache und dies mit Absicht von der Regierung verheimlicht werde. Wer sich vor dieser angeblichen Gefahr schützen möchte, kann für mehrere hunderte Euro "Entstörer" oder "Harmonisierer" kaufen. Auch sogenannte Prepper-Shops schließen teilweise an solche Narrative an. Hier können sich Menschen mit Notnahrung und "Gefahrenabwehr"-Produkten zu häufig vollkommen überteuerten Preisen vor Blackout (Stromausfall und dessen Folgen beispielsweise für kritische Infrastrukturen) oder anderen Krisen schützen.

Wieder andere verbreiten Verschwörungserzählungen, weil sie dadurch ihre politischen Ziele erreichen wollen. Verschwörungserzählungen sind inhärenter Bestandteil der Ideologie vieler extremistischer Gruppen.

Das Netz der "Alternativen Medien"

Mittlerweile hat sich der Begriff "Alternative Medien" etabliert, um verschwörungsideologische und faktenverzerrende Angebote zu beschreiben. Ursprünglich wurde der Begriff in den 1970er-Jahren genutzt, um eher linke oder linksliberale Alternativen zu den klassischen Medien zu bezeichnen. Die "Alternativen Medien" in aktuellem Verständnis nutzen vor allem soziale Netzwerke zur Verbreitung ihrer Inhalte. Von YouTube-Shows über Telegramkanäle bis hin zu Facebook-Gruppen werden alle Möglichkeiten ausgeschöpft, um die eigenen Inhalte populär zu machen. Dabei hat sich mittlerweile ein Netzwerk aus Agitatoren entwickelt, die sich aufeinander beziehen und damit eine eigene Interpretation der Realität erschaffen.

QuellentextRechtsextremismus in Online-Netzwerken

[…] netzpolitik.org: Gibt es Schnittmengen zwischen radikalen Online-Netzwerken und der "klassischen" rechtsextremen Szene?

Schwarz: Es gibt Berührungspunkte und Verbindungen, die man auch teilweise nachweisen kann. Aber es gibt eben auch lose Gruppierungen oder lose organisierte Plattformen, auf denen dann eher jüngere Leute unterwegs sind. Die haben dann auch eine ganz andere Jugendkultur – wenn man es so nennen will. Teilweise machen die sich auch über alte Rechtsradikale lustig, das gehört da auch schon dazu. […] Inzwischen hat sich das Angebot massiv ausdifferenziert, sodass ganz verschiedene Milieus angesprochen werden.

[…] Die "Protokolle der Weisen von Zion" werden etwa immer wieder in Telegram-Channels verteilt. Aber das ist eher etwas, das hat man auf dem Rechner, auf dem Desktop liegen und bezieht sich vielleicht mal darauf, aber die wenigsten sind da total fest drin und zitieren das die ganze Zeit.

[…] Für jüngere Leute bis Anfang 30, würde ich sagen, sind Memes teilweise viel wichtiger. Die beziehen sich eher auf diese ganzen In-Jokes, die sie sich die ganze Zeit um die Ohren hauen. Das gibt denen das stärkere Gruppengefühl. […]

netzpolitik.org: Welche Rolle spielt der Antifeminismus bei der Radikalisierung?

Schwarz: Das ist ganz klar ein Weg in den Rechtsradikalismus und eine Überschneidung, die es bei vielen rechtsradikalen Bewegungen klar gibt. Antifeminismus ist ein Türöffner, weil er auch in der Mitte der Gesellschaft relativ anschlussfähig ist. Wir sehen ja immer wieder antifeministische Rants [engl.; Anfeindungen] auf den Titelseiten dieser Republik. Viele gerade sehr junge Männer fühlen sich sehr wohl in dieser Rolle und erklären dann zum Beispiel ihre Misserfolge bei Frauen durch den Feminismus. […]

netzpolitik.org: Was für Strategien braucht es aus Deiner Sicht im Kampf gegen Rechtsextremismus online?

Schwarz: Alle müssen etwas tun. […] Justiz und Polizei […] wissen teilweise nicht, wie man mit dem Internet und diesen spezifischen Gruppen umgehen soll. Es fehlt an Aufklärung über rechtsradikale Netzwerke in den Sicherheitsbehörden. Es fehlt an guten und vor allem ausreichend Initiativen und Kapazitäten in der Bildung und genug Zeit für Demokratieförderung. Lehrer sind da immer wieder sehr überfordert. Medien könnten da auch mehr Beiträge leisten. […]

Die Zivilgesellschaft betrifft das natürlich auch. Ich gebe häufig Workshops zum Umgang mit Hass im Netz. Dort frage ich dann immer, wer von den Teilnehmenden schon einmal einen schlimmen Hasskommentar im Netz gesehen und sich davon gestört oder angegriffen gefühlt hat. Da gehen eigentlich immer alle Hände hoch. Und dann frage ich im nächsten Moment, ob jemand in irgendeiner Form reagiert hat, also gemeldet hat oder widersprochen hat – und dann melden sich nur noch ganz wenige Leute. […] Leute verlassen sich quasi da-rauf, dass jemand anderes eingreift. Das kennen wir aus der Forschung: Je mehr Menschen Zeuge eines Unfalls werden oder von einer Straftat, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass Einzelpersonen eingreifen. Und so ist es auch ganz oft im Netz.

Die Journalistin Karolin Schwarz hat sich intensiv mit rechtsextremen Netzwerken beschäftigt und war dort auch undercover unterwegs. Darüber hat sie das Buch "Hasskrieger: Der neue globale Rechtsextremismus" geschrieben.
Externer Link: https://netzpolitik.org/2020/gewaltfantasien-und-rechtsextreme-abgruende-in-online-netzwerken-hasskrieger-karolin-schwarz/#vorschaltbanner; dieses Interview entstammt dem Podcast "Denkangebot", von Katharina Nocun.

Prominente Verschwörungsideologen: Nicht nur seit der Coronavirus-Pandemie sind immer wieder prominente Stimmen dadurch aufgefallen, dass sie Verschwörungserzählungen verbreiten. Der US-amerikanische Rapper B. o. B postete schon 2016 auf Twitter, dass die Erde eigentlich flach sei. B. o. B hat allein auf Twitter zwei Millionen Follower (Stand Juli 2020). In seinem Song "Flatline" von 2016 textete er, Stalin sei angeblich schlimmer gewesen als Hitler, und forderte seine Fans auf, sich darüber näher bei dem Holocaustleugner David Irving zu informieren. Der US-Präsident müsse eine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, tragen.

Auch der US-amerikanische Rapper Kanye West verbreitet immer wieder Verschwörungserzählungen: AIDS sei seiner Meinung nach absichtlich von Menschen gemacht, und Impfungen gegen COVID-19 würden genutzt, um Chips in Menschen zu implementieren.

Auch in Deutschland sind insbesondere während der Coronavirus-Pandemie verschiedene Prominente dadurch aufgefallen, dass sie falsche oder verschwörungsideologische Inhalte verbreiteten.

In der Hip-Hop-Szene gibt es regelmäßig Skandale, weil Rapperinnen und Rapper Verschwörungsgeschichten oder antisemitische Aussagen in ihren Texten verarbeiten. Das wirft die Frage auf, ob Prominente eher anfällig für Verschwörungserzählungen sind. Aktuell gibt es keine Forschung dazu, die hier genauere Auskünfte geben könnte. Ob Prominente vielleicht schon immer "ein bisschen ‚extrem‘ " waren, ihnen die Aufmerksamkeit fehlte oder die Verbreitung von solchen Thesen auch einfach lukrativ für sie ist, lässt sich schwer von außen feststellen.

Unabhängig davon, ob Prominente nun anfälliger sind für Verschwörungserzählungen oder nicht, hat die Verbreitung durch diese Menschen Konsequenzen. Sie haben oft eine große Reichweite und verfügen über ein gewisses Vertrauenspotenzial bei ihrer Anhängerschaft. Wenn sie verschwörungsideologische Inhalte posten, werden diese tausendfach geteilt. Die australischen Wissenschaftler Axel Burns und Timothy Graham haben genau das untersucht. In ihrer Studie "'Like a Virus' – Disinformation in the Age of COVID 19" von 2020 haben sie herausgefunden, dass Verschwörungserzählungen insbesondere dann populär werden, wenn Menschen mit großen Social Media-Accounts die Fehlinformationen aufgreifen und verbreiten.

Darüber hinaus vereinen Prominente oft eine heterogenere Gruppe unter sich als es beispielsweise politische Parteien tun. Dadurch können sie auch Menschen mit ihren Thesen erreichen, die vorher vielleicht damit keine oder nur wenige Berührungspunkte hatten.

QuellentextQAnon – Verschwörung selbst gestrickt

[…] Die Verhaltensökonomie hat 2009 den sogenannten IKEA-Effekt entdeckt. Dabei halten Menschen ein Möbelstück für wertvoller und besser, wenn sie selbst daran mitgebaut haben. Sie sind dann auch bereit, über offensichtliche Mängel hinwegzusehen. […]

Der IKEA-Effekt beruht unter anderem auf dem psychologischen Mechanismus der Aufwandsrechtfertigung: Wer viel Energie in eine Angelegenheit steckt, will, dass die Entscheidung richtig und gut war.

Das Internet ist […] wie geschaffen für die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien. Aber die gesamte QAnon-Erzählung ist vor allem mithilfe des IKEA-Effekts perfekt auf Überzeugung in sozialen Medien zugeschnitten. […]

Ein verschwörungsgläubiger Interviewpartner formuliert das Patentrezept von QAnon sogar selbst, bezeichnenderweise im direkten Unterschied zu klassischen Medien: "Im Fernsehen oder bei verschiedenen anderen Berichterstattungen kriegst Du eine Meinung. Fertig … eine Meinung wird dir reingetrichtert ... bei Q, da werden dir Fragen gestellt. Er sagt zu dir, stell dir diese Fragen und schau selber im Internet nach."

Diese eigene Rechercheleistung, oft nicht mehr als ein paar Google-Suchen oder YouTube-Stöbereien, ist das Erfolgsgeheimnis von QAnon. Noch immer unterschätzen wir die gesellschaftliche Wirkmacht, die von den ersten zehn Google-Ergebnissen ausgeht. Im zweiten Schritt können alle an der großen QAnon-Ideologie mitstricken. Weil Logik und Konsistenz keine Rolle spielen, lässt sich jede Verschwörungstheorie ganz leicht unter das Dach der QAnon-Ideologie bringen.

Viele bekannte Seiten der Bewegung bezeichnen ihre Tätigkeit als "Forschung", dort werden immer wieder Fragen gestellt und von den Nutzern selbst beantwortet. Die Anhänger sind überzeugt, sich das Verschwörungswissen selbst zu erarbeiten, das macht QAnon so wertvoll für sie. Deshalb grenzen sie sich so heftig von "vorgefertigten Meinungen", dem "Mainstream" und schnöde konsumierten, klassischen Medien ab. Die Vermutung anhand vermeintlicher Puzzle-Stückchen erlaubt allen, selbst kreativ tätig zu werden und am großen QAnon-Werk mitzustricken. Das Zitat einer Behauptung gilt dabei bereits als Beweis. Die Bereitschaft, wirklich jede Phantasie (und fast jede Meinung) als legitim und potenziell wahr zu akzeptieren, wird zu Offenheit und Toleranz umgedeutet.

Es geht bei QAnon darum […], dass Verschwörungserzählungen auch dann wirken, wenn man sie nicht vollumfänglich für bare Münze nimmt. Denn sie säen Zweifel – selbst bei denen, die es eigentlich besser wissen müssten. Es mag sich ja aberwitzig anhören, aber was, wenn doch ein Körnchen Wahrheit …?

Mit solchen Fragen sinkt die Bereitschaft, gefährlichem Unfug zu widersprechen. Und gegen das Korrektiv redaktioneller Medien haben sich die QAnon-Anhänger von Beginn an immunisiert. […]

Sascha Lobo, "Verschwörungs-Ideologie zum Mitmachen", in: Der Spiegel vom 5. August 2020

International vernetzt – QAnon: Eine Gruppierung, die in Deutschland dank prominenter Verbreiter insbesondere seit der Coronavirus-Pandemie größere Bekanntheit erlangt hat, ist QAnon. Den Anfang nahm die Gruppierung im Oktober 2017, als ein Account mit dem Namen "Q clearance patriot" einen Beitrag mit dem Titel "Calm Before the Storm" ("Ruhe vor dem Sturm") auf dem Imageboard "4chan" postete. Der Name "Q" sollte darauf hindeuten, dass es sich um eine Person mit der Sicherheitseinstufung "Q clearance" handele. Diese Sicherheitsstufe, die vom US-amerikanischen Energieministerium vergeben wird, entspricht einer Einstufung durch das US-Verteidigungsministerium als top secret. Q-Posts sind meist sehr kryptisch und vage. Es geht oft um die Annahme von einen "Deep State", einen tiefen Staat, der angeblich versuche, die USA zu beherrschen. Fachleute bewerten diese Gruppierung immer mehr als Sekte oder Kult. Anders als andere Verschwörungserzählungen beziehen sich Q-Posts nicht auf einzelne Ereignisse, sondern werden zu einer Art Welterklärung, die immer wieder auch antisemitischen Gehalt hat. Gerade dadurch, dass die Anhängerschaft von Q aus den kryptischen Posts selbst ihre eigene Verschwörungserzählung erschafft, wirkt sie auf viele noch einmal überzeugender.

Was für viele erst einmal abstrus klingen mag, kann gefährliche Konsequenzen haben. Es gab in den USA bereits mehrere Fälle von Straf- und Gewalttaten in Namen von "QAnon". Bereits 2019 warnte auch die Abteilung Terrorismusabwehr der US-amerikanischen Bundespolizei FBI davor, dass insbesondere QAnon-Verschwörungserzählungen genutzt werden können, um Gewalt zu legimitieren. Dass es sich hier in den USA nicht um eine kleine Gruppe handelt, zeigen auch die Umfragen: Laut einer Studie von September 2020 glaubte mehr als die Hälfte der Wählerschaft der Republikaner, dass an der QAnon-Verschwörungserzählung etwas dran sei.

Verschwörungsideologen machen nicht vor Ländergrenzen Halt. Gerade durch die starke digitale Vernetzung der Szene finden sich mittlerweile weltweit Anhängerinnen und Anhänger von QAnon. Auch in Deutschland sollte diese Gefahr nicht unterschätzt werden. Im Juni 2020 drohte ein Mann auf YouTube der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern, weil er ihnen vorwarf, an einer Kindesentführung beteiligt zu sein. Auf den Demonstrationen gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen sieht man immer wieder Bezüge zu diesem Phänomen. Der deutschsprachige Telegram-Kanal der QAnon-Anhänger hat beinahe 125.000 Mitglieder (Stand September 2020).

Pia Lamberty ist Doktorandin am Lehrstuhl Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verschwörungsmentalität und Verschwörungsglauben, Kognitive Verzerrungen, Psychologische Reaktionen auf Terrorismus und Repräsentationen von Geschichte und Intergruppenbeziehungen. Zum Thema Verschwörungsmythen, auch in Hinblick auf deren Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, hat sie schon verschiedene Veröffentlichungen vorgelegt. Darunter zuletzt 2020 gemeinsam mit Katharina Nocun: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.