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Die Coronavirus-Pandemie als Nährboden für Verschwörungserzählungen

Pia Lamberty

/ 5 Minuten zu lesen

Mit dem Rückzug ins Private im Zuge der Coronavirus-Pandemie wuchs die Bedeutung der sozialen Medien weiter an. Während einige Messengerdienste sich um die Eindämmung von Verschwörungserzählungen und Falschinformationen bemühten, erwiesen sich andere als Radikalisierungsbeschleuniger und Quelle gesundheitsgefährdender Ansichten.

Demonstration gegen die Behördenauflagen zur Eindämmung der Coronavirus- Pandemie in Berlin am 29. August 2020 (© picture-alliance, Reuters / Axel Schmidt)

Pandemien und andere gesellschaftliche Krisen verstärken das, was sowieso in der Gesellschaft vorhanden ist – im Guten wie im Schlechten. Allgemein kann man sagen: Verschwörungserzählungen blühen vor allem in Krisenzeiten – das ist kein neues Phänomen. In solchen Zeiten haben – wie oben bereits erwähnt – viele Menschen das Gefühl, allem ausgeliefert zu sein und keine Kontrolle mehr zu haben.

Verschwörungserzählungen sprechen genau diese Gefühle an. Es zeigte sich an verschiedenen Punkten in der Geschichte, dass Krisen ein perfekter Nährboden für den Verschwörungsglauben waren – auch in Bezug auf Krankheitsausbrüche.

QuellentextWas bewegt Menschen zum Protest gegen Anti-Corona-Maßnahmen?

Frau Becker, am Wochenende demonstrierten 38.000 Menschen in Berlin gegen die Corona-Maßnahmen, es kam zu teils gewaltsamen Ausschreitungen, eine Gruppe wollte sogar den Reichstag stürmen. Warum sind so viele Menschen so wütend?

Das ist gar nicht so überraschend, schließlich leben wir seit Monaten mit Restriktionen, von denen einige immer noch bestehen. Es wäre sogar erstaunlich gewesen, wenn es keinen Unmut gegeben hätte.
Das Interessante bei den Protestierenden ist, dass es eine sehr heterogene Gruppe ist: Da sind Querdenker*innen, Verschwörungsanhänger*innen, Impfgegner*innen, Esoteriker*innen und Rechtsextreme. Was sie eint, ist die Wut auf die aktuelle Politik, sie haben kein Verständnis für "die da oben". Dazu kommen dann Individualismus und Egoismus. Diese Menschen werden wütend, sobald man sie in ihrer Freiheit einschränkt. […] Sie glauben: Meine Gruppe kann Berge versetzen – oder sogar die Regierung stürzen.

Wie passen denn diese Menschen zusammen, wenn die Esoterikerin mit dem Wort "Liebe" auf der Stirn neben dem gewaltbereiten Neonazi herläuft? Wird die Bewegung bald wieder zerfallen?

Momentan ist der Sog der Gruppe sehr stark, aber sie hat durchaus ihre Widersprüche. Man sah am Wochenende etwa viele Rechtsextreme, im Nachhinein distanzierte sich der Querdenken-Gründer Michael Ballweg von den Ausschreitungen in Berlin.

Eigentlich hat die Querdenken-Bewegung den Anspruch unpolitisch zu sein. […] Andererseits wollen sie die Regierung abschaffen, sind also durchaus politisch. Interessanterweise haben sie keine konstruktive Alternative für die aktuelle Regierung. Auf Dauer wird sich die Bewegung deutlich von rechts abgrenzen müssen und als kleinere Bewegung weitermachen müssen. Oder die rechten Kräfte radikalisieren die Bewegung – was sehr gefährlich wäre.

Die Einschränkungen müssen alle Bürger hinnehmen. Was treibt genau diese Menschen auf die Straße?

Während der Pandemie hatten wir mit dem Präventionsparadox zu kämpfen, der Erfolg der Maßnahmen hat ihre Notwendigkeit infrage gestellt. Deswegen ist es so schwer zu vermitteln, dass die Einschränkungen notwendig waren und sind.

Die Protestteilnehmer sind aber auch aus persönlichen Gründen immun gegen Argumente: Wir finden dort Menschen, die ich jetzt mal als "libertäre Egoisten" bezeichne, die ihre eigene Freiheit über die Bedürfnisse anderer Menschen stellen.

Unsere Daten zeigen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Bereitschaft, an den Protesten gegen die Restriktionen teilzunehmen und Sozialdarwinismus gibt, also dem Gedanken, dass nur die Stärkeren ein Recht auf das Überleben haben. Sie stimmen stärker der Einstellung zu, dass etwa ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen durchaus an Covid-19 sterben dürften.

Sind es also eher individuelle Gründe, die Menschen anfällig machen für diese Bewegung?

Wir stellen auf jeden Fall fest, dass es bestimmte Persönlichkeitsmerkmale gibt, die bei den Protestierenden gehäuft auftreten. Dazu gehören auch […] ein hohes Misstrauen anderen Menschen und Institutionen gegenüber und der Glaube, dass man angelogen wird und nichts von sich selbst preisgeben darf […] [und] auch, dass der Zweck die Mittel heiligt. Das könnte den starken Widerstand und die Gewaltbereitschaft erklären.

Narzissmus spielt ebenfalls eine Rolle, also das Gefühl, man sei etwas Besonderes und die allgemeinen Regeln gelten nicht für einen selbst. Narzissten sind besonders anfällig für Verschwörungserzählungen, denn diese bestätigen den Verdacht, dass sie selbst in der Lage sind, die Wahrheit zu erkennen, während der Rest der Gesellschaft im Dunklen tappt.

[…] Ich würde aber nicht sagen, dass es primär individuelle Gründe sind. Menschen können Kontrollverlust wiedererlangen, wenn sie sich Gruppen anschließen und eine neue soziale Identität als Corona-Rebellin entwickeln. Außerdem spielen auch Ideologien eine wichtige Rolle.

Welche Rolle spielten denn der Lockdown und die soziale Isolation – sehnen sich die Menschen wieder nach kollektiven Erlebnissen?

Der Lockdown spielte auf jeden Fall eine große Rolle. Das war der Zeitpunkt der stärksten Freiheitseinschränkung. Manche Menschen waren monatelang alleine zu Hause, Familien mussten im Homeoffice noch auf Kinder aufpassen.

Die waren bei dem Protest auch vertreten. Es ist nur menschlich und verständlich, dass man sich nach Menschen sehnt und erschöpft ist. […]

Tragen Soziale Medien zu solchen Radikalisierungsbewegungen bei?

[…] [Die] Sozialen Medien verstärken […] den Reflex, immer nur Informationen zu suchen, die unsere Weltsicht bestätigen.

Außerdem zeigt die Forschung, dass Menschen Gruppendiskussionen mit Gleichgesinnten radikaler verlassen, weil ihre Meinung bestätigt und damit ihr Selbstwert bestätigt wurde. Kommentarspalten ermöglichen genau solche Gruppendiskussionen.

Müssen wir als Gesellschaft etwas an Schule und Erziehung ändern, damit Menschen später im Leben weniger anfällig sind für die Persönlichkeitsmerkmale, die anfällig machen für Verschwörungstheorien und Eskalation?

Diese Persönlichkeitsmerkmale sind immer auf einem Kontinuum, nicht jeder Mensch mit einer narzisstischen Tendenz hat gleich eine Persönlichkeitsstörung und wird radikal.

Aber wir können unseren Kindern zum Beispiel beibringen, dass man anderen Menschen und Institutionen vertrauen darf. Sicherlich ist auch kritisches Hinterfragen sehr wichtig, aber es ist gut, wenn Kinder lernen, dass man nicht permanent misstrauisch und auf der Hut sein muss. Außerdem ist es wichtig, dass Kinder einerseits gesehen, gehört und unterstützt werden, andererseits aber nicht zum Mittelpunkt der Welt erklärt werden, denn das fördert Narzissmus.

Ich finde aber, wir müssen auch etwas auf gesellschaftlicher Ebene tun. Viele Demonstrierende haben das Gefühl, sie hätten die Kontrolle verloren und dürften nicht mehr mitbestimmen.

Wir leben in einer Gesellschaft, die leider nicht fair und gerecht ist. Es ist klar, dass die Menschen, die weiter unten in der Hierarchie stehen, sich ungerecht behandelt fühlen. Deswegen müssen wir auch an einer faireren und sozial gerechteren Gesellschaft arbeiten.

Julia Becker ist seit 2013 Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Osnabrück.
Nantke Garrelts, "Narzissmus spielt auch eine Rolle". Interview mit Julia Becker, in: Tagesspiegel vom 1. September 2020

Verbreitung von Verschwörungserzählungen zu Corona

Wie sehr ist aber der Verschwörungsglaube zum Thema Corona nun in der Gesellschaft verbreitet? Dazu gab es seit Beginn der Pandemie verschiedene Studien. Im März und April 2020 erforschte ein Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der Universität Bielefeld in einer Online-Studie die "gesellschaftliche Wahrnehmung des Umgangs mit der Corona-Pandemie in Deutschland". Das Ergebnis: Knapp ein Viertel der Befragten (24 %) stimmte der Aussage zu, dass Medien und Politik gezielt bestimmte Informationen während der Corona-Krise verschweigen würden. Acht Prozent meinten, dass es geheime Organisationen gäbe, die während der Corona-Krise großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben. Ihre Studie zeigte auch, dass der Verschwörungsglaube während der Erhebung und damit im Verlauf der Pandemie anstieg.

Im April und Mai 2020 befasste sich das Forschungsteam vom German COVID-19 Snapshot Monitoring (COSMO) auch mit dem Thema Verschwörungsdenken. Sie erfassten, inwiefern Menschen glaubten, dass es sich bei Corona um einen Schwindel handele (Zustimmung zur Aussage: "Das Virus wird absichtlich als gefährlich dargestellt, um die Öffentlichkeit in die Irre zu führen") oder dass das Virus menschengemacht sei (Zustimmung zur Aussage: "Corona wurde absichtlich in die Welt gebracht, um die Bevölkerungsanzahl zu reduzieren"). Die Ergebnisse zeigten, dass jeweils 17 Prozent der Befragten diesen zwei gegensätzlichen Annahmen zustimmten. Die Forscherinnen und Forscher fanden aber auch heraus, dass es Schnittmengen gab: Neun Prozent der Befragten glaubten an beide Verschwörungserzählungen.

Eine internationale, repräsentative Studie, die von der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit im Sommer 2020 in Auftrag gegeben wurde, hat sich mit der Verbreitung von Verschwörungserzählungen zu Corona in sieben verschiedenen Ländern beschäftigt. Ein Viertel aller deutschen Befragten meinte, das Coronavirus sei in einem chinesischen Labor gezüchtet worden. 13 Prozent glaubten sogar, dass es sich beim Coronavirus um eine chinesische Biowaffe handele. Ein Viertel der Deutschen vermutete, dass Microsoft-Gründer Bill Gates mehr Macht als die deutsche Regierung habe und 16 Prozent gaben sich überzeugt, dass er zur Bekämpfung des Coronavirus Menschen Mikrochips einpflanzen wolle.

Verbreitung des Verschwörungsglaubens während Corona. Quelle: Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Juli 2020; Externer Link: www.freiheit.org/freedomfightsfake-globale-studie-desinformationen-durchdringen-gesellschaften-weltweit

Digitale Verbreitung von Verschwörungserzählungen

Während der ersten Hochphase der Pandemie verschob sich das soziale Leben mehr oder weniger komplett ins Digitale. Die verschiedenen Plattformen wie Facebook, Twitter, WhatsApp & Co wurden so verstärkt zur Option für das soziale Miteinander – und damit auch zum Vehikel von Verschwörungserzählungen.

Viele Netzwerke versuchten, dem etwas entgegenzusetzen und verstärkt gegen Fake News vorzugehen. Facebook gab zum Beispiel an, dass es bei Beiträgen mit falschen Informationen deren Reichweite verringern und Warnhinweise anzeigen werde. WhatsApp schränkte nach einer Reihe von Falschmeldungen und Kettenbriefen die Weiterleitung von Sprachnachrichten ein. Twitter entschied sich, falsche Informationen zu löschen oder klare Fehlinformationen mit Warnhinweisen zu versehen. Wer also beispielsweise zu "Corona" und "5G" twittert, erhält automatisch die Information, dass es keinen Zusammenhang zwischen 5G und Corona gibt.

Vermutlich auch deshalb verlagerten sich viele Aktivitäten auf den Messengerdienst Telegram. Er zählt – wie auch beispielsweise WhatsApp oder Signal – zu den Dark Social. Nach Aussage der Berliner Amadeu Antonio Stiftung, die es sich zur Aufgabe macht, eine demokratische Zivilgesellschaft zu stärken und sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus zu wenden, kommt der Begriff aus dem Marketing und beschreibt Verbreitungswege im Internet, die nicht oder nur teilweise öffentlich sind. Telegram selbst reguliert die Inhalte kaum. Daher nutzen beispielsweise auch politische Aktivistinnen und Aktivisten, die in ihren Heimatländern verfolgt werden, den Kanal für sich.

Es gibt aber eben auch Schattenseiten. Telegram stand schon länger in der Kritik, da über die Plattform bis 2019 auch die Terrorgruppe Islamischer Staat sowie Rechtsextreme aus den USA ihre Mitglieder mobilisierten und radikalisierten. Nachdem über Telegram mehrere Monate ohne Regulation viel Hetze verbreitet wurde, entschied sich die Plattform im Juli 2020, zahlreiche Kanäle zu löschen.

Konsequenzen des Verschwörungsglaubens während der Pandemie

Verschiedene Studien kommen zu dem Ergebnis, dass das Verschwörungsdenken auch dazu beiträgt, wie Menschen sich verhalten, um die Pandemie einzudämmen. Wer also glaubt, dass die Pandemie ein Schwindel sei, spielt damit die tatsächliche Gefahr herunter. Dementsprechend ist es vielleicht wenig verwunderlich, dass diese Menschen seltener Gesichtsmasken tragen oder Social Distancing betreiben.

Die Stimmungsmache gegen Gesichtsmasken wird in einschlägigen Gruppen systematisch nach außen getragen. So wurde auf Telegram gezielt dazu aufgerufen, digitale Abstimmungen zu manipulieren, um ein negativeres Bild zur Akzeptanz der Maskenpflicht zu erzeugen. Laut Recherchen des ARD-Politikmagazins Report Mainz gibt es sogar eine Ärzte-Initiative, die Atteste gegen die Maskenpflicht ausstellt.
In den USA starb ein 30-jähriger Mann an den Folgen von COVID-19, nachdem er an einer sogenannten COVID-Party teilgenommen hatte. Er hatte vorher auf sozialen Netzwerken gelesen, dass die Pandemie ein Schwindel sei.

Darüber hinaus kann man davon ausgehen, dass Menschen mit ausgeprägter Verschwörungsmentalität auch eher alternative Heilansätze suchen und weniger geneigt sind, Empfehlungen der Schulmedizin zu folgen. Auch finden sich online massenweise medizinische Falschinformationen über das Virus, die teilweise gefährliche Konsequenzen haben können. Verschiedene Stellen verbreiten zum Beispiel, dass Natriumchlorit oder MMS ("Miracle Mineral Supplement"), wie es in manchen Kreisen genannt wird, gegen das Virus und andere Erkrankungen wie AIDS, Hepatitis oder Krebs helfen könne.

Bereits 2019 wurde von der Verbraucherzentrale vor den "gefährlichen und möglicherweise lebensbedrohlichen Nebenwirkungen von MMS" gewarnt. Mit solchen Ansätzen gefährden Menschen nicht nur potenziell sich selbst, sondern auch andere, wenn sie aufgrund eines gesteigerten Misstrauens gegenüber Medizin und Gesundheitswesen offizielle Empfehlungen in den Wind schlagen.
Verschwörungserzählungen besitzen seit jeher auch das Potenzial, wie oben beschrieben, Antisemitismus und Rassismus zu befeuern. Im Frühjahr 2020 kam es deutschlandweit zu verschiedenen Protesten gegen die staatlichen Anti-Corona-Maßnahmen. In vielen Städten gab es antisemitische oder geschichtsrevisionistische Aussagen oder Darstellungen im Rahmen der Kundgebungen. Immer wieder wurden auch antisemitische Übergriffe oder Beleidigungen im Kontext der Pandemie gemeldet. Rassismus war während der Pandemie ebenfalls immer wieder stärker sichtbar. Gerade Menschen, die als ostasiatisch wahrgenommen wurden, wurden rassistisch beleidigt und für den Ausbruch von COVID-19 verantwortlich gemacht.

Pia Lamberty ist Doktorandin am Lehrstuhl Sozial- und Rechtspsychologie der Universität Mainz. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Verschwörungsmentalität und Verschwörungsglauben, Kognitive Verzerrungen, Psychologische Reaktionen auf Terrorismus und Repräsentationen von Geschichte und Intergruppenbeziehungen. Zum Thema Verschwörungsmythen, auch in Hinblick auf deren Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, hat sie schon verschiedene Veröffentlichungen vorgelegt. Darunter zuletzt 2020 gemeinsam mit Katharina Nocun: Fake Facts. Wie Verschwörungstheorien unser Denken bestimmen.