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Vor 50 Jahren: Willy Brandt stellt die Vertrauensfrage | Hintergrund aktuell | bpb.de

Vor 50 Jahren: Willy Brandt stellt die Vertrauensfrage

Redaktion

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Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik stellte Bundeskanzler Willy Brandt am 20. September 1972 die Vertrauensfrage. Hintergrund war die schwindende Zustimmung der Abgeordneten für seine Ostpolitik. Brandt wollte die Abstimmung absichtlich verlieren, um Neuwahlen herbeizuführen.

Bundeskanzler Willy Brandt stellte am 20. September 1972 im Bundestag die Vertrauensfrage. Die Abstimmung fand zwei Tage später statt. (© Bundesregierung, B 145 Bild-00046207, Foto: Engelbert Reineke)

Am 22. September 1972 verlor die sozial-liberale Koalition von Bundeskanzler Willy Brandt das Vertrauen des Parlaments: 248 Abgeordnete votierten in einer Vertrauensabstimmung gegen den Kanzler, nur 233 sprachen Brandt ihr Vertrauen aus.

Das Ergebnis war allerdings gewünscht: Brandt hatte das Instrument der Interner Link: Vertrauensfrage bewusst eingesetzt, um Neuwahlen herbeizuführen. Er wollte auf diesem Wege die Patt-Situation auflösen, in der sich der Deutsche Bundestag zu diesem Zeitpunkt befand. Aufgrund der Interner Link: umstrittenen Ostpolitik des Kanzlers waren immer mehr Parlamentarier der SPD und FDP aus Protest zur CDU/CSU-Fraktion gewechselt, sodass die Opposition und die Regierungsfraktion (SPD/FDP) schließlich gleich viele Sitze im Parlament hatten. Dies hatte zur Folge, dass sich Brandt nun nicht mehr auf eine Regierungsmehrheit im Parlament stützen und die Opposition wichtige Gesetzesvorhaben blockieren konnte.

Ostpolitik

Die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt schloss eine Reihe von Völkerrechtsverträgen mit der DDR und anderen Staaten in Osteuropa ab, die auf eine Entspannung des Ost-West-Konflikts abzielten. Das Vier-Mächte-Abkommen über Berlin von 1971 bedeutete de facto eine staatsrechtliche Anerkennung der DDR. Gleichzeitig garantierte es den bundesdeutschen Bürgern einen ungehinderten Transitverkehr nach Berlin (West). In den Verträgen mit der Sowjetunion und Polen 1970 und der Tschechoslowakei 1973 verzichtete die Bundesrepublik auf alle Gebietsansprüche. Insbesondere die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als Westgrenze Polens stieß seitens der CDU/CSU-Opposition, aber auch innerhalb der Regierungsparteien SPD und FDP auf Kritik.

Umstritten: Brandts Vertrauensfrage

Brandts Vertrauensfrage galt damals als umstritten, da sie bewusst die Auflösung des Parlaments zum Ziel hat. Kritik kam von der Opposition, aber auch aus den eigenen Reihen und von Verfassungsrechtlern: Eine absichtlich verlorene Vertrauensfrage widerspreche dem Geist des Grundgesetzes, so die Kritik. Laut Interner Link: Artikel 68 GG kann der Bundeskanzler dem Parlament die Vertrauensfrage stellen, um sich zu versichern, dass die Parlamentarier hinter seiner Politik stehen. Erreicht er nicht die erforderliche Zustimmung (einfache Mehrheit der Stimmen), kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers innerhalb von 21 Tagen den Bundestag auflösen. Brandt hätte auch einen anderen Weg wählen können: seinen Rücktritt. Er setzte jedoch bewusst auf Neuwahlen, um die Bürgerinnen und Bürger über seine Politik abstimmen zu lassen. "Die eigentliche Vertrauensfrage wird an den Souverän, also an den mündigen Wahlbürger zu richten sein", erklärte Brandt seine Intention. Um den Erfolg seines Vorhabens sicherzustellen, enthielten sich bei der anschließenden Vertrauensabstimmung bis auf den damaligen Bundesarbeitsminister Walter Arendt alle Kabinettsmitglieder der sozial-liberalen Koalition der Stimme.

Konstruktives Misstrauensvotum gegen Brandt

Nur wenige Monate zuvor hatte Oppositionsführer Rainer Barzel (CDU/CSU) im April 1972 versucht, den Kanzler in einem Misstrauensvotum zu stürzen. Dieses Instrument steht dem Parlament zur Verfügung, um dem Kanzler und seinem Kabinett das Misstrauen auszusprechen und diese abzusetzen (Interner Link: Artikel 67 des Grundgesetzes). Im Vergleich zu anderen parlamentarischen Demokratien kommt in Deutschland eine Besonderheit hinzu – weshalb auch vom konstruktiven Misstrauensvotum die Rede ist: Die Abgeordneten können nur dann ihr Misstrauen aussprechen, wenn sie zugleich einen Nachfolger bestimmen. Erreicht dieser bei der anschließenden Abstimmung im Bundestag die Mehrheit, entlässt der Bundespräsident die Regierung und ernennt den neuen Kanzler oder die neue Kanzlerin. Dadurch soll garantiert werden, dass eine Regierung handlungsfähig bleibt. Im Falle Barzels strebte dieser selbst das Amt des Kanzlers an. Das Vorhaben scheiterte allerdings, da die CDU/CSU entgegen allen Erwartungen die notwendige Mehrheit im Bundestag nicht aufbrachte – zwei Stimmen hatten gefehlt. Nach der Wende enthüllte der frühere DDR-Spionagechef Markus Wolff, den CDU-Abgeordneten Julius Steiner mit der Zahlung von 50.000 DM bestochen zu haben, damit dieser seine Stimme beim Misstrauensvotum enthielt. Erst 2006 ergaben sich Hinweise aus der Auswertung geheimer Stasi-Akten, dass auch der frühere CSU-Abgeordnete Leo Wagner Geld für seine Stimme erhalten haben soll, Magazine wie Der Spiegel und Cicero berichteten. Wagner wurde in den Akten als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi geführt.

Rekordwahlbeteiligung bei den Neuwahlen im November 1972

Brandts gescheiterte Vertrauensfrage hingegen war erfolgreich: Bei den Neuwahlen am 19. November 1972 erzielte die Interner Link: SPD mit 45,8 Prozent – ihr bisher bestes Ergebnis – und auch die FDP ging gestärkt aus den Wahlen hervor (8,4 Prozent). 91,1 Prozent der Wähler gingen damals an die Wahlurnen – bis heute eine Rekordwahlbeteiligung. Damit war Brandts Plan aufgegangen. Die neue sozial-liberale Koalition konnte sich fortan auf eine komfortable Regierungsmehrheit im Parlament stützen. Am 14. Dezember 1972 wurde Brandt im Bundestag zum zweiten Mal zum Kanzler gewählt.

Fünf Vertrauensfragen in der Geschichte des Deutschen Bundestages

Knapp zehn Jahre später stellte Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) am 3. Februar 1982 die Vertrauensfrage erneut und gewann deutlich. Der Kanzler scheiterte jedoch wenige Monate später an einem konstruktiven Misstrauensvotum des Bundestages im Oktober 1982. Neuer Regierungschef einer schwarz-gelben Regierungskoalition wird Interner Link: Helmut Kohl (CDU). Nur wenige Wochen nach seinem Amtsantritt nutzte Kohl wie schon zuvor Brandt das Instrument der Vertrauensfrage im Dezember 1982, um auf diese Weise Neuwahlen zu ermöglichen.

2001 musste das Parlament erneut über eine Vertrauensfrage abstimmen, diesmal wurde sie von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) gestellt. Erstmals in der Geschichte des Bundestages knüpfte Schröder das Vertrauen der Parlamentarier an eine Sachfrage. Es ging um die von der Bundesregierung geplante Interner Link: Entsendung deutscher Streitkräfte nach Afghanistan im Rahmen der Operation "Enduring Freedom". Das Parlament sprach Schröder das Vertrauen aus und damit auch dem von ihm geplanten Einsatz. 2005 beantragte Schröder erneut eine Vertrauensabstimmung, um Neuwahlen zu erzwingen. Hintergrund waren die von seiner Regierung initiierten Arbeitsmarktreformen ("Hartz-IV"-Reformen), die nicht nur in der Bevölkerung unpopulär waren, sondern auch die eigene Partei vor eine Zerreißprobe stellten. Schröder verlor die Vertrauensfrage – im Gegensatz zu seinen Vorgängern allerdings auch die anschließenden Neuwahlen. Angela Merkel löste Schröder in seinem Amt ab. Die Kanzlerin nutzte das Instrument der Vertrauensfrage in ihrer Amtszeit von 2005 bis 2021 nicht.

Dies ist eine aktualisierte Fassung des Texts aus dem Jahr 2012.

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