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Parlamentswahlen in Großbritannien 2015 | Hintergrund aktuell | bpb.de

Parlamentswahlen in Großbritannien 2015

Nicolai von Ondarza

/ 4 Minuten zu lesen

Bei den Unterhauswahlen in Großbritannien am 7. Mai 2015 entscheiden die Briten auch über die zukünftige EU-Strategie des Landes. Denn aus europäischer Perspektive unterscheiden sich Premierminister David Cameron von der Konservativen Partei und sein Herausforderer, Ed Miliband von der Labour-Partei, vor allem in der Frage, ob sie ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen wollen.

Innenansicht des britischen Unterhauses. Am 07. Mai 2015 finden in Großbritannien Parlamentswahlen statt. Danach entscheidet sich, wie die Sitze im Unterhaus künftig verteilt sein werden. (© picture alliance/Arcaid)

Alle großen Umfrageinstitute sind sich einig – die britischen Parlamentswahlen sind so unvorhersehbar wie noch nie. Trotz des britischen Mehrheitswahlrechts, das eigentlich stabile Mehrheiten garantieren soll, können nach 2010 auch 2015 weder die konservativen Tories noch die sozialdemokratische Labour Party mit einer absoluten Mehrheit rechnen.

Derzeit regiert in Großbritannien eine Koalition aus Tories unter David Cameron, die als stärkste Kraft aus der letzten Wahl hervorging, und den Liberaldemokraten unter Nick Clegg. Die konservative Partei will dieses Mal vor allem mit dem wirtschaftlichen Aufschwung punkten. Großbritannien hat zuletzt die höchsten Wachstumsraten unter den G7 sowie eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in Europa vorweisen können. Die Labour Party und ihr Spitzenkandidat Ed Miliband hingegen werfen der Regierung vor, das weiterhin hohe Haushaltsdefizit nicht ausreichend reduziert und bei den Kürzungen Geringverdiener sowie das Gesundheitssystem zu stark belastet zu haben.

Die kleineren Parteien setzen andere Themen: Die Liberaldemokraten haben als Koalitionspartner ihren Status als Protestpartei verloren. In einigen Externer Link: aktuellen Umfragen (April 2015) erreichen sie weniger als 10 Prozent der Stimmen, bei den letzten Wahlen hatten sie noch 23 Prozent errungen. Um dem drohenden Absturz entgegenzuwirken, wollen sie sich als Partei der Mitte positionieren. Chancen auf mehrere Abgeordnete haben jedoch erstmals auch die britischen Grünen (bisher eine Abgeordnete) und die UK Independence Party (UKIP, bisher zwei Abgeordnete), die vor allem auf den EU-Austritt drängt. Deutlich Zulauf bekommen haben zuletzt Regionalparteien, insbesondere die Scottish National Party (SNP).

Infografiken zur Unterhauswahl

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Europapolitische Richtungswahl

Ein zentrales Streitthema ist schon länger gesetzt: Schon 2013 hat David Cameron versprochen, im Falle seiner Wiederwahl bis 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU abzuhalten. Bis dahin will er den Status Großbritanniens in der EU neu aushandeln. Wird er als Premier wiedergewählt, muss sich die EU also auf harte Verhandlungen einstellen – und vor allem auf eine bis zu zwei Jahre währende Unsicherheit über die Zukunft Großbritanniens in der EU. Cameron, der an sich einen Verbleib Großbritanniens in der EU befürwortet, wird nicht zuletzt seine eigene Partei von den Vorzügen der EU-Mitgliedschaft überzeugen müssen: Eine lautstarke Minderheit von knapp 100 Tory-Abgeordneten fordert den EU-Austritt.

Ed Miliband hingegen befürchtet, dass die Unsicherheit über Großbritanniens Stellung in der EU der britischen Wirtschaft schadet. Er will der EU gegenüber wieder einen positiveren Ton einschlagen. Zwar wird Labour weiterhin an klassischen britischen Positionen in der Europapolitik festhalten, etwa dem Interner Link: Britenrabatt im EU-Haushalt, das Fernbleiben von der Eurozone oder die Skepsis gegen weitere Integrationsschritte. Dennoch wird der Ausgang der Unterhauswahl direkt über die zukünftige EU-Strategie Großbritanniens entscheiden.

Die UK Independence Party als psychologischer Faktor

Paradoxerweise ist das Thema Europa trotzdem ein Elitenthema in Großbritannien geblieben. Nicht nur ergeben Umfragen zuletzt, dass eine klare Mehrheit der Briten für den Verbleib in der EU stimmen würde. Vor allem aber findet sich die EU-Mitgliedschaft noch nicht mal unter den zehn für die Bürger wichtigsten Themen. Thema Nummer Eins ist die Migration, insbesondere auch aus der EU. Hier ist es UKIP gelungen, die EU-Freizügigkeit und die damit verbundene Arbeitsmigration für soziale und wirtschaftliche Probleme im Land verantwortlich zu machen.

Für die eigentliche Regierungsbildung wird UKIP aller Voraussicht nach bei dieser Wahl jedoch nur eine untergeordnete Rolle spielen. So ist die Partei in Umfragen von Spitzenwerten bis zu 20 Prozent wieder auf knapp 10 Prozent gefallen. Vor allem aber hat die Partei, anders als die Scottish National Party (SNP), keine regionalen Hochburgen. Wegen des britischen relativen Mehrheitswahlrechts kann UKIP daher selbst bei gutem Abschneiden von 15 oder mehr Prozent auf nicht mehr als eine Handvoll Sitze hoffen, bei 10 Prozent der Stimmen könnte sie sogar ohne einen einzigen Sitz im Parlament dastehen.

Dennoch kann das Abschneiden von UKIP aus psychologischer Perspektive weitreichende Folgen haben. Ein Zuspruch von mehr als 10 Prozent dürfte die Partei endgültig im politischen Mainstream Großbritanniens etablieren und damit den Druck auf den nächsten Premierminister aufrechterhalten, in europapolitischen Fragen Härte zu zeigen.

Die Parteien und ihre Kandidaten

Die Parteien und ihre Kandidaten

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Politisches Erdbeben in Schottland erwartet

Das eigentliche, systemändernde politische Erdbeben hingegen wird in Schottland erwartet. Zwar hat die SNP im September 2014 knapp das Referendum über die Abspaltung vom Vereinigten Königreich verloren. Sie konnte aber in der Referendumskampagne breite Bevölkerungsschichten in Schottland hinter sich bringen und sich gleichzeitig als Gegenentwurf zur Westminster-Elite etablieren.

In Umfragen steht die SNP in Schottland nun bei mehr als 45 Prozent. Im gesamten Vereinigten Königreich macht das angesichts des niedrigen Bevölkerungsanteils Schottlands weniger als 5 Prozent der Wähler aus. Damit liegt die SNP deutlich hinter den Liberaldemokraten, UKIP oder den britischen Grünen. Wegen der regionalen Konzentration kann die SNP aber laut Umfragen von bisher 6 auf mehr als 40, bei gutem Erfolg sogar mehr als 50 der 59 schottischen Sitze hoffen. Damit würde sie Labour empfindlich schwächen, die bisher den Großteil der schottischen Sitze innehat, und in der Regierungsbildung zu einem entscheidenden Faktor werden.

Ausblick – eine heiße Verhandlungsphase nach den Wahlen möglich

In dieser Gemengelange werden komplexe Verhandlungen nach den Wahlen erwartet. Nach aktuellen Umfragen hätte selbst die aktuelle Koalition aus Liberaldemokraten und Konservativen keine eigene Mehrheit, während Labour auch zusammen mit den Liberaldemokraten nur eine Minderheitsregierung unter Tolerierung der SNP bilden könnte.

Für diese schwierige Regierungsbildung haben die Briten sich einen engen Zeitplan gesetzt. In ihrem politischen System, das auf absolute Mehrheiten ausgerichtet ist, soll schon Ende Mai oder Anfang Juni die "Queen’s Speech" stattfinden, in der die neue Regierung ihre Pläne verkünden lässt. Bis dahin muss eine Mehrheit gefunden werden, ansonsten drohen Neuwahlen. Das Ergebnis der Unterhauswahlen und die nachfolgenden Verhandlungen entscheiden darüber, ob Großbritannien in naher Zukunft über einen EU-Austritt abstimmen wird.

Unterhauswahlen 2015

Was wird gewählt?

In Großbritannien wird am 7. Mai das Unterhaus neu gewählt, eine der beiden Kammern des britischen Parlaments, welche „House of Commons“ oder „Lower House“ genannt wird. Die Bürgerinnen und Bürger Großbritanniens wählen bei den Unterhauswahlen insgesamt 650 Parlamentsabgeordnete (Members of Parliament, MPs). Diese entscheiden über die Gesetzgebung und den Staatshaushalt.

Wer darf wählen?

Wahlberechtigt sind alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger Großbritanniens und Nordirlands oder in Großbritannien lebende Staatsbürger/-innen aus dem Commonwealth, die mindestens 18 Jahre alt sind. Jede Wählerin und jeder Wähler hat eine Stimme für eine Kandidatin oder einen Kandidaten im Wahlkreis.

Wie wird gewählt?

Die Abgeordneten werden in 650 Einzelwahlkreisen gewählt. In Großbritannien gilt ein relatives Mehrheitswahlrecht. Das bedeutet, dass die Kandidatin oder der Kandidat eines Wahlbezirkes, die oder der die meisten Stimmen bekommt, ins Parlament einzieht. Alle für andere Kandidat(inn)en abgegebenen Stimmen verfallen und haben keinen Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse im Parlament.

Hung Parliament

Seit Mitte der 1970er Jahre löst sich das klassische Zweiparteiensystem aus Labour Party und Conservative Party immer stärker auf; die Zustimmung zu den beiden großen Parteien schwindet. Bei den letzten Unterhauswahlen 2010 erreichten sie zusammen noch zwei Drittel der Stimmen und keine Partei eine absolute Mehrheit. Ein solches Parlament, in dem keine Partei mehr als die Hälfte der Abgeordneten stellt, wird als „hung parliament“ bezeichnet. Das heißt, Sozialdemokraten oder Konservative können nur eine Regierung bilden und Gesetze erlassen, wenn sie dafür genug Stimmen von Abgeordneten aus anderen Parteien bekommen. Dadurch gewinnen kleinere Parteien an Einfluss, deren Stimmen für das Zustandekommen bestimmter Gesetzesvorhaben entscheidend sein können. Nach aktuellen Wahlprognosen wird es bei den Unterhauswahlen 2015 erneut zu einem „hung parliament“ kommen.

Zweikammersystem

Das Parlament in Großbritannien besteht aus zwei unabhängigen Kammern, dem Unterhaus und dem Oberhaus. Im Gegensatz zum Unterhaus wird das Oberhaus oder „House of Lords“ nicht durch eine allgemeine Wahl bestimmt. Seine Mitglieder werden vom Premierminister vorgeschlagen und durch die Königin ernannt. Das Oberhaus besteht aus 778 Mitgliedern, die meisten davon Adlige auf Lebenszeit („Life Peers“). Ihre Hauptaufgabe ist es, die im Unterhaus verabschiedeten Gesetze zu kontrollieren.

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Dr. Nicolai von Ondarza ist stellvertretender Leiter der Forschungsgruppe EU/Europa bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Schwerpunkte des Politikwissenschaftlers sind unter anderem die Themen Großbritannien, EU-Institutionen und Grundsatzfragen europäischer Integration.