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"Die humanitäre Lage in Afghanistan ist eine Katastrophe" | Hintergrund aktuell | bpb.de

"Die humanitäre Lage in Afghanistan ist eine Katastrophe" Interview

Conrad Schetter

/ 6 Minuten zu lesen

Der Afghanistan-Experte Conrad Schetter spricht im Interview über den Sinn von Sanktionen gegen die Taliban und warum der Westen aus seiner Sicht trotz fehlender Frauenrechte weiterhin humanitäre Hilfe an den Hindukusch schicken sollte.

Frauen, Kinder und Babys, die an Unterernährung leiden, warten in einer Klinik des Welternährungsprogramms (WFP) in der afghanischen Hauptstadt Kabul auf Hilfe und Untersuchungen. (© picture-alliance/AP)

bpb.de: Im August 2021 übernahmen die Taliban im Eiltempo die Macht in Afghanistan. Wie stabil ist ihre Herrschaft eineinhalb Jahre später, in einem Land, das als kaum kontrollierbar gilt?

Conrad Schetter: Das ist sehr schwer einzuschätzen. Klar ist: Es existiert keine nennenswerte Opposition, die in der Lage wäre, die Macht der Taliban zu brechen. Es gibt allerdings in Afghanistan Reste des Interner Link: Islamischen Staats, der in dieser Region seit einigen Jahren sehr aktiv ist. Der IS ist deutlich extremer einzustufen als die Taliban. Immer wieder verüben dessen Anhänger Anschläge in dem Land, vor allem gegen Schiiten. Es gibt jedoch keine äußeren Gegner, die in der Lage wären, die Taliban zu stürzen. Die Frage ist dennoch, inwieweit die Einheit der Taliban dauerhaft aufrechterhalten werden kann. Denn es gibt deutliche Risse innerhalb dieser Bewegung zwischen moderateren und extremeren Kräften. Bislang sitzt die Bewegung gleichwohl fest im Sattel.

Die Taliban setzen zum Machterhalt auf Gewalt und Repression, aber auch den Kampf gegen Korruption. Wie groß ist der Rückhalt in der Bevölkerung?

Die Machtübernahme durch die Taliban hat gezeigt, dass der Großteil der Bevölkerung den viele Jahre lang andauernden Krieg einfach satt hatte. Die Menschen wollten, dass die Waffen schweigen. Und dieses Versprechen haben die Taliban eingelöst. Die Taliban haben ein Staatsverständnis, das sich vor allem auf drei Bereiche konzentriert: Erstens wollen sie Sicherheit und Ordnung herstellen. Eine zweite Säule ist die Rechtsprechung. Und die dritte ist das Eintreiben von Steuern. Für Wohlfahrt ist dagegen im Staatsverständnis der Taliban kein Platz. Auf dem Land kommen deshalb all jene Afghanen, die in der Lage sind, sich selbst zu ernähren, mit der Talibanherrschaft zurecht. In den Städten ist das Missfallen über die Taliban weitaus größer. Denn dort sind vielen Menschen Werte wie Freiheit deutlich wichtiger als weiten Teilen der Landbevölkerung.

Zitat

"Die Lage der Menschenrechte verschlechtert sich Schritt für Schritt."

Conrad Schetter

Viele Experten warnten 2021, dass sich nach der Machtübernahme der Taliban die Menschenrechtssituation dauerhaft verschlechtern würde. Andere hofften, die Taliban seien nun gemäßigter. Wer behielt recht?

Beides trifft zu. Die Lage der Menschenrechte verschlechtert sich Schritt für Schritt, aber nicht in ganz so radikalen Schritten wie in den 1990er-Jahren. Wir haben nach wie vor neben ausländischen auch afghanische Journalisten, die aus dem Land heraus berichten. Letztere unterziehen sich allerdings einer Selbstzensur. Bei den Verstößen gegen die Frauenrechte ist die Situation zwar ähnlich wie in den 1990er-Jahren. Allerdings präsentieren sich die Taliban nicht ganz so martialisch und gewalttätig auf wie damals. Das Auftreten der Taliban ist daher moderater, aber im Kern lassen sich viele massive Einschränkungen der Menschenrechte, die bereits in den 1990er-Jahren zu beobachten waren, erneut feststellen.

Wie steht es um die Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln? Das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR hat jüngst vor einer massiven Hungersnot in Afghanistan gewarnt. Bereits heute seien vor allem Kinder und Schwangere oder stillende Mütter unterernährt. Wie ernst ist die humanitäre Situation?

Die humanitäre Lage in Afghanistan ist eine Katastrophe. Das Land hat mehrere Jahre Dürren hinter sich. Aufgrund der internationalen Sanktionen ist die Wirtschaft des Landes zum Erliegen gekommen. Schätzungen zufolge leben 97 Prozent der Menschen in dem Land unter der Armutsgrenze. Der Großteil der Bevölkerung ist direkt von humanitärer Hilfe abhängig. Wenn diese Hilfen wegfielen, würde eine dramatische Hungersnot drohen.

Nach dem verhängten Beschäftigungsverbot für Frauen und dem Schulverbot für Mädchen sind viele Hilfsorganisationen derzeit nicht direkt in Afghanistan aktiv. Auch Regierungsvertreter mehrerer EU-Staaten wie Deutschland erwägen, die Hilfen einzustellen, um Druck auf die Taliban in dieser Frage aufzubauen. Die richtige Strategie?

Viele Hilfsorganisationen sind nach wie vor in Afghanistan, haben jedoch ihre Hilfsprogramme ausgesetzt. Sie warten ab, wie sich die internationale Gebergemeinschaft weiter verhält. Das Problem ist komplex. Es gibt immer noch viele Organisationen, die weiter Hilfe leisten wollen. Aber ohne die Beteiligung von Frauen kann nicht geholfen werden. Denn Männer dürfen Frauen nach den Gesetzen der Taliban vor Ort nicht einfach Hilfsgüter überreichen.

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"Frauen werden in der afghanischen Gesellschaft nicht gesehen. Sie haben kein öffentliches Gesicht."

Conrad Schetter

Frauen und Mädchen werden von den Taliban massiv unterdrückt. Wie kann unter den gegebenen Umständen eine tragfähige Hilfe für Frauen aussehen?

Frauen werden in der afghanischen Gesellschaft nicht gesehen. Sie haben kein öffentliches Gesicht. Die Taliban agieren bei der Diskriminierung von Frauen rein ideologisch. Sie lassen in diesem Punkt mit sich kaum verhandeln. Sie wollen schlicht ihre Auslegung einer islamischen Gesellschaftsordnung in Afghanistan ohne Kompromisse etablieren. Es gibt innerhalb der Taliban allerdings auch einige Akteure, die hinter vorgehaltener Hand die Frauenpolitik der Taliban kritisieren. Der Schlüssel für eine Veränderung bei der Frauenpolitik liegt letztlich innerhalb der Taliban-Bewegung. Es müssen Mitglieder der Taliban sein, die hier etwas bewegen. Der Glaube, dass direkter internationaler Druck, die Taliban in dieser Frage zu einem Umdenken bewegen könne, hat bislang nicht gefruchtet.

Setzen sich die afghanischen Frauen gegen ihre Unterdrückung auch selbst zur Wehr?

Anders als etwa im Iran gibt es in Afghanistan keine nennenswerten Proteste gegen die Unterdrückung der Frauen. Die Gesellschaftsstrukturen sind weitaus traditioneller als im Iran. Die Proteste, die es vor allem kurz nach der Machtübernahme auch in Kabul gab, sind weitgehend verstummt, da die Taliban diese rigoros unterdrückt haben. Die Frauen haben kaum eine Möglichkeit aufzubegehren. Zudem entspricht das Rollenbild, das die Taliban den Frauen auferlegen, demjenigen, das auch in weiten Teilen Afghanistans gelebt wird – vor allem auf dem Land.

Die UN fordern Deutschland dringend auf, weiter humanitäre Hilfe zu leisten. Doch wie soll das gehen, ohne den Taliban in die Hände zu spielen?

Die humanitäre Hilfe für Afghanistan muss unbedingt aufrechterhalten werden. Das humanitäre Gebot, Menschen in Not zu helfen, ist zentral für das weltweite Miteinander. Die Taliban werden zwar auch von den Hilfen profitieren. Denn es ist das Dilemma einer jeden humanitären Hilfe, dass diese auch den Mächtigen in einem Land zugutekommt. Wichtig ist allerdings, dass die internationalen Unterstützungsmaßnahmen über die Vereinten Nationen und deren Unterorganisationen laufen. So kann der Gewinn, den die Taliban daraus ziehen, möglichst geringgehalten werden.

Welche Rolle könnte und sollte die Diplomatie im Umgang mit Afghanistan spielen?

Afghanistan beschäftigt uns seit einigen Jahrzehnten. Und dies wird auch in Zukunft so bleiben Der Westen kann sich nicht einfach von dem Land abwenden. Das liegt nicht zuletzt daran, dass Afghanistan in einer geopolitisch hochsensiblen Region mit einigen Atommächten, wie den Nachbarn Pakistan und Indien, liegt. Zudem gibt es in der Region viele Konfliktherde, die destabilisierend wirken können. Der Diplomatie kommt eine zentrale Rolle zu, um die oftmals untereinander verfeindeten Regierungen einzubinden – so etwa Pakistan.

Aber wie realistisch ist es, dass Pakistan positiven Einfluss auf die Taliban nimmt, sodass diese künftig einen gemäßigteren Kurs verfolgen? Zwar ist das Land mit dem Westen verbündet – doch es gibt auch dort starke islamistische Tendenzen.

Die Taliban haben sich einerseits von Pakistan emanzipiert. Sie sind nicht mehr die Marionetten Islamabads, sondern verfolgen ihre eigene Politik. Ableger der Taliban verüben in Pakistan schon länger Attentate. Für das Land sind die Taliban wie die Natter, die man an der Brust genährt hat. Sie sind für die Regierung in Islamabad also ein Problem. Anderseits wissen beide Seiten, dass die Taliban wirtschaftlich und logistisch noch immer auf Pakistan angewiesen sind. Daher sind es Länder wie Pakistan, aber auch andere mit den Taliban verbundene Länder wie Saudi-Arabien oder Katar, die auf die politischen Positionen der Taliban Einfluss nehmen können. Wer von außen etwas in Afghanistan verändern will, sollte am ehesten über diese drei Länder gehen.

Damit sich eine Gesellschaft von innen heraus verändert, ist eine starke Zivilgesellschaft von großer Bedeutung. Was kann die internationale Staatengemeinschaft tun, um diese in Afghanistan zu stärken?

Nach den Geschehnissen von 2021 haben viele zivilgesellschaftliche Organisationen das Land verlassen oder sind ganz eingegangen. Es ist zentral, dass die zivilgesellschaftlichen Strukturen, die es insbesondere in den Städten noch gibt, erhalten bleiben. Sich hier zu engagieren, hat die internationale Staatengemeinschaft in den vergangenen eineinhalb Jahren versäumt. Hier muss sie dringend nachbessern. Denn dort lässt sich mit wenig Geld viel bewegen.

Das Gespräch wurde am 21. Februar 2023 für bpb.de geführt.

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Prof. Dr. Conrad Schetter ist Friedens- und Konfliktforscher mit regionalem Schwerpunkt Südasien, Zentralasien und Ostafrika. Seit 2013 ist er Director des Externer Link: Bonn International Centre for Conflict Studies.