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NATO-Norderweiterung: Der Beitritt Finnlands

Redaktion

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Finnland ist am 4. April der NATO beigetreten. Das Verteidigungsbündnis umfasst jetzt 31 Staaten. Die Aufnahme Schwedens steht noch aus – scheitert jedoch weiterhin an der Blockade der Türkei und Ungarn.

Der NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nimmt die Beitrittsurkunde des finnischen Außenministers Pekka Haavisto (links) entgegen. Das Treffen der NATO-Außenminister und -ministerinnen findet im NATO-Hauptquartier in Brüssel statt, Dienstag, 4. April 2023. (© picture-alliance, ASSOCIATED PRESS | Johanna Geron)

Die russische Invasion in die Ukraine hat in vielen europäischen Ländern zu einer Neuausrichtung der Sicherheitspolitik geführt – so auch in Finnland und Schweden, die eine lange Tradition der militärischen Bündnisneutralität pflegten. Beide Staaten intensivierten im Zuge des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine aber ihre Kooperation mit der Interner Link: NATO und stellten Beitrittsanträge. Seit Anfang April ist Finnland NATO-Mitglied. Schwedens Beitritt wird derzeit noch von der Türkei und Ungarn blockiert.

Die zwei EU-Mitgliedsstaaten sind neben dem Baltikum besonders von der angespannten Sicherheitslage in Europa und dem Ostseeraum betroffen. Finnland ist mit einer gemeinsamen Grenze von etwa 1.300 Kilometern Nachbarstaat Russlands.

Chronologien der NATO-Beitritte

Am 17. und 18. Mai 2022 hatten Finnland und Schweden Anträge auf Mitgliedschaft in der NATO gestellt. Obwohl beide Staaten die Beitrittskriterien erfüllten, verzögerte sich das Aufnahmeverfahren trotz der angespannten sicherheitspolitischen Lage. Zwar befürworteten die meisten anderen NATO-Staaten den Beitritt. Doch Entscheidungen innerhalb der NATO müssen, in einer sogenannten konsensualen Entscheidungsfindung, einstimmig getroffen werden.

Die NATO und ihre Entscheidungsfindung

Gegründet wurde der Nordatlantik-Pakt (North Atlantic Treaty Organization, NATO) im Jahr 1949 durch zwölf europäische und nordamerikanische Staaten. Als System kollektiver Verteidigung richtete sich das Bündnis gegen die Sowjetunion. Diese stellte mit ihren Expansionsbestrebungen insbesondere für die europäischen Staaten eine unmittelbare Bedrohung dar und trat vor dem Hintergrund des sich anbahnenden Kalten Krieges in eine direkte Konkurrenz mit den USA um die politische und wirtschaftliche Vormachtstellung in der Welt. In den 1990er-Jahren wurde der Ansatz der kollektiven Sicherheit für die Allianz zu einem bestimmenden Merkmal und außerdem zur Grundlage für die Osterweiterung der NATO. Systeme kollektiver Sicherheit wirken nicht nur nach außen, sondern auch nach innen und befrieden die Beziehungen der Mitglieder untereinander. Aktuell hat die NATO 31 Mitglieder, darunter die USA, Türkei, Großbritannien und Deutschland (Stand 26.04.2023).

Entscheidungen werden bei der NATO im Konsens getroffen – alle Mitgliedsstaaten müssen einverstanden sein. Statt abzustimmen, wird bei möglichen Streitpunkten so lange verhandelt, bis eine für alle Beteiligten akzeptable Lösung gefunden ist. Wenn ein Beschluss zustande kommt, drückt er den "kollektiven Willen" aller Mitgliedsländer der NATO aus. Umgekehrt heißt das auch, dass jedes Mitgliedsland die Möglichkeit hat, mit einem Veto Beschlüsse zu verhindern.

Die Beitrittsprotokolle wurden am 5. Juli 2022 unterschrieben. Bis zum 27. September 2022 hatten Externer Link: insgesamt 28 der damals 30 NATO-Staaten den Beitritt Finnlands und Schwedens ratifiziert. Die Türkei und Ungarn jedoch machten Bedenken geltend, insbesondere gegenüber dem Beitritt Schwedens. Erst am 27. März 2023 ratifizierte das ungarische Parlament das Beitrittsprotokoll für Finnland, am 30. März 2023 folgte die Türkei. Am 4. April 2023 trat Finnland offiziell der NATO bei. Die finnische Bevölkerung stand einen NATO-Beitritt lange Zeit skeptisch gegenüber. Das änderte sich mit dem Interner Link: Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine : Im April 2022 sprachen sich Externer Link: in einer Umfrage 68 Prozent der Bürgerinnen und Bürger für einen NATO-Beitritt aus.

Ende der militärischen Neutralität Finnlands

Das Verhältnis von Russland und Finnland ist von historischen Ereignissen geprägt, wie der russischen Eingliederung Finnlands im Jahr 1809 als Großfürstentum, die durch Finnlands Proklamation der Unabhängigkeit 1917, Interner Link: nach der Oktoberrevolution, endete. Oder auch durch militärische Auseinandersetzungen im Zweiten Weltkrieg, wie im sogenannten Winterkrieg 1939/40, nachdem die Sowjetunion Finnland angriff.

Seit Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Finnland eine Politik der militärischen Neutralität verfolgt. Die finnische Außenpolitik folgte der Paasikiv-Kekkonen-Linie, benannt nach den damaligen Staatspräsidenten Juho Kusti Paasikiv (1946-1956) und Urho Kekkonen (1956-1981). Diese zielte auf eine Stabilisierung der Beziehungen zur Sowjetunion ab. 1948 schlossen Finnland und die Sowjetunionen ein Abkommen, das unter anderem eine gegenseitige Verteidigungsklausel enthielt und es Finnland untersagte, einem Bündnis beizutreten, die der Sowjetunion feindlich gegenüberstand. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 kündigte Finnland das Abkommen.

Im Jahr 1995 trat Finnland der Europäischen Union (EU) bei. Damit ist Finnland auch Teil der gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik. Bereits seit 1994 nahm das Land an Externer Link: "Partnership for Peace" teil, einem NATO-Programm, das auf die militärische Zusammenarbeit mit Ländern setzt, die keine Mitgliedsstaaten sind.

Derzeit umfasst Finnlands Armee mehr als 20.000 Soldatinnen und Soldaten, das im Verteidigungsfall aber um etwa 900.000 Reservistinnen und Reservisten ergänzt werden kann. Das Heer verfügt über etwa 100 Kampfpanzer vom Typ Leopard 2A6, 100 weitere Exemplare des Leopard 2A4 sollen nach Informationen des International Institutes for Strategic Studies (IISS) eingelagert sein.

Reaktionen Russlands

Für Russland ergibt sich aus dem NATO-Beitritt Finnlands eine neue sicherheitspolitische Konstellation: Bisher hatte das Land eine gemeinsame Grenze von etwa 1.000 Kilometern mit NATO-Staaten – entlang der Grenzen von Polen, Estland, Lettland und Litauen sowie, ganz im Norden der skandinavischen Halbinsel, mit Norwegen. Seit dem 4. April ist die Grenze mehr als doppelt so lang, die Zufahrt nach Sankt Petersburg über den Finnischen Meerbusen wird von Norden und Süden nun durch NATO-Länder begrenzt.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow nannte den ersten Schritt der NATO-Norderweiterung einen "Angriff auf unsere Sicherheit und die nationalen Interessen Russlands". NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bewertete den Beitritt Finnlands als Schritt in Richtung einer verbesserten nordischen Sicherheit und einer Bereicherung für die NATO insgesamt. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz begrüßte den NATO-Beitritt Finnlands: Dies sei ein "Gewinn für die transatlantische Sicherheit".

Türkei und Ungarn verzögern weiter den Beitritt Schwedens

Ob auch Schweden der NATO beitreten kann, hängt weiterhin von den Voten der Türkei und Ungarns ab. Beide Staaten haben dem Antrag der Regierung aus Stockholm bisher nicht zugestimmt. Die Türkei merkt weiterhin an, dass sich Schweden zu wenig für die "Bekämpfung des Terrorismus" engagiere. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan warf Finnland und Schweden vor, Mitglieder von Terrororganisationen zu beherbergen und kritisierte, insbesondere Schweden unterstütze nur unzureichend die Verfolgung der Interner Link: Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Interner Link: Gülen-Bewegung. Letztere macht Erdoğan für Interner Link: den Putschversuch von 2016 verantwortlich. Außerdem liefere Schweden Ankara zufolge Waffen an die syrisch-kurdische Miliz Interner Link: YPG, also die bewaffneten Einheiten der syrischen PKK-Schwesterorganisation "Partei der Demokratischen Union" (PYD). Die YPG und die Gülen-Bewegung werden in der EU nicht als Terrororganisation gelistet. Die PKK jedoch gilt in den USA, der EU und der Türkei als terroristische Vereinigung. Auch die Verbrennung einer Ausgabe des Korans vor der türkischen Botschaft durch den dänischen Rechtsextremisten Rasmus Paludan in Stockholm hatte im Januar das Verhältnis zwischen Schweden und der Türkei belastet.

Der ungarische Staatspräsident Viktor Orbán unterstützt öffentlich den schwedischen NATO-Beitritt. Das von Orbáns Fidesz-Partei dominierte Parlament hat den Beitritt jedoch bisher nicht ratifiziert – immer wieder melden sich Fidesz-Politikerinnen und Politiker zu Wort und kritisieren die Haltung Schwedens in der EU-Debatte um Demokratie und Externer Link: Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Aufgrund von Rechtsstaatsverstößen hat die Europäische Union Gelder in Milliardenhöhe eingefroren. Schweden hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne. Neben den innenpolitischen Interessen, führen Beobachterinnen und Beobachter die Verzögerung im Aufnahmeverfahren auch auf Ungarns enge Beziehungen zur Türkei zurück. Zu einer Abstimmung über die Ratifizierung des schwedischen NATO-Beitritts ist es bisher nicht gekommen, im ungarischen Parlament wurde lediglich das Beitrittsprotokoll debattiert.

Am 11. und am 12. Juli findet der NATO-Gipfel in Vilnius statt. Beobachterinnen und Beobachter rechnen damit, dass es bis Juli zu einer Einigung kommt.

Verhandlungen mit der Türkei

Bereits bevor Finnland und Schweden ihre Beitrittsgesuche stellten, hatte die Türkei angekündigt, den Anträgen der beiden Länder nicht zustimmen zu wollen. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan kritisierte die angeblich mangelnde Bereitschaft beider Länder zur Zusammenarbeit im Kampf gegen den Terrorismus.

Erdoğan forderte, die Beitrittskandidaten sollten sich stärker für die "Bekämpfung des Terrorismus" engagieren. Auch warf er den zwei Staaten unter anderem vor, Mitglieder von Terrororganisationen zu beherbergen. Die Türkei und die zwei Beitrittskandidaten verhandelten mehrere Wochen über einen Kompromiss. Schließlich unterzeichneten die Außenminister der drei Länder am 28. Juni 2022 das Externer Link: "trilaterales Memorandum".

In dem Abkommen versprachen die beiden nordeuropäischen Länder der Türkei "ihre volle Unterstützung" gegen Bedrohungen der nationalen Sicherheit. Schweden und Finnland verurteilen zudem alle terroristischen Organisationen, die Anschläge gegen die Türkei verübt haben. Beide Staaten kündigen ferner an, ihr Strafrecht in Hinblick auf terroristische Straftaten zu verschärfen. Höchst umstritten war Punkt acht des Memorandums: Darin verpflichteten sich Schweden und Finnland, anhängige Auslieferungsersuche der Türkei gegen vermeintlich "Terrorverdächtige" zügig und unter Berücksichtigung der von türkischen Behörden zur Verfügung gestellten Informationen zu bearbeiten. Am 31. März 2023 ratifizierte die Türkei als letztes Land den Beitritt Finnlands zur NATO.

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