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Rassistische Ausschreitungen in Erfurt 1975 | Hintergrund aktuell | bpb.de

Rassistische Ausschreitungen in Erfurt 1975

Redaktion

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Vom 10. bis 13. August 1975 kam es in Erfurt zu Angriffen auf algerische Arbeitsmigranten. Die rassistischen Ausschreitungen waren kein Einzelfall, wurden in der DDR jedoch offiziell verschwiegen.

Der Erfurter Domplatz im Juni 1975: Wenige Wochen später, am 10. August, kam es hier während eines Volksfestes zu rassistischen Angriffen auf algerische Vertragsarbeiter. (© Bundesarchiv (Bild 183-P0623-0013), Fotograf: Jürgen Ludwig)

Vom 10. bis 13. August 1975 kam es im thüringischen Erfurt zu einer der größten rassistisch motivierten Ausschreitungen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Mehrere hundert vor allem junge Erfurter jagten algerische Arbeitsmigranten durch die Stadt und attackierten sie brutal. Da die Ereignisse nicht in das offizielle antifaschistische und antiimperialistische Weltbild Interner Link: der DDR passten, wurden sie vom SED-Regime weitgehend vertuscht. Bis heute sind viele rassistisch motivierte Vorfälle, die vor dem Mauerfall in Ostdeutschland stattgefunden haben, kaum bekannt.

Arbeitsmigration in die DDR ab Mitte der 1960er-Jahre

Die Algerier waren als sogenannte Vertragsarbeiter in die DDR gekommen. Denn diese benötigte dringend Arbeitskräfte: Zwar gab es in der DDR kein „Wirtschaftswunder“, das mit dem der westdeutschen Bundesrepublik vergleichbar gewesen wäre. Doch auch die ostdeutsche Wirtschaft war nach der Staatsgründung 1949 zunächst deutlich gewachsen. Gleichzeitig hatten bis zum Mauerbau 1961 im Zuge einer ersten Interner Link: Auswanderungswelle zwischen 1949 und 1961 Externer Link: etwa 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen – darunter auch viele Facharbeiterinnen und Facharbeiter, die nun fehlten.

Für die vorgegebenen Produktionsziele benötigten die Industrie und Energiewirtschaft der DDR ab Mitte der 1960er-Jahre deshalb zunehmend auch ausländische Arbeitskräfte. Interner Link: Diese wurden zunächst aus den als „sozialistische Bruderstaaten“ bezeichneten Ländern geholt – vor allem aus Polen und Ungarn. Die DDR schloss hierzu Verträge mit den jeweiligen Staaten über die Rahmenbedingungen der Arbeitsmigration ab. Die ersten entsprechenden Abkommen wurden 1963 und 1966 mit Polen, 1967 ein weiteres mit Ungarn geschlossen.

Später holte die Ost-Berliner Regierung auch tausende Arbeitskräfte aus sozialistischen Staaten außerhalb Europas in die DDR. Im April 1974 wurde ein Abkommen über die Entsendung algerischer Arbeiter in ostdeutsche Betriebe für jeweils vier Jahre unterzeichnet. Zwischen 1974 und 1984 kamen nach Angaben der Universität Erfurt über 8.000 algerische Arbeitsmigranten in die DDR. Aus Algerien wurden nur Männer angeworben, die vor allem in der Kohle- und Baustoffindustrie eingesetzt wurden. Die meisten von ihnen mussten nach Ablauf eines vierjährigen Aufenthalts das Land wieder verlassen. Auch aufgrund von Spannungen und Protesten gegen die Algerier setzte die DDR auf Abkommen mit anderen Staaten – so etwa mit Kuba (1975), Mosambik (1979), Vietnam (1980) und Angola (1985). Kurz vor dem Mauerfall arbeiteten in der ostdeutschen Wirtschaft mehr als 90.000 Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter – knapp zwei Drittel davon waren Interner Link: Vietnamesinnen und Vietnamesen.

Schwierige Arbeitsbedingungen, Integration unerwünscht

Die Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter kamen in der Hoffnung auf eine gute Ausbildung und faire Bezahlung in die DDR. Doch beides wurde ihnen oft vorenthalten – auch, weil die sozialistischen Heimatstaaten an ihrer Arbeit mitverdienten. Mosambikanischen Vertragsarbeitern etwa wurde ein Teil ihres Lohns vorenthalten und gegen Staatsschulden ihres Heimatlandes verrechnet. Die von sich selbst so genannten „Madgermanes“ protestieren dagegen bis heute und fordern Entschädigungszahlungen.

Die Migrantinnen und Migranten wurden in der DDR schlechter behandelt als einheimische Arbeitskräfte. Ihre Arbeit war häufig körperlich anstrengend oder sogar mit Gefahren verbunden. Gleichzeitig war ihre Bezahlung meistens niedriger. Sie wurden in zentralen Wohnheimen untergebracht, in denen sie zumeist mit mehreren Personen in einem Zimmer und unter strengen Regeln lebten. Ähnlich wie bei den sogenannten Gastarbeitern in Westdeutschland wollte die Regierung, dass die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter später wieder in ihre Heimatländer zurückkehrten. Eine Integration in die Gesellschaft war nicht vorgesehen: Sie wurden separat in Wohnheimen untergebracht, direkter Kontakt zu Einheimischen wurde möglichst verhindert, Beziehungen oder gar eine Heirat waren unerwünscht. Schwangerschaften galten oft als Ausreisegrund, betroffene Arbeiterinnen standen dann vor der Wahl, entweder eine Abtreibung vorzunehmen oder in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Der Nachzug von Familienangehörigen war verboten.

Rassismus in der DDR

Nach dem Weltbild der SED-Funktionäre war Rassismus ein Problem des kapitalistischen Auslands und gab es nicht im Sozialismus. Die sozialistische Diktatur propagierte „Völkerfreundschaft“ und „antiimperialistische Solidarität“ mit den postkolonialen sozialistischen Staaten der Welt. In der Bevölkerung sowie der politischen Praxis waren rassistische Denkmuster jedoch weit verbreitet.

Zwar wurden in der frühen Nachkriegszeit in der Sowjetischen Besatzungszone deutlich mehr NS-Täter juristisch verfolgt als in Westdeutschland, doch die Verfahren waren häufig willkürlich, politisch motiviert und auf Schauprozesse beschränkt. Eine tiefgehende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Holocaust und der NS-Ideologie fand in der DDR kaum statt. Die staatlich verordnete antiimperialistische Ausrichtung verhinderte zudem eine offene Auseinandersetzung mit den realen Herausforderungen im Zusammenleben von Einheimischen und Migrantinnen und Migranten, die häufig auch aus ehemals europäisch kolonisierten Ländern stammten.

Dass es in Teilen der Bevölkerung auch rassistische und nationalistische Einstellungen gab, zeigt beispielsweise Externer Link: eine Umfrage des Leipziger Zentralinstituts für Jugendforschung von 1988. In der Studie wurden rund 1.900 junge Menschen auch zu politischen und historischen Einstellungen befragt, darunter Schülerinnen und Schüler, Lehrlinge und Studierende. Damals stimmten 11 Prozent der Befragten der Behauptung zu, die Deutschen seien „schon immer die Größten in der Geschichte“ gewesen. Genauso viele gaben an, dass der Faschismus „auch seine guten Seiten“ gehabt habe . Insbesondere bei Lehrlingen seien die Zustimmungsraten sogar höher ausgefallen (15 Prozent). Die Studie spricht in diesem Zusammenhang von „Ansichten bzw. Gefühle[n] von nationaler Überheblichkeit gegenüber anderen Völkern und Rassen“ und bringt diese mit bekannt gewordenen Problemen und gewaltsamen Auseinandersetzungen in Betrieben in Verbindung, in denen „ausländische Werktätige“ arbeiten.

In der Interner Link: medialen Berichterstattung der DDR wurde das Verhältnis zwischen Vertragsarbeiterinnen und -arbeitern und der einheimischen Bevölkerung idealisiert und als von Solidarität und Hilfsbereitschaft geprägt dargestellt. Gleichzeitig verbreiteten betriebsinterne Aufklärungsmaterialien rassistische Stereotype, in denen beispielsweise algerischen Arbeitskräften ein „völlig unterentwickeltes Verständnis für das Leistungsprinzip“ unterstellt und ihnen sexuelle Gefährdung von Minderjährigen zugeschrieben wurde.

Rassistisches Pogrom: Das geschah im August 1975 in Erfurt

In den Wochen vor den Ausschreitungen in Erfurt waren zahlreiche rassistische Gerüchte über die algerischen Migranten verbreitet worden. Das Ministerium für Staatsicherheit (Stasi) dokumentierte dazu in einem internen Bericht, dass falsche Behauptungen im Umlauf seien – zum Beispiel, dass Algerier angeblich junge Mädchen und Frauen vergewaltigt und mehrere deutsche sowie ungarische Arbeiter getötet hätten. Auch von „Messerstechereien“ sei die Rede gewesen. Zugleich sei sich in Erfurter Betrieben über die „bevorzugte Behandlung“ von algerischen Arbeitern beschwert worden.

Am 10. August kam es dann bei einem Volksfest auf dem Erfurter Domplatz zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen algerischen Arbeitern auf der einen und DDR-Bürgern sowie einigen Ungarn auf der anderen Seite. Die Stasi protokollierte die Geschehnisse genau. Demnach wurden in der Folge 25 Algerier zusammen mit zwei verletzten Kollegen von bis zu 300 Erfurter Bürgern durch die Stadt gejagt. Nach Recherchen des Historikers Harry Waibel seien die Verfolger teilweise mit Eisenstangen bewaffnet gewesen und hätten Todesdrohungen skandiert. Die Volkspolizei habe schließlich eingegriffen und die Algerier in ihre Unterkünfte gebracht. Es habe viele Verletzte gegeben.

Am 12. August wurden erneut einige Algerier von zahlreichen Erfurter Jugendlichen verfolgt und angegriffen. Polizisten brachten die Algerier zu deren Sicherheit in die Hauptpost. Die Gruppe Deutscher, die danach das Gebäude belagerte, wuchs nach Angaben der Stasi schließlich auf 150 Personen an. Diese verlangten die Herausgabe der Algerier und skandierten, sie wollten die Algerier „totschlagen“ oder „hängen“. Nur mit großer Mühe gelang es den Sicherheitskräften, die Algerier sicher zurück in ihr Wohnheim zu fahren.

Auch am Abend des nächsten Tages kam es erneut zu Auseinandersetzungen, als einige Deutsche das Wohnheim der Algerier belagerten, ein Teil soll mit Stöcken bewaffnet gewesen sein. Die Polizei konnte Attacken auf die Algerier jedoch mit einem Großaufgebot verhindern.

Verharmlosung und Vertuschung rassistischer Gewalt

Die DDR-Behörden spielten die Vorfälle in Erfurt herunter. Zahlreiche Beteiligte wurden zwar zunächst festgenommen, jedoch wurden am Ende lediglich fünf Personen als verantwortliche „Rädelsführer und Rowdys“ gerichtlich zur Verantwortung gezogen. In der Presse hieß es, die fünf Verurteilten hätten die öffentliche Ordnung gestört. Die rassistische Verfolgung und Gewalt gegen die algerischen Arbeiter wurden nicht erwähnt.

Rassistische und antisemitische Übergriffe oder andere rechtsextreme Straftaten wurden in den DDR-Medien grundsätzlich kaum thematisiert. Oft wurde gegen Rechtsextreme nicht ermittelt oder die Verfahren wurden bald eingestellt. Wenn Ermittlungen wegen rassistischer oder extremistischer Delikte aufgenommen wurden, wurden diese oft mit dem eigens eingeführten Tatbestand des „Rowdytums“ verharmlost. Interner Link: Schließlich wollten die DDR-Offiziellen keinesfalls Probleme mit rechtsradikaler Gesinnung oder gar rassistischer Gewalt eingestehen.

Rassistische Übergriffe auf Vertragsarbeiter

Bis zur Öffnung der Archive des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 gab es so gut wie keine öffentlich zugänglichen Informationen über die tatsächlichen rassistischen Vorkommnisse in der DDR und deren Hintergründe. Der Historiker Harry Waibel hat nach eigenen Angaben in Archivmaterialien mehr als 700 rassistische Angriffe in der DDR-Geschichte identifiziert – darunter nahezu 40 Angriffe auf Wohnheime von Migrantinnen und Migranten. Es gab auch Todesopfer.

Bereits 1964 hatte es demnach in mehreren Städten wie Cottbus oder Lübbenau-Neustadt gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Polen gegeben, an denen allerdings weit weniger Menschen beteiligt waren als 1975 in Erfurt. Im August 1979 kam es in Merseburg (Bezirk Halle) zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen DDR-Bürgern und kubanischen Vertragsarbeitern. In deren Verlauf wurden mehrere Kubaner von Deutschen in die Saale getrieben und mit Flaschen sowie Steinen beworfen. Einige Tage später wurden zwei der Kubaner tot aufgefunden. Sie waren ertrunken. Dennoch entschieden die DDR-Behörden, keine strafrechtlichen Maßnahmen einzuleiten.

Rassistische Angriffe gegen ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter waren somit keine Einzelfälle – betroffen waren neben Menschen aus Polen, Algerien und Kuba auch Arbeiterinnen und Arbeiter aus Vietnam, Ungarn oder Mosambik.

Aufarbeitung und Erinnerung

Lange Zeit spielten die rassistischen Ausschreitungen in Erfurt auch nach der Wiedervereinigung in der öffentlichen Debatte keine Rolle. Im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Erfurt wurden 2024 erstmal Zeitzeugengespräche mit ehemaligen algerischen Vertragsarbeitern in Deutschland organisiert und deren Erinnerungen an ihr Leben und Arbeiten in der DDR wissenschaftlich dokumentiert. Die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen veröffentlichte im gleichen Jahr ein Externer Link: Informationsheft zu den rassistischen Ausschreitungen. Zum 50. Jahrestag organisiert die Universität Erfurt Externer Link: öffentliche Gedenkveranstaltungen, die am 10. und 11. August 2025 stattfinden.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. Nach Angaben der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestags wurden auch Arbeitskräfte aus China, der Mongolei und Nordkorea in die DDR entsandt. Siehe Externer Link: Ausarbeitung WD6-113-19, S.4.

  2. Die Umfrage basierte auf einer 5-stufigen Skala, bei der 1 für „Ich stimme der Aussage vollkommen zu“ und 5 für „Ich stimme der Aussage überhaupt nicht zu“ steht. Die angegebene Zustimmungsrate von 11 % entspricht der Summe der Teilnehmenden, die mit 1 („vollständige Zustimmung“) oder 2 („eher Zustimmung“) geantwortet haben.

  3. Ein Beispiel für betrieblich verbreitetes Aufklärungsmaterial über angebliche Verhaltensweisen von algerischen Vertragsarbeitern findet sich in den Unterlagen der Stasi (vgl. BStU, MfS, ZAIG, 30554, Bl. 33). Abgebildet ist dieses Material unter anderem auf der Externer Link: Website der Initiative „Gegen uns“.

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