Vor der Deutschen Einheit. Migrantisches Leben im geteilten Deutschland
Patrice G. Poutrus
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Fragen der Einwanderungs-, Asyl- und Flüchtlingspolitik wurden im Lauf der 1980er Jahre in beiden deutschen Staaten einer Neubestimmung unterzogen. Dabei war die DDR-Migrationspolitik geprägt von Homogenitätsvorstellungen der kommunistischen Staatspartei, aber auch von einer Zuspitzung der Versorgungskrise. In der Bundesrepublik wandelte sich die Debatte um das Asylrecht zu einer zentralen innenpolitischen Auseinandersetzung.
Für so gut wie alle nationalstaatlich organisierten Länder stellte und stellt der gesellschaftliche Wandel, der mit transnationaler Migration einhergeht, eine zentrale Herausforderung dar. Flucht wie Einwanderung zwingen Nationalstaaten dazu, Kategorien und Kriterien für Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit sowie eine Vielzahl von Regulierungsmechanismen zu entwickeln, die sowohl auf Einwanderer wie Einheimische und deren Handlungsoptionen einwirken. Die Bedeutung des sozialen Phänomens und politischen Themas Migration erschöpft sich aber nicht mit einem scheinbaren Abschluss der Nationsbildungsprozesse, sondern zieht sich – und, so will es scheinen, in immer stärker werdendem Maße – bis in die Gegenwart hinein: Erwähnt sei, für beide deutsche Staaten und das vereinigte Deutschland, der schwierige Übergang von der seit 1871 postulierten und im Sinne des Abstammungsprinzips lange Zeit vorherrschende Vorstellung einer ethnisch homogenen deutschen Nation hin zum Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Einwanderungsland.
Dieser Prozess hat nicht nur vielfältige Einflüsse auf politische Diskussions- und Entscheidungsprozesse gehabt, sondern einen stetigen und bei weitem noch nicht beendeten Prozess der Neubestimmung dessen provoziert, was als Gesellschaft, als Gesellschaftsziel, mithin als sozialer Inhalt moderner Staaten verstanden werden soll.
Harmonisierende Bilder und alltägliches Misstrauen: Arbeitsmigranten in der DDR
Auf bemerkenswerte Weise offenbarte sich diese Problemstellung für die DDR und die alte Bundesrepublik gerade auch im letzten Jahrzehnt vor dem Ende der deutschen Teilung im Jahr 1990. Und obwohl bis in die jüngste Gegenwart Ostdeutschland viel eindeutiger als Ausreise- und nicht als Einwanderungsgesellschaft charakterisiert werden kann, stand der SED-Staat gerade in den letzten Jahren seiner Existenz auch vor diesen gesellschaftlichen Herausforderungen: Arbeitsmigrant:innen aus Vietnam, Mosambik, Angola, Kuba und Polen bildeten die größte Gruppe von in der DDR lebenden Ausländern – sieht man einmal ab von den sowjetischen Truppen. Im Jahr 1989 registrierte der SED-Staat rund 95.000 ausländische Beschäftigte. Die Gruppe der sogenannten Vertragsarbeiter lag damit auch weit vor den wenigen politischen Emigrant:innen und der deutlich größeren Gruppe ausländischer Studierender.
In den Massenmedien des SED-Staates galt der Aufenthalt der "ausländischen Werktätigen" im Arbeiter-und-Bauern-Staat als "Arbeitskräftekooperation" im Rahmen der "sozialistischen ökonomischen Integration": Durch "Arbeitskräftekooperation" sollte das unterschiedliche Entwicklungsniveau zwischen den sozialistischen Staaten ausgeglichen werden. Der Aufenthalt in der DDR sollte insbesondere die vietnamesischen "Werktätigen" auf die "künftige Arbeit beim Aufbau des Sozialismus" vorbereiten und galt entsprechend als staatlicher Auftrag, dem die "Entsandten" ihre persönlichen Interessen unterzuordnen hatten. In der Presse wurde ein ausnahmslos harmonisierendes Bild vom Leben und Arbeiten von Vertragsarbeiter:innen in der ostdeutschen Gesellschaft gezeichnet. Hilfsbereitschaft, Solidarität und harmonisches Lernen und Arbeiten mit und vor allem von Seiten der ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen wurden hervorgehoben. Aber das alltägliche Zusammenleben in der Mangel- und Misstrauensgesellschaft der DDR kam schlicht nicht vor. Widersprüche und Konflikte wurden – wenn überhaupt – nur als Anpassungsprobleme der Arbeitsmigrant:innen an den Alltag in der "fortschrittlichen" Industrieproduktion dargelegt. Implizit erschienen die Vertragsarbeiter:innen entweder als Bestätigung des kommunistischen Ideals vom Revolutionär in der Welt oder sie galten als behütete Schützlinge und folgsame Schüler des Sozialismus in der DDR.
Trotz der weitgehenden Restriktionen durch den SED-Staat und die Entsendeländer suchten insbesondere vietnamesische Arbeitsmigrant:innen die vorgefundene Situation in ihrem eigenen Sinn zu nutzen. Da ihr Aufenthalt als begrenzt angesehen werden musste, waren sie bestrebt, während dieser Zeit ihre Familien nach Möglichkeit zu unterstützen. So bemühten sie sich beispielsweise, durch Übererfüllung der geforderten Arbeitsleistung auch ein hohes Einkommen zu erzielen, was ihnen partiell den Ruf von Normbrechern einbrachte. Allerdings besaßen die Arbeitsmigrant:innen in der DDR durchaus Mittel sich in Konfliktlagen zu wehren und wichen in solchen Situationen nicht einfach zurück. Vielmehr sahen manche sich berechtigt oder auch verpflichtet, die vorgefundenen Verhältnisse nicht zu akzeptieren, sofern sie ihren Erwartungen oder Interessen nicht entsprachen. So war es insbesondere den vietnamesischen Arbeitsmigrant:innen in einigen Fällen durchaus möglich, ihre Lage innerhalb des bestehenden Ausbildungs-, Bezahlungs- und Arbeitsregimes graduell zu verbessern.
SED-Propaganda gegen Schattenwirtschaft als Ablenkung von verfehlter Wirtschaftsentwicklung
In Konfliktkonstellationen wie auch bei der Bewältigung des Alltagslebens waren die eher spärlichen und engen Unterkünfte für die Vertragsarbeiter:innen ein gesicherter Rückzugsraum und auch eine Ressource für Informationsaustausch und praktische Unterstützung. Die vertraglich geregelte Reglementierung des Lohntransfers machte es insbesondere für die vietnamesischen Arbeitsmigrant:innen attraktiv, vom verbleibenden Lohn Konsumprodukte zu erwerben, die für die eigene Familie daheim unerschwinglich waren oder für die auf dem einheimischen grauen oder auch schwarzen Markt ein hoher Wiederverkaufswert erzielt werden konnte.
Damit agierten die vietnamesischen wie auch andere Arbeitsmigrant:innen aber auf einem gesellschaftlichen Konfliktfeld, das in der ostdeutschen Bevölkerung ein ständiger Anlass für Beschwerden und Unzufriedenheit war. Obwohl diese Arbeiten in der sich ausweitenden Schattenwirtschaft auch stabilisierende Effekte hatte, zeigte sich mit der Zuspitzung der Versorgungskrise in der DDR Ende der 1980er Jahre, dass sich in den gesteuerten DDR-Medien wiederholt Schlagworte wie "Schmuggel" und "Warenabkauf" durch Ausländer:innen finden ließen. Letztlich versuchte die SED-Propaganda auf diesem Wege, von der verfehlten Wirtschaftsentwicklung im realexistierenden Staatssozialismus abzulenken.
Insbesondere wenn es zwischen Vertragsarbeiter:innen und Einheimischen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kam, verurteilten die Gerichte bei gleichen Strafvorwürfen Ausländer deutlich härter als ostdeutsche Angeklagte. Auffällig ist zugleich, dass insbesondere Interner Link: mosambikanische Vertragsarbeiter überdurchschnittlich oft wegen Sexualdelikten angeklagt und verurteilt wurden. In diesen Zusammenhang gehören auch jene Übergriffe, die von der Migrationsforschung bisher nur am Rande einbezogen wurden und bisher ganz überwiegend von lokalen Geschichtsinitiativen und einer interessierten Öffentlichkeit bearbeitet wurden. Dies gilt insbesondere für die über Tage anhaltenden Ausschreitungen gegen algerische Arbeitsmigrant:innen in Erfurt in August 1975 und den gewaltsamen Tod von zwei kubanischen jungen Männern am 12. August 1979 in Merseburg.
Homogenitätsvorstellung der kommunistischen Staatspartei
Gemeinsam war diesen sehr verschiedenen Auseinandersetzung immer, dass sie in der gelenkten Öffentlichkeit des SED-Staates nicht thematisiert wurden und dass die ausländischen Arbeitsmigrant:innen in der DDR gegenüber ihren ostdeutschen Kolleg:innen und den DDR-Institutionen des SED-Staats situativ und strukturell gefährdet bis unterlegen waren. Der von der SED reklamierte Anspruch auf "gesellschaftlichen Fortschritt" durch den "Kampf gegen den Imperialismus" – das heißt gegen den "kapitalistischen Westen" – war allerdings nicht nur eine rein ideologische Etikette. Vielmehr stellte er eines der Prinzipien dar, mit denen die Staatspartei einerseits ihre Herrschaft in der DDR über ihre vierzigjährige Existenz hinweg rechtfertigte, dessen Bedeutung andererseits jedoch zugleich den Unwillen des SED-Staates verstärkte, sich mit den Schwierigkeiten im Zusammenleben von Einheimischen und Fremden auseinanderzusetzen.
Entscheidend für den Umgang mit Migrant:innen in der DDR war die Homogenitätsvorstellung der kommunistischen Staatspartei, die mit der Totalität des marxistisch-leninistischen Herrschaftsanspruchs einherging. Für DDR-deutsche Kommunist:innen wie auch für einfache DDR-Bürger:innen war es unter Berufung auf den "proletarischen Internationalismus" durchaus möglich, im Alltag nationalistische Stereotypen bzw. rassistische Vorurteile bedenkenlos zu benutzen, ohne dadurch in Konflikt mit der "sozialistischen Staatsmacht" zu geraten. Paradoxerweise entsprach damit die soziale Praxis der Migrationspolitik in der DDR in gewisser Weise jenen illiberalen und nationalistischen Prinzipien, um deren Durchsetzung in der alten Bundesrepublik der 1980er Jahre schwere politische Auseinandersetzungen geführt wurden.
Auseinandersetzungen um Flüchtlingspolitik und Asylpraxis in der Bundesrepublik
Zu dieser Zeit hatte sich die Auseinandersetzung um Asyl-Artikel 16, Absatz 2, Satz 2 im Grundgesetz von einem Experten- und Sachverständigenproblem zu einer zentralen Auseinandersetzung der bundesdeutschen Innenpolitik gewandelt und dies trotz der letztlich großzügigen Aufnahme von sogenannten Boatpeople aus Vietnam bzw. Südostasien und trotz der zeitweise zurückgehenden Zahl von Asylanträgen. Insbesondere der national-konservative Flügel der im Bund zunächst noch oppositionellen Unionsparteien forderte mit immer schriller werdenden Vorwürfen von der sozial-liberalen Bundesregierung eine Abkehr von Korrekturen im Asylverfahrensrecht und eine Wende hin zur strategischen Abschreckung von Asylsuchenden. Offene Bekenntnisse zur ethnischen Homogenität der deutschen Gesellschaft – etwa das von einer Gruppe namhafter Universitätsprofessoren verfasste und in weiten Teilen offen völkisch, biologistisch bzw. rassistisch argumentierende "Heidelberger Manifest" – machten zugleich deutlich, dass es in der sogenannten Ausländerfrage keineswegs nur um die Suche nach pragmatischen Sachlösungen für humanitäre Notlagen ging, sondern dass die Verfechter einer restriktiven Flüchtlingspolitik und Asylpraxis ein ideologisch geprägtes Gesellschaftsideal vertraten, dass mit den Normen der liberalen Verfassungsordnung des Grundgesetzes zumindest in Spannung stand.
Diese Zuspitzung erklärte sich aus Sicht ihrer Verfechter aus der vermeintlich bedrohlichen Entwicklung der ausländischen Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik in den Jahren nach dem Anwerbestop von 1973. Diese hatte sich nicht etwa reduziert, wie allseits erwartet, sondern bis in die frühen 1980er Jahre um ca. eine halbe Million auf 4,67 Millionen Personen erhöht ‒ ein Wert, der erst nach 1990 wieder überschritten wurde. Der Ausländeranteil an der Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik hatte sich damit von 1,2 Prozent 1960 über 4,9 Prozent 1970 auf 7,2 Prozent 1980 verändert und blieb im folgenden Jahrzehnt annähernd auf dieser Höhe. In diesen Zahlen sind weder ausschließlich Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und Asylsuchende noch tatsächliche Ab- und Zuwanderungen erfasst. Dennoch stellen sie ein Indiz für die Dauerhaftigkeit des Aufenthalts von Ausländern in der Bundesrepublik dar und wurden von den Zeitgenossen auch so interpretiert. Obgleich sich diese Entwicklung nicht schlagartig vollzog, war die Feststellung einer tatsächlichen Einwanderungssituation in Westdeutschland sowohl für die Betroffenen als auch für die Öffentlichkeit und die politisch Verantwortlichen keine Selbstverständlichkeit.
Das drückte sich auch darin aus, dass Kanzler Kohl in seiner ersten Regierungserklärung 1983 für die zukünftige Ausländerpolitik drei politische Ziele ausgab: Einwanderung verhindern, Nachzug begrenzen, Rückkehr erleichtern. Diese Zielsetzung reagierte auf einen Stimmungswandel in der westdeutschen Gesellschaft, der allerdings von den Unionsparteien gezielt befördert wurde. In der Zeit wirtschaftlicher Unsicherheit galt es in weiten Teilen der westdeutschen Gesellschaft als legitim bis zwingend geboten, sich soziale Entlastung dadurch zu verschaffen, dass gerade jene Menschen, die sich ohnehin am unteren Ende der sozialen Skala befanden, das Land verlassen sollten.
Türkische Migranten – Leben in einem gesellschaftlichen Paradox
In den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerieten zunächst die türkischen Migrant:innen in der Bundesrepublik. Trotz des Nachdrucks, mit dem diese zur Rückkehr aufgefordert wurden – durch Werbekampagnen, finanzielle Anreize und eine in Teilen zunehmend fremdenfeindliche Medienlandschaft –, führten die Beschränkungen im bundesdeutschen Aufenthaltsrecht, die damit einhergingen, allenfalls zu einer Verlangsamung, nicht aber zu einem Ende der Einwanderung. Meist glichen Familienzusammenführung und andere Zuwanderungsformen die erzielten Steuerungseffekte wieder aus. Denn als feststand, dass es sogenannten Rückwanderern in die Türkei so gut wie unmöglich gemacht werden sollte, jemals wieder in die Bunderepublik zurückzukehren, bremste dies die Rückkehrneigung in das Herkunftsland. Über Jahre hatten diese de-facto-Einwanderer Aufenthaltsrechte erworben, so dass die öffentlich erhobene Rückkehrforderung nur mit willkürlichen und nicht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchzusetzen gewesen wäre. So lebte ein Großteil der türkischen Migrantenfamilien in der Bundesrepublik schon in den späten 1970er Jahren in einem gesellschaftlichen Paradox – in einer Einwanderungssituation in einem Nicht-Einwanderungsland.
Wenn es dennoch zu einem sozialen Aufstieg von türkischen Migrant:innen kam, dann häufig unter dem wiederkehrenden Eindruck, dass dieser von der Mehrheitsgesellschaft nicht respektiert wurde. Bereits seit den späten 1960er Jahren schufen sich türkische Migrant:innen daher eine eigene Infrastruktur mit politischen und religiösen Vereinen sowie eigenen Medien. Damit einhergehend entwickelte sich auch eine ethnische Ökonomie, die überwiegend Nischencharakter hatte und den türkischen Migrant:innen die Ankunft im Nichteinwanderungsland Bundesrepublik erleichterte. Vor allem eine am Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes orientierte Rechtsprechung sorgte dafür, dass aufenthalts-, arbeits- und sozialrechtliche Verpflichtungen gegenüber Ausländern nicht nach Gesichtspunkten politischer Opportunität außer Kraft gesetzt werden konnten.
Mit der Aufenthaltsdauer wuchsen die Rechtsansprüche an den Wohlfahrtsstaat bzw. an dessen Leistungsverpflichtung gegenüber dem eingewanderten Teil der bundesdeutschen Bevölkerung. Allerdings gerieten mit der Verstetigung des Aufenthalts die offenkundigen Anpassungsprobleme türkischer Einwanderer an die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft immer stärker ins Visier der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Diese Schwierigkeiten wurden überwiegend als mangelnde Integrationsbereitschaft interpretiert, obwohl es an einer aktiven Integrationspolitik auf Bundes- und Landesebene weitgehend fehlte. So manifestierten sich die Spannungen zwischen dem juristischen Status der Migrant:innen und ihrer gefühlt illegitimen Anwesenheit in der Bundesrepublik in einer wachsenden Ausländerfeindlichkeit in der Mehrheitsgesellschaft, die sich insbesondere als manifeste Türkenfeindlichkeit ausdrückte.
Omnipräsenz der Ausländerfrage und die politische Leitvokabel vom "vollen Boot"
In dieser migrations- und gesellschaftspolitischen Atmosphäre entwickelte sich die Flüchtlingspolitik und Asylpraxis zusehends zu einem Handlungsfeld, auf dem Entscheidungswillen und Gestaltungskraft demonstriert werden sollte – jenseits der Frage, ob die adressierten Probleme auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, in der Sozialpolitik oder auch des politischen Extremismus sich damit tatsächlich bewältigen ließen. In ihrer Gesamtheit zielte diese Politik letztlich nicht darauf ab, den Missbrauch des Asylrechtes zu verhindern, sondern den Gebrauch selbst einzuschränken. Das traf auf Dauer gerade jene Flüchtlinge am härtesten, die auch unter diesen Bedingungen ein Recht auf Asyl besaßen, weil sie Opfer politischer Verfolgung waren. Als dann ab Mitte der 1980er Jahre trotz der Restriktionen die Asylbewerberzahlen wieder kontinuierlich anstiegen, verschob sich die Kritik an der bundesdeutschen Flüchtlingspolitik und Asylpraxis vom Missbrauchsvorwurfs hin zur Überlastungsbehauptung.
In der Sprache konservativer bundesdeutscher Politiker:innen und ganz besonders in den westdeutschen Massenmedien ging dabei die Unterscheidung zwischen den gesellschaftlichen Konsequenzen aus der jahrzehntelangen Anwerbung von Arbeitsmigrant:innen auf der einen und den Herausforderungen einer auf Menschenwürde basierenden Flüchtlingspolitik und Asylpraxis auf der anderen Seite weitgehend verloren. Synonym für diese Art Entdifferenzierung war die politische Leitvokabel vom angeblich "vollen Boot", das die erzeugte Wahrnehmung von Überlastung und Unbeherrschbarkeit transportierte und verstärkte.
Entsprechend blieb die sogenannte Ausländerfrage in der bundesdeutschen Öffentlichkeit omnipräsent und bestimmte in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre beinahe jede wichtige Wahlentscheidung auf Bundes- und Landesebene. Gleichwohl war es keineswegs so, dass die konservativ-liberale Bundesregierung großen Einwanderungsbewegungen gegenüber grundsätzlich negativ eingestellt war. Seit ihrem Regierungsantritt und ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre stieg die Zahl der sogenannten Interner Link: Spätaussiedler aus Mittel- und Osteuropa ebenfalls kontinuierlich an und von 1988 bis 1990 – also in der Zeit, als die Zahl der Asylgesuche jedes Jahr über 100.000 lag – kamen jährlich mehr als doppelt so viele Personen über den staatlich geförderten Einwanderungsweg in die Bundesrepublik. Offenkundig galten die daraus entstehenden Kosten für den bundesdeutschen Sozialstaat und die Herausforderungen für die westdeutsche Gesellschaft in diesem Fall als hinnehmbar. Diese widersprüchliche Wirklichkeit des vermeintlichen Nicht-Einwanderungslandes veranlasste Migrationsforscher um die Jahrtausendwende zu dem Bonmot, dass die Bevölkerungspolitik in der Bunderepublik davon gekennzeichnet sei, dass im Lande zu viele Menschen lebten, aber zu wenige Deutsche. Das diese Beobachtung auch einen gesellschaftlichen Konflikt charakterisierte, der in bestimmten Teilen der westdeutschen Gesellschaft auch in Aggression und rassistischer Gewalt mündete, zeigt exemplarisch der im Dezember 1988 verübte Brandanschlag auf das Haus der türkische Familie Kellecioglu im Bayrischen Schwandorf, bei dem drei Familienmitglieder und ein deutscher Mitbewohner ums Leben kamen.
Neuer Zulauf für Rechtsextremisten und Mobilisierung der Zivilgesellschaft
Die andauernde Infragestellung der Andersheit von Ausländern im Allgemeinen und von Flüchtlingen und Asylsuchenden im Besonderen, ob durch öffentlich erhobene Rückkehrforderungen, Illegalitätsverdächtigungen oder Überlastungsbehauptungen, hatte die gesellschaftliche Atmosphäre Ende der 1980er Jahre so polarisiert, dass sich extremistische Straftäter zu dergleichen Terrorakten aufgerufen fühlten und zugleich der organisierte Rechtsextremismus neuen Zulauf erhielt, wie die Wiederbelebung der eigentlich marginalisierten NPD und der Aufstieg der Republikaner bei Landtagwahlen signalisierte. Umgekehrt führte diese anhaltende und vor allem auch von den sogenannten Asylkritikern emotionalisierte Auseinandersetzung zu einer außerordentlichen Mobilisierung der westdeutschen Zivilgesellschaft zugunsten von Ausländern, Flüchtlingen und Asylsuchenden, bis weit in bürgerliche Kreise, die mit dem "links-alternativen" Label höchst unzutreffend beschrieben werden können.
Die bemerkenswerte Mobilisierung der politischen Öffentlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland beim Thema Ausländerpolitik und Asyl von den späten 1970er bis in die frühen 1990er Jahre war immer auch mit fundamentalen Fragen nach den politisch-moralischen Grundlagen der bundesrepublikanischen Gesellschaft verbunden. Für die einen stellte eine offene Flüchtlings- und Asylpolitik eine Garantie für die grundsätzliche Abkehr der Bundesrepublik von einer rassistisch geprägten Vergangenheit und insbesondere vom Nationalsozialismus dar. Für die anderen war eine solche Position undenkbar, weil sie einen Bruch mit dem Paradigma des "Nichteinwanderungslandes" bedeutet hätte. Dies wurde als Aufgabe der historischen, kulturellen und ethnischen Identität der Deutschen verstanden. Hier standen sich keineswegs eine kleine Minderheit von aktivistischen Humanisten auf der einen Seite und eine große Koalition von National- und Obrigkeitsstaatvertretern auf der anderen Seite gegenüber. Beide Positionen fanden sich sowohl in Parteien der parlamentarischen Opposition des Bundestages wie auch in der Regierungskoalition wieder und führten dazu, dass der verfassungsrechtliche Status Quo bis zum Ende der 1980er Jahre erhalten blieb, sich dann aber nach der Deutschen Einheit auflöste.
Dr. Patrice G. Poutrus ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik der Universität Erfurt im Projekt "Diktaturerfahrung und Transformation - Partizipative Erinnerungsforschung" und seit 2016 Mitglied im DFG-Netzwerk "Grundlagen der Flüchtlingsforschung".
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