Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss der österreichische Nationalrat die „immerwährende Neutralität“. Auch heute bekennt sich das Land zu dem Verfassungsgesetz – trotz geopolitisch veränderter Voraussetzungen wie dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.
Was bedeutet „Neutralität“ in internationalen Beziehungen?
Neutralität bedeutet im Allgemeinen die unparteiliche Nichteinmischung in Konflikte zwischen Dritten. In bewaffneten Konflikten oder im Kriegsfall heißt das vor allem, dass der neutrale Staat keine Soldaten oder Waffen zur Unterstützung einer der Konflikt- bzw. Kriegsparteien entsendet. Das Neutralitätsrecht entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Externer Link: Völkergewohnheitsrecht und wurde 1907 in zwei Haager Abkommen verankert. Diese Rechte und Pflichten betreffen militärische Angelegenheiten. Sonstige diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu kriegsführenden Parteien sind nicht betroffen. Staaten, die keinem Militärbündnis angehören, sind nicht zwangsläufig neutral. Sie werden allgemein als bündnisfrei bezeichnet. Neutralität kann in einem konkreten Konflikt (ad hoc) oder permanent erklärt werden.
Solange das österreichische Neutralitätsgesetz gilt, ist es der österreichischen Regierung verboten, einem Militärbündnis beizutreten oder anderen Staaten die Einrichtung von Militärbasen auf österreichischem Staatsgebiet zu gewähren. Keinem Militärbündnis beitreten zu dürfen bedeutet auch, im Angriffsfall nicht zwingend von Bündnispartnern militärisch unterstützt zu werden. Deshalb ist die Neutralität Österreichs in den Debatten immer auch mit der Frage verknüpft, inwieweit sich das Land selbst verteidigen kann. Für den Fall, dass das Land irgendwann angegriffen wird, steht Österreich ohne offizielles Sicherheitsbündnis da. Die NATO-Staaten wären nicht dazu verpflichtet, Österreich beizustehen.
Der Begriff „immerwährende Neutralität“ im österreichischen Verfassungsgesetz könnte dahingehend missverstanden werden, dass sie unabänderbar auf ewig gelte. Es handelt sich um die völkerrechtlich verbindliche Zusage, sich bei künftigen Kriegen zwischen Dritten neutral zu verhalten. Diese Zusage ist aber nicht unwiderruflich. Sie kann durch den Gesetzgeber des jeweiligen Staates auch abgeändert oder gar aufgekündigt werden. Ob dies auch für Österreich gilt, war von Anfang an Gegenstand rechts- und politikwissenschaftlicher Kontroversen. Heute sind Expertinnen und Experten der Meinung, dass das Neutralitätsgesetz ebenso wie es mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen wurde, auch mit einer solchen wieder abgeschafft werden könnte.
Wie kam es zu dem Neutralitätsversprechen?
Am 11. März 1938 befahl Adolf Hitler den
Am 15. Mai 1955, unterzeichneten Österreich und die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs den
Österreichischer Nationalfeiertag
Seit 1965 wird der 26. Oktober als Nationalfeiertag in Österreich begangen. Anlass war damals das zehnjährige Jubiläum des österreichischen Neutralitätsgesetzes („Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs“). Mit dem Nationalfeiertag soll daran erinnert werden, dass sich Österreich in diesem Gesetz dazu verpflichtet hat, seine Unabhängigkeit zu wahren und mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen. Das Land hat sich zur immerwährenden Neutralität bekannt – mit dem Ziel, als neutraler Staat einen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten.
Was heißt die Neutralität für UN-, EU-Mitgliedschaft und die NATO?
Vereinte Nationen
Bereits seit Österreichs UN-Beitritt 1955 ergab sich eine Spannung zwischen den sich aus dieser Mitgliedschaft ergebenden Pflichten und seiner immerwährenden Neutralität. Grundsätzlich stehen die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gemäß der UN-Charta in der Pflicht, sich an Zwangsmaßnahmen gegen Staaten zu beteiligen, die gegen das Gewaltverbot verstoßen haben.
Europäische Union
Bis Mitte der 1980er-Jahre wurde ein Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft bzw. EU in Österreich als unvereinbar mit der Neutralität angesehen. Mit der Einleitung des Beitrittsverfahrens kam es jedoch zu Positionsänderungen in Wissenschaft und Politik. Im Beitrittsvertrag 1995 wurde auf jede Absicherung der Neutralität verzichtet. Die Schlussakte enthält vielmehr eine Gemeinsame Erklärung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), nach der sich Österreich verpflichtet, sich an dieser in vollem Umfang und aktiv zu beteiligen. Ein Spannungsfeld, das Gegenstand von politischen sowie rechts- und politikwissenschaftlichen Debatten ist. Mehr als zehn Jahre nach dem Beitritt Österreichs wurde die EU mit dem
In der jüngeren Vergangenheit beteiligte sich Österreich im Rahmen der „Europäischen Sky Shield Initiative“ (ESSI) […] an gemeinsamen Beschaffungs- und Ausbildungsmaßnahmen, nicht jedoch an operativen Maßnahmen“. Mit dem ESSI möchten europäische Staaten die gemeinsame Luftverteidigung stärken, indem militärische Systeme wie Flugkörper, Kanonen und Laser beschafft und Soldaten entsprechend ausgebildet werden. Anlass ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, bei dem Russland vielfach unbemannte Systeme, ballistische Raketen und Marschflugkörper einsetzt.
NATO
Österreich ist im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten kein Mitglied der NATO, da dies mit der Neutralität nicht vereinbar wäre. Allerdings kooperiert Österreich mit dem Militärbündnis. Im Rahmen der NATO-Initiative „Partnerschaft für den Frieden“ (PFP) arbeiten auch Länder mit der NATO zusammen, die (noch) keine Vollmitglieder sind. Bereits seit 1995 nimmt Österreich an dieser Initiative teil, seit 1997 auch am Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC). An von der NATO angeführten und vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Einsätzen wie etwa im Kosovo (KFOR) beteiligt sich das Land auch operativ.
Wie wird die Neutralität in Österreich heute diskutiert?
In den letzten Jahren haben sich die politischen Rahmenbedingungen für die Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend verändert. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der hybriden Kriegsführung Russlands auch gegen die Europäischen Union hat die Frage, ob das Konzept der immerwährenden Neutralität sich mittlerweile überholt hat, neue Aktualität gewonnen. Selbst ein möglicher NATO-Beitritt wird diskutiert, nachdem sich auch die bislang militärisch neutralen Staaten Schweden und
Positionen der Parteien
Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) vertritt den Standpunkt, die Neutralität erlaube eine flexible Auslegung und ist für die Stärkung der europäischen Wehrhaftigkeit durch gemeinsame Verteidigungsinitiativen. Die rechtspopulistische FPÖ spricht sich heute für eine strikte Verteidigung der „echten und wehrhaften Neutralität“ aus und betrachtet die Sky-Shield-Initiative als Einstieg in militärische Allianzen. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) positioniert sich klar gegen einen NATO-Beitritt, plädiert aber für politische Druckmittel wie die Beteiligung an Sanktionen. Auch die Grünen sprechen sich für eine aktive Neutralitätspolitik aus und fordern, dass Österreich wieder eine zentralere diplomatische Rolle in der Welt spielen solle. Innerhalb des Parteienspektrums gehen die liberalen NEOS in der Frage, ob die Neutralität in Frage gestellt werden sollte noch am weitesten, indem sie sich für eine Debatte grundsätzlich offen zeigen.
Die Mehrheit der Österreicher befürwortet die Neutralität. Bei einer Anfang 2024 in Österreich durchgeführten Umfrage des Wiener Meinungsforschungsinstituts Unique Research sprachen sich 78 Prozent der Befragten für die Beibehaltung der Neutralität aus. Nur 15 Prozent votierten für die Etablierung eines neuen Sicherheitskonzepts und die Aufgabe des Neutralitätsstatus. Zugleich stimmten 51 Prozent der Aussage zu, das Land sei eigentlich schon nicht mehr neutral, die Neutralität sei ausgehöhlt.
Ein Volksbegehren mit über 100.000 Unterstützerinnen und Unterstützern forderte im vergangenen Jahr die Ergänzung des Neutralitätsgesetzes durch eine Verfassungsbestimmung, die einen NATO-Beitritt ausdrücklich verbietet. Verteidigungsexperten wie der Politikwissenschaftler Walter Feichtinger kritisieren angesichts der veränderten Sicherheitslage, dass die Neutralität nicht ergebnisoffen diskutiert werde – man beraube sich dadurch Denkmöglichkeiten.