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26. Oktober 1955: Gesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs | Hintergrund aktuell | bpb.de

26. Oktober 1955: Gesetz über die immerwährende Neutralität Österreichs

Redaktion

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Vor 70 Jahren hat sich die Bundesrepublik Österreich per Bundesverfassungsgesetz zur „immerwährenden Neutralität“ verpflichtet. Doch was heißt das konkret – und was bedeutet es heute?

Österreichisches Parlamentsgebäude an der Wiener Ringstraße. (© picture-alliance, Daniel Kalker)

Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss der österreichische Nationalrat die „immerwährende Neutralität“. Auch heute bekennt sich das Land zu dem Verfassungsgesetz – trotz geopolitisch veränderter Voraussetzungen wie dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Was bedeutet „Neutralität“ in internationalen Beziehungen?

Neutralität bedeutet im Allgemeinen die unparteiliche Nichteinmischung in Konflikte zwischen Dritten. In bewaffneten Konflikten oder im Kriegsfall heißt das vor allem, dass der neutrale Staat keine Soldaten oder Waffen zur Unterstützung einer der Konflikt- bzw. Kriegsparteien entsendet. Das Neutralitätsrecht entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts als Externer Link: Völkergewohnheitsrecht und wurde 1907 in zwei Haager Abkommen verankert. Diese Rechte und Pflichten betreffen militärische Angelegenheiten. Sonstige diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu kriegsführenden Parteien sind nicht betroffen. Staaten, die keinem Militärbündnis angehören, sind nicht zwangsläufig neutral. Sie werden allgemein als bündnisfrei bezeichnet. Neutralität kann in einem konkreten Konflikt (ad hoc) oder permanent erklärt werden.

Solange das österreichische Neutralitätsgesetz gilt, ist es der österreichischen Regierung verboten, einem Militärbündnis beizutreten oder anderen Staaten die Einrichtung von Militärbasen auf österreichischem Staatsgebiet zu gewähren. Keinem Militärbündnis beitreten zu dürfen bedeutet auch, im Angriffsfall nicht zwingend von Bündnispartnern militärisch unterstützt zu werden. Deshalb ist die Neutralität Österreichs in den Debatten immer auch mit der Frage verknüpft, inwieweit sich das Land selbst verteidigen kann. Für den Fall, dass das Land irgendwann angegriffen wird, steht Österreich ohne offizielles Sicherheitsbündnis da. Die NATO-Staaten wären nicht dazu verpflichtet, Österreich beizustehen.

Der Begriff „immerwährende Neutralität“ im österreichischen Verfassungsgesetz könnte dahingehend missverstanden werden, dass sie unabänderbar auf ewig gelte. Es handelt sich um die völkerrechtlich verbindliche Zusage, sich bei künftigen Kriegen zwischen Dritten neutral zu verhalten. Diese Zusage ist aber nicht unwiderruflich. Sie kann durch den Gesetzgeber des jeweiligen Staates auch abgeändert oder gar aufgekündigt werden. Ob dies auch für Österreich gilt, war von Anfang an Gegenstand rechts- und politikwissenschaftlicher Kontroversen. Heute sind Expertinnen und Experten der Meinung, dass das Neutralitätsgesetz ebenso wie es mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament beschlossen wurde, auch mit einer solchen wieder abgeschafft werden könnte.

Wie kam es zu dem Neutralitätsversprechen?

Am 11. März 1938 befahl Adolf Hitler den Interner Link: Einmarsch nach Österreich. Damals bejubelten viele Österreicher den „Anschluss“ an das Deutsche Reich. Nach Kriegsende präsentierte sich die neu gegründete Zweite Republik hingegen als Opfer. Großbritannien, die USA und die Sowjetunion hielten in der sogenannten Moskauer Deklaration allerdings fest, dass Österreich "für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung" trage. Die Verhandlungen für die Wiederherstellungen eines unabhängigen österreichischen Staates begannen 1947. Als die Beratungen der vier Besatzungsmächte zur Vorbereitung eines Staatsvertrags mit Österreich begannen, hatte Österreich zunächst nur ein Anhörungsrecht. Erst 1954, als die Verhandlungen nach einer durch den Kalten Krieg bedingten fünfjährigen Pause wieder aufgenommen wurden, durften österreichische Politiker als gleichberechtigte Partner mitverhandeln.

Am 15. Mai 1955, unterzeichneten Österreich und die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs den Interner Link: Staatsvertrag, mit dem Österreich souverän wurde. Die Interner Link: Sowjetunion koppelte ihre Zustimmung zur Wiederherstellung der österreichischen Souveränität an die Bedingung, dass das Land seine immerwährende Neutralität erklären sollte. Damit sollte vonseiten des Kremls sichergestellt werden, dass Österreich nicht wie die Bundesrepublik Deutschland der NATO beitrat. Im sogenannten „Moskauer Memorandum“ vom 15. April 1955 einigten sich die österreichische Regierung und die Sowjetunion darauf, dass sich Österreich „international dazu verpflichtet, immerwährend eine Neutralität der Art zu üben, wie sie von der Interner Link: Schweiz gehandhabt wird“.

Österreichischer Nationalfeiertag

Seit 1965 wird der 26. Oktober als Nationalfeiertag in Österreich begangen. Anlass war damals das zehnjährige Jubiläum des österreichischen Neutralitätsgesetzes („Bundesverfassungsgesetz über die Neutralität Österreichs“). Mit dem Nationalfeiertag soll daran erinnert werden, dass sich Österreich in diesem Gesetz dazu verpflichtet hat, seine Unabhängigkeit zu wahren und mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen. Das Land hat sich zur immerwährenden Neutralität bekannt – mit dem Ziel, als neutraler Staat einen Beitrag zum Frieden in der Welt zu leisten.

Was heißt die Neutralität für UN-, EU-Mitgliedschaft und die NATO?

Vereinte Nationen
Bereits seit Österreichs UN-Beitritt 1955 ergab sich eine Spannung zwischen den sich aus dieser Mitgliedschaft ergebenden Pflichten und seiner immerwährenden Neutralität. Grundsätzlich stehen die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gemäß der UN-Charta in der Pflicht, sich an Zwangsmaßnahmen gegen Staaten zu beteiligen, die gegen das Gewaltverbot verstoßen haben. Trotz dieses Spannungsverhältnisses trat Österreich den Vereinten Nationen bei und bewahrte weiterhin seinen Neutralitätsstatus. Als Begründung hieß es, dass Österreich mit Zustimmung der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates in Kenntnis seines Neutralitätsstatus in die UNO aufgenommen worden ist. Österreich ist trotz seiner neutralen Rolle international präsent und beteiligt sich seit 1960 an den Friedensmissionen der Vereinten Nationen, auch mit der Entsendung von Soldaten. Österreich bezeichnet dieses Engagement in internationalen Organisationen als wichtiges Element der „aktiven Neutralitätspolitik“, die der langjährige Außenminister und spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky zur Leitlinie der österreichischen Außenpolitik gemacht hatte.

Europäische Union
Bis Mitte der 1980er-Jahre wurde ein Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft bzw. EU in Österreich als unvereinbar mit der Neutralität angesehen. Mit der Einleitung des Beitrittsverfahrens kam es jedoch zu Positionsänderungen in Wissenschaft und Politik. Im Beitrittsvertrag 1995 wurde auf jede Absicherung der Neutralität verzichtet. Die Schlussakte enthält vielmehr eine Gemeinsame Erklärung zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), nach der sich Österreich verpflichtet, sich an dieser in vollem Umfang und aktiv zu beteiligen. Ein Spannungsfeld, das Gegenstand von politischen sowie rechts- und politikwissenschaftlichen Debatten ist. Mehr als zehn Jahre nach dem Beitritt Österreichs wurde die EU mit dem Interner Link: Vertrag von Lissabon grundlegend reformiert – auch im Hinblick auf die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Mit dem Vertrag verpflichten sich die Mitgliedstaaten für den Fall eines Angriffs auf einen EU-Staat grundsätzlich dazu, diesen mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu unterstützen. Diese Verpflichtung zur gegenseitigen Verteidigung bindet alle EU-Mitgliedstaaten. Vor allem auf Bestreben Irlands hin enthält der Vertrag allerdings eine Klausel, die den neutralen Staaten der EU – neben Österreich noch Irland und Malta – Spielraum verschafft: Die Beistandspflicht lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt. Den neutralen Staaten ist in diesem Fall also eine neutralitätskonforme Auslegung ihrer Mitwirkungspflicht erlaubt. Entbunden werden sie von ihrer grundsätzlichen Beistandspflicht aber nicht.

In der jüngeren Vergangenheit beteiligte sich Österreich im Rahmen der „Europäischen Sky Shield Initiative“ (ESSI) […] an gemeinsamen Beschaffungs- und Ausbildungsmaßnahmen, nicht jedoch an operativen Maßnahmen“. Mit dem ESSI möchten europäische Staaten die gemeinsame Luftverteidigung stärken, indem militärische Systeme wie Flugkörper, Kanonen und Laser beschafft und Soldaten entsprechend ausgebildet werden. Anlass ist der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, bei dem Russland vielfach unbemannte Systeme, ballistische Raketen und Marschflugkörper einsetzt.

NATO
Österreich ist im Gegensatz zu den meisten europäischen Staaten kein Mitglied der NATO, da dies mit der Neutralität nicht vereinbar wäre. Allerdings kooperiert Österreich mit dem Militärbündnis. Im Rahmen der NATO-Initiative „Partnerschaft für den Frieden“ (PFP) arbeiten auch Länder mit der NATO zusammen, die (noch) keine Vollmitglieder sind. Bereits seit 1995 nimmt Österreich an dieser Initiative teil, seit 1997 auch am Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC). An von der NATO angeführten und vom UN-Sicherheitsrat mandatierten Einsätzen wie etwa im Kosovo (KFOR) beteiligt sich das Land auch operativ.

Wie wird die Neutralität in Österreich heute diskutiert?

In den letzten Jahren haben sich die politischen Rahmenbedingungen für die Außen- und Sicherheitspolitik grundlegend verändert. Vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der hybriden Kriegsführung Russlands auch gegen die Europäischen Union hat die Frage, ob das Konzept der immerwährenden Neutralität sich mittlerweile überholt hat, neue Aktualität gewonnen. Selbst ein möglicher NATO-Beitritt wird diskutiert, nachdem sich auch die bislang militärisch neutralen Staaten Schweden und Interner Link: Finnland dem Verteidigungsbündnis bereits angeschlossen haben. Unter den österreichischen Parteien fordert aktuell allerdings keine ernsthaft, den Neutralitätsstatus abzuschaffen. Alle im österreichischen Parlament vertretenen Parteien sprechen sich derzeit nicht für einen NATO-Beitritt aus, setzen aber auf unterschiedliche Formen der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit innerhalb Europas.

Positionen der Parteien

Die Österreichische Volkspartei (ÖVP) vertritt den Standpunkt, die Neutralität erlaube eine flexible Auslegung und ist für die Stärkung der europäischen Wehrhaftigkeit durch gemeinsame Verteidigungsinitiativen. Die rechtspopulistische FPÖ spricht sich heute für eine strikte Verteidigung der „echten und wehrhaften Neutralität“ aus und betrachtet die Sky-Shield-Initiative als Einstieg in militärische Allianzen. Die Sozialdemokratische Partei Österreichs (SPÖ) positioniert sich klar gegen einen NATO-Beitritt, plädiert aber für politische Druckmittel wie die Beteiligung an Sanktionen. Auch die Grünen sprechen sich für eine aktive Neutralitätspolitik aus und fordern, dass Österreich wieder eine zentralere diplomatische Rolle in der Welt spielen solle. Innerhalb des Parteienspektrums gehen die liberalen NEOS in der Frage, ob die Neutralität in Frage gestellt werden sollte noch am weitesten, indem sie sich für eine Debatte grundsätzlich offen zeigen.

Die Mehrheit der Österreicher befürwortet die Neutralität. Bei einer Anfang 2024 in Österreich durchgeführten Umfrage des Wiener Meinungsforschungsinstituts Unique Research sprachen sich 78 Prozent der Befragten für die Beibehaltung der Neutralität aus. Nur 15 Prozent votierten für die Etablierung eines neuen Sicherheitskonzepts und die Aufgabe des Neutralitätsstatus. Zugleich stimmten 51 Prozent der Aussage zu, das Land sei eigentlich schon nicht mehr neutral, die Neutralität sei ausgehöhlt.

Ein Volksbegehren mit über 100.000 Unterstützerinnen und Unterstützern forderte im vergangenen Jahr die Ergänzung des Neutralitätsgesetzes durch eine Verfassungsbestimmung, die einen NATO-Beitritt ausdrücklich verbietet. Verteidigungsexperten wie der Politikwissenschaftler Walter Feichtinger kritisieren angesichts der veränderten Sicherheitslage, dass die Neutralität nicht ergebnisoffen diskutiert werde – man beraube sich dadurch Denkmöglichkeiten.

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Fussnoten

Fußnoten

  1. In Artikel 43 (1) heißt es: „Alle Mitglieder der Vereinten Nationen verpflichten sich, zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit dadurch beizutragen, dass sie nach Maßgabe eines oder mehrerer Sonderabkommen dem Sicherheitsrat auf sein Ersuchen Streitkräfte zur Verfügung stellen, Beistand leisten und Erleichterungen einschließlich des Durchmarschrechts gewähren, soweit dies zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlich ist.“

  2. Im Vertrag über die Europäische Union, Artikel 42 (7) heißt es: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen. Dies lässt den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt.

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