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Info 02.01 Jugend und Migration - Ausgewählte Ergebnisse der Shell Jugendstudie 2006 | Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Integration | bpb.de

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Info 02.01 Jugend und Migration - Ausgewählte Ergebnisse der Shell Jugendstudie 2006

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Der Text stellt wichtige Ergebnisse der Shell-Studie, in Bezug auf Jugend und Migration, heraus.

Die Shell Jugendstudie 2006 nimmt in der Tradition der Shell Jugendstudien bereits zum 15. Mal seit 1953 eine umfassende Bestandsaufnahme der Lebenssituation, der Einstellungen und der Perspektiven Jugendlicher in Deutschland vor. Die neueste Studie legt einen besonderen Akzent auf Geschlechterverhältnisse, die Einstellungen Jugendlicher zur Generationenfrage sowie zum Themenkomplex "Jugend und Religiosität". Neben einer Reihe kontinuierlicher Trends wartet die Studie dabei auch mit einer Reihe von auffälligen Einzelergebnissen auf. Insbesondere ließ sich eine signifikante Änderung zum weiteren Zuzug von Ausländern feststellen

Skepsis gegenüber dem weiteren Zuzug von Ausländern

Deutschland ist heute ein Einwanderungsland: Jeder fünfte Bewohner der Bundesrepublik ist entweder ausländischer Staatsbürger oder hat einen Migrationshintergrund (vgl. Mikrozensus 2005). In der neuen Shell Jugendstudie 2006 wurden aus diesem Grund auch Fragen zur Migration nach Deutschland gestellt - mit dem Ergebnis, dass die meisten Jugendlichen zwar keine Vorbehalte gegen Menschen anderer Nationalität hegen, sich auf der anderen Seite jedoch mehrheitlich dafür aussprechen, dass in Deutschland weniger Migranten als bisher aufgenommen werden sollten. Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem, dass hier eher materielle Erwägungen als Ängste im Vordergrund zu stehen scheinen: Denn nur etwa ein Drittel der Jugendlichen gibt an, Angst vor der Zuwanderung zu haben. Über zwei Drittel haben jedoch Angst, keinen Arbeitsplatz zu finden.

Gegenüber der Shell Jugendstudie 2002 hat sich die Einstellung der Jugendlichen zur Migration nach Deutschland signifikant verändert. Waren es 2002 noch etwas weniger als die Hälfte (48%), die [sich] für einen geringeren Zuzug von Migranten nach Deutschland [aussprachen], so ist es 2006 eine deutliche Mehrheit von 58%. Auffällig ist hier insbesondere, dass die Ablehnung gegenüber dem weiteren Zuzug in allen Statusgruppen und quer zur politischen Positionierung gestiegen ist. Auch wenn eine Ablehnung von Zuzug häufiger bei Jugendlichen aus materiell schlechter gestellten Elternhäusern sowie bei eher "rechts" eingestellten Jugendlichen und im ländlichen Raum anzutreffen ist - so ist auch bei den eher "links" eingestellten, bei den Studierenden, sowie bei den besser Situierten ein Einstellungswandel zu beobachten.
Deutlich wird der Stimmungsumschwung vor allem, wenn man die Wertetypen betrachtet. Hier sind es die Idealisten - also die Gruppe, der engagierten, eher gut situierten und gebildeten Jugendlichen mit hohen Idealen und relativ gering ausgeprägten materiellen Interessen - bei denen die deutlichste Einstellungsveränderung zu beobachten ist. Sprachen sich 2002 aus dieser Gruppe noch weniger als die Hälfte der Jugendlichen (42%) für eine geringere Immigration aus, so ist es 2006 eine Mehrheit von 57%. Diese Gruppe der sonst eher "links" eingestellten Jugendlichen weist damit die höchste Zuwachsrate auf.

Bei den Materialisten - einer Wertorientierung, in der sich eher Jugendliche aus bildungsfernen Elternhäusern sammeln, die vergleichsweise wenig Leistungsbereitschaft und Engagement aufweisen und sich für die materiellen Dinge des Lebens interessieren - ist die Ablehnung mit 64 % zwar am höchsten, sie ist im Vergleich zu den Idealisten jedoch weniger stark angestiegen. Hier von 60% auf 64%, dort von 42% auf 57%.

Auffällig ist der Einstellungswandel insbesondere auch bei den weiblichen Jugendlichen. Waren 2002 noch weniger junge Frauen als Männer gegen weiteren Zuzug (44% im Verhältnis zu 52%), so haben sich 2006 die Unterschiede zwischen den Geschlechtern nivelliert. Beide sind nun mit einer Mehrheit von 58% dafür, weniger Zuwanderer aufzunehmen.

Die gestiegene Ablehnung gegenüber einem weiteren Zuzug von Migranten und Migrantinnen bei den eher bildungsbürgerlichen und linksorientierten Jugendlichen hängt eng mit dem Umstand zusammen, dass die Chance, erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt unterzukommen, bei den besser gebildeten und besser situierten Jugendlichen ebenfalls zunehmend als prekär wahrgenommen wird. Auch diese grundsätzlich privilegierte Gruppe blickt deswegen immer skeptischer in die Zukunft.

Es ist zu vermuten, dass dieses Ergebnis außerdem die verstärkten Vorbehalte gegenüber muslimischen Gebräuchen und Traditionen widerspiegelt, die seit dem Anschlag auf das World Trade Center vom 11. September 2001 von den Medien häufig mit einem gegen die "westlichen" Werte gerichteten Islamismus gleichgesetzt werden.

Diskriminierung im Alltag und Zustimmung zum demokratischen System

Ausländische Jugendliche berichten auf der anderen Seite häufiger von Diskriminierungen im Alltag. Die Zahl der Befragten, die angaben, dass sie im Alltag "ab und an" bzw. "schon oft" benachteiligt wurden, ist seit 2002 um 5% gestiegen und liegt jetzt bei 63%. Benachteiligungen - sei es durch abfällige Äußerungen, durch soziale Ausgrenzung in der Schule oder durch schlechtere Chancen bei der Jobsuche - ist damit für die meisten ausländischen Jugendlichen zum Bestandteil ihres Alltags geworden. Ein Teil dieser Jugendlichen reagiert auf diese Diskriminierung im Alltag mit erhöhter Gewaltbereitschaft und ist überproportional häufig in Schlägereien verwickelt. Wachsende Desintegration und Ausgrenzungserfahrungen sind hier Anlass für eine Zunahme von Delinquenz und aggressivem Verhalten.

Diesen beunruhigenden Ergebnissen möchten wir noch einmal entgegensetzen, dass viele der in Politik und Medien diskutierten Probleme einer multikulturellen Gesellschaft sich bei genauerem Hinsehen deutlich weniger drastisch zeigen. Die muslimischen Jugendlichen sind den christlichen und den glaubensfernen Jugendlichen in ihren grundlegenden Wertorientierungen auffallend ähnlich. Die Zustimmung zum demokratischen System der Bundesrepublik Deutschland war unter den ausländischen Jugendlichen sogar besonders hoch. 76% der Befragten ohne deutsche Staatsangehörigkeit gaben an, mit der Demokratie in Deutschland zufrieden zu sein, im Gesamtdurchschnitt sagten dies dagegen nur 59% der Jugendlichen. Von einem Zusammenprall verschiedener Wertesysteme zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Jugendlichen in Deutschland kann daher nicht gesprochen werden - die empirisch erhobenen Daten belegen eher das Gegenteil.

In diese Richtung weist auch der enge Zusammenhang zwischen dem Kontakt zu Migranten und Migrantinnen und der Einstellung gegenüber dem weiteren Zuzug in die BRD. Jugendliche, die keinen Kontakt zu Ausländern haben, sprechen sich deutlich häufiger gegen weitere Einwanderung aus. Integration scheint damit vor allem dann zu gelingen, wenn es im Alltag vielfältige Berührungspunkte zwischen den Beteiligten gibt.

Ausblick: Integration und Ausgrenzung

Die 15. Shell Jugendstudie zeichnet ein schattiertes Bild hinsichtlich der Lebenssituation von jugendlichen Migranten in Deutschland. Jugendliche mit Migrationshintergrund sind im Alltag vielfältigen Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt. Sie sammeln sich überproportional häufig in den unteren Schulformen. Der deutliche Anstieg der Befürworter eines geringeren Zuzugs von Ausländern nach Deutschland unabhängig von Bildungsgrad, sozialer Schicht oder politischer Einstellung erscheint auf den ersten Blick bedenklich, reflektiert aber weniger eine gestiegene Ausländerfeindlichkeit unter den Jugendlichen in Deutschland als vielmehr eine zunehmende Verunsicherung hinsichtlich der eigenen Bildungs- und Berufsperspektiven, die auf Migranten gespiegelt wird. Einen Kontrapunkt gerade im Lichte der gegenwärtigen Wertedebatte setzen die ausländischen Jugendlichen hinsichtlich ihres Wertesystems und ihrer Einstellungen zur Demokratie in Deutschland. Die ausländischen Jugendlichen bilden zwar dasselbe Wertesystem ab wie die Gesamtheit der Jugendlichen in Deutschland, stützen dies aber ungleich stärker auf eine ausgeprägte Religiosität. Die Zustimmung zur Demokratie in Deutschland ist deutlich positiver als beim Durchschnitt ihrer Altersgenossen. Trotz vielfältiger Ausgrenzungserfahrungen und skeptischer Einstellungen erscheinen in diesem Sinne die jugendlichen Migranten in Deutschland als intensiv im Wertesystem sowie in der politischen Kultur Deutschlands etabliert.

Aus: Gudrun Quenzel, Mathias Albert: Jugend und Migration - Ausgewählte Ergebnisse der Shell Jugendstudie 2006, Oktober 2006, Externer Link: (24.11.2007).

Fussnoten