Außenseiter zwischen Alltag und Avantgarde – Die Tschechoslowakische Neue Welle (Nová Vlna)
Prof. Dr. Andreas Rauscher
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1962 beginnt in der ČSSR ein filmischer Aufbruch. Bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968, der auch die Neue Welle bricht, entsteht eine Vielzahl international beachteter Werke.
Kaum eine filmische Erneuerungsbewegung im Kino der Moderne ist derart eng mit gesellschaftlichen Umbrüchen verbunden wie die als Nová Vlna bekannte, tschechoslowakische Neue Welle der 1960er-Jahre. Während zum zeitlichen Rahmen der französischen Nouvelle Vague sehr unterschiedliche Einschätzungen existieren, sind der subversive Realismus von Miloš Forman, die außergewöhnlichen filmischen Experimente von Věra Chytilová oder die humanistischen Komödien von Jiří Menzel unmittelbar mit der gesellschaftlichen Aufbruchsstimmung desInterner Link: Prager Frühlings gekoppelt. Mit dessen Niederschlagung durch die Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 fand auch die Nova Vlná ein jähes Ende.
Das tschechoslowakische Filmwunder beginnt mit den internationalen Erfolgen von Miloš Formans Der Schwarze Peter (Černý Petr, 1963) und seinem slowakischen Gegenstück, Štefan Uhers Die Sonne im Netz (Slnko v Sieti, 1962). Als Coming-of-Age-Erzählungen sprechen sie ein internationales Publikum an und geben persönlich gefärbte Einblicke in den tschechoslowakischen Alltag ihrer Zeit. Die On-Location-Aufnahmen, die Arbeit mit Laiendarsteller*innen und humoristische Untertöne grenzen sich bewusst von der idealisierten Formelhaftigkeit des Externer Link: Sozialistischen Realismus ab. Dessen übereifrige „Superheld*innen der Arbeit“ bieten kaum glaubwürdige Identifikationsfiguren. Die zu Beginn der 1960er-Jahre gelockerten Bestimmungen der staatlichen Filmindustrie ermöglichen nach dem repressiven, vom Stalinismus geprägten Klima der 1950er-Jahre innovative Brüche mit den dominanten Stereotypen der offiziellen Staatskunst. Der 1965 gegründete Verband der Film- und Fernsehschaffenden (FITES) und die Arbeit in einzelnen Produktionsgruppen mit einer gewissen Eigenverantwortung ermöglichen individuelle Ansätze und größere künstlerische Freiheit.
Zu den zeitgenössischen tschechoslowakischen Literat*innen unterhält die Nová Vlna ein freundschaftliches Verhältnis. Ein gemeinsames filmisches Manifest, wie es die Kritiken in der französischen Zeitschrift „Cahiers du Cinéma“ für die Nouvelle Vague bilden, gibt es jedoch nicht. Am nächsten kommt diesem noch der von einer Gruppe von fünf Nová Vlna-Regisseur*innen realisierte Episodenfilm Perlen auf dem Meeresgrund (Perličky na Dne, 1965). Der Externer Link: Omnibusfilm basiert auf Kurzgeschichten des tschechischen Schriftstellers Bohumil Hrabal, der in den folgenden Jahren häufig mit dem Regisseur Jiří Menzel zusammenarbeiten sollte.
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Subversiver Realismus – Miloš Forman, Ivan Passer
Die Nová Vlna vereint durch das Studienprogramm an der Prager Film- und Fernsehfakultät der Akademie der Musischen Künste (FAMU), an der viele ihrer Regisseur*innen ausgebildet werden, die Professionalität des New Hollywood mit der Kinobegeisterung und Spontanität der Nouvelle Vague. Die für die Neuen Wellen charakteristische Auteur-Perspektive eines Kinos-in-der-Ersten-Person und ein neuer Blick auf den Alltag finden sich auch in der Nová Vlna. Doch sie werden zugleich mit ganz eigenen Akzenten versehen.
Über interne Filmvorführungen an der FAMU, bei denen die Dozent*innen auch zeitgenössische und filmhistorisch relevante Werke zeigen, die gar nicht im offiziellen Verleih sind, werden die Akteur*innen der Nová Vlna mit den Arbeiten ihrer internationalen Kolleg*innen vertraut gemacht. Miloš Forman und sein Drehbuchautor Ivan Passer orientieren sich mit dem Einsatz der beobachtenden Kamera und der Darstellung alltäglicher Ereignisse stellenweise an Vorbildern aus Externer Link: Cinéma Vérité und Externer Link: Neorealismus, etwa wenn sie Laiendarsteller*innen mit professionellen Schauspieler*innen interagieren lassen und sich auf eine vermeintliche Beobachterposition zurück ziehen. Doch statt auf inszenatorische Eingriffe weitgehend zu verzichten, initiieren sie mit perfekt lancierten Slapstick-Momenten das genaue Gegenteil und motivieren ihre Schauspieler*innen zu komödiantischen Reaktionen. Der als Ladenangestellter ebenso wie als Detektiv wider Willen überforderte 16-jährige Peter verweigert sich in dem Film Der Schwarze Peter den Anforderungen eines aktiven Filmhelden. Ein gemeinsamer, generationenübergreifender Tanzabend in Die Lieben einer Blondine (Lásky jedné Plavovlásky, 1965) gerät auf Grund des Altersunterschieds der Besucher*innen zu einem Fiasko.
Das übereifrige Planungskomitee des dörflichen Feuerwehrballs (Hoří, má Panenko, 1967) weckt mehr oder weniger zufällig Assoziationen an den Organisationswahn der allein herrschenden kommunistischen Partei der ČSSR. Das Resultat dieser produktiven Kollision filmischer Inszenierungsansätze bezeichnet der Filmwissenschaftler H.-J. Wulff treffend als „dokumentarische Komödie“. Zugleich erlaubt die Begegnung zwischen den konträren Lebenswelten von Stadt und Land in Intime Beleuchtung (Intimní Osvětlení, 1965) unter der Solo-Regie von Ivan Passer auch einen empathischen und differenzierten Einblick in die unterschiedlichen Mentalitäten der jungen Protagonist*innen, die das Landleben zu Gunsten eines Neuanfangs in der modernen Großstadt aufgaben, im Kontrast zu ihren alten Freunden, die im von Bier und Blasmusik geprägten Dorf geblieben sind.
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Subversive Antiheld(innen) - Jiří Menzel, Jan Němec, Zbyněk Brynych, Juraj Herz
In der 1968 mit dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film ausgezeichneten, tragikomischen Bohumil Hrabal-Verfilmung Liebe nach Fahrplan (Ostře Sledované Vlaky, 1966) erweist sich die Arbeitsverweigerung auf einer entlegenen Bahnstation im von den Nazis besetzten Tschechien als praktizierte Subversion. Entgegen der Glorifizierung entschlossener Kämpfer*innen des sozialistischen Widerstandes gegen den Faschismus in konventionellen, regimekonformen Kriegsfilmen unterlaufen Menzel und Hrabal jegliches Pathos zu Gunsten eines selbstironischen Humanismus. Voller Sympathie für die Figuren stellen sie deren Fehlbarkeit in den Mittelpunkt. Dem Pathos des kollektiven Held*innentums setzen sie die Absurdität des Alltags entgegen. Diesen Ansatz verfolgt Menzel auch in späteren Arbeiten wie Lerchen am Faden (Skřivánci na Niti, 1969/1990) über den Stalinismus der 1950er-Jahre.
Auch Arbeiten wie der formal experimentelle und radikal subjektive Diamanten der Nacht (Démanty Noci, 1962) von Jan Němec, der distanziert, dokumentarisch anmutende Transport aus dem Paradies (Transport z Ráje, 1962) von Zbyněk Brynych oder der mit surrealen Horror-Elementen arbeitende Der Leichenverbrenner (Spalovač Mrtvol, 1969) von Juraj Herz widmen sich der Schreckensherrschaft der Nazis und ihrer Verbrechen aus filmisch ungewöhnlichen Perspektiven. Diese unterlaufen sowohl den Schematismus des sozialistischen Realismus, als auch die Genrekonventionen des Hollywood-Kinos.
Filmische Experimente zwischen Pop und Avantgarde - Věra Chytilová
Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Stimmungen und Stilformen zeichnet zahlreiche Arbeiten der Nová Vlna aus. In Tausendschönchen (Sedmikrásky, 1966) entfaltet Věra Chytilová mit ihren beiden Hauptdarstellerinnen, sowie dem Kameramann Jaroslav Kučera und der Designerin Ester Krumbachová ein Spiel des Verderbens. Die Ereignisse bewegen sich zwischen Happening/Performance, thematischen Stationen und einer kreativen Destruktivität die die Haltung der Punk-Bewegung zehn Jahre später vorwegnimmt. Kučeras Kameraarbeit wirkt aus der heutigen Distanz nahezu wie eine Stilvorlage für spätere Experimente mit abstrakten Bildern und Rhythmen in Video-Clips auf dem Musiksender MTV.
Klassische Erzählformen werden gezielt aufgelöst und tradierte Genderrollen in Frage gestellt. Chytilová vertritt, ebenso wie Jan Němec, den experimentellen Flügel der Nová Vlna. In Von Etwas Anderem (O Něčem Jiném, 1963) kombiniert sie das dokumentarische Portrait einer Turnerin mit dem fiktionalen Portrait einer jungen Hausfrau. Mit Die Früchte des Paradiesbaums (Ovoce Stromů Rajských Jíme, 1970) begibt sie sich, erneut in Zusammenarbeit mit Kučera und Krumbachová, in den Bereich des symbolisch assoziativen Experimentalfilms und in einen Austausch mit zeitgenössischen Strömungen der internationalen Avantgarde. Die Nová Vlna prägt einerseits wie bei Chytilová und Němec eigene neue filmische Ausdrucksformen. Andererseits knüpft sie auch an medienübergreifende Traditionen der tschechoslowakischen Avantgarde an, etwa wenn Jaromil Jireš mit Valerie - Eine Woche voller Wunder (Valerie a Týden Divů, 1970) einen Roman des Prager Surrealisten Vítězslav Nezval von 1935 als düster-phantastisches Märchen über das Erwachsenwerden eines jungen Mädchens adaptiert.
Der politischen Führung der Sowjetunion orientieren sich die Reformbestrebungen des Prager Frühlings zu stark an westlichen Werten und sie lässt die Truppen des Interner Link: Warschauer PaktsInterner Link: am 21. August 1968 in die ČSSR einmarschieren. Damit endet der gesellschaftliche und kulturelle Aufbruch, ebenso vorzeitig wie der Versuch eines „Sozialismus mit humanem Antlitz“, den die Reformer*innen um den tschechoslowakischen Staatschef Alexander Dubček etablieren wollten. Während der so genannten „Normalisierung“ in den 1970er-Jahren können viele Regisseur*innen aus der Nová Vlna nicht mehr wie gewohnt arbeiten. Ihre Filme werden durch eine restriktive Verleihpolitik unterschlagen, oder sogar von der staatlichen Zensur ganz verboten. Die meisten Arbeiten gelangen erst nach der „Interner Link: Velvet Revolution“ von 1989 wieder zur Aufführung. Nach dem August 1968 gehen einige Regisseur*innen wie Forman und Passer ins Exil in den Westen. Andere wie Chytilová und Menzel bleiben in der Tschechoslowakei und können nach einigen Jahren im Lauf der 1970er-Jahre wieder Filme drehen.
Die Nová Vlna verweist auf einen ganz bestimmten Moment des Aufbruchs und der unerfüllten Hoffnungen in der neueren Zeitgeschichte, in der ein demokratisch reformierter Sozialismus und freier künstlerischer Ausdruck gleichzeitig möglich erschienen. Zugleich verfügen die Filme auf Grund ihrer Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit über eine Allgemeingültigkeit und Zeitlosigkeit, die bis heute fasziniert und immer wieder an neuer Relevanz gewinnt.
Prof. Dr. Andreas Rauscher lehrt Medientheorie an der Hochschule Kaiserslautern und unterrichtet als Privatdozent für Filmwissenschaft an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Kiel, Mainz und Siegen, sowie der Filmakademie Ludwigsburg.