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Coming of Age im Tauwetter – Die jungen filmischen Helden der Nová Vlna | Tschechoslowakische Neue Welle | bpb.de

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Coming of Age im Tauwetter – Die jungen filmischen Helden der Nová Vlna

Michael Brodski

/ 6 Minuten zu lesen

Die erste Liebe, der erste Job, Erwachsene, die nerven: Die Herausforderungen der Adoleszenz sind zentrales Motiv in den Werken der Nová Vlna.

Szenenbild aus Lieben einer Blondine (1965) (© picture alliance / Everett Collection | Courtesy Everett Collection)

Jugend als filmisches Motiv im tschechoslowakischen Kino der 1960er-Jahre

In den 1960er-Jahren ermöglichte eine Phase relativer Zensurfreiheit in der Tschechoslowakei einer Gruppe junger Filmschaffender die Modernisierung der Filmsprache und neue soziale Beobachtungen. Ihre Werke, häufig zusammengefasst unter der Bezeichnung Nová Vlna (Neue Welle), formulierten oft unter dem Deckmantel der Komödie mal mehr, mal weniger subtile Gesellschaftskritik am sozialistischen Alltag.

Ein zentrales Motiv ist die jugendliche Initiation. Jugendliche und junge Erwachsene, denen außerhalb staatlich kontrollierter Betriebsclubs kaum Entfaltung oder kulturelle Eigeninitiative möglich war, schwankten zwischen Resignation angesichts ihrer Machtlosigkeit und gelegentlichem Aufbegehren – etwa bei einer Demonstration am 31. Oktober 1967, als Studierende gegen wiederholte Stromausfälle in ihrem Wohnheim im Prager Stadtteil Strahov protestierten.

Die Protagonist:innen der Filme der Nová Vlna spiegeln diese Dualität wider: oft ironisch überzeichnet, ziellos oder lethargisch – zugleich aber geprägt von Aufbegehren und Sehnsüchten. Hierfür nutzen die Regisseur:innen ein breites Spektrum realistischer bis surrealistischer Inszenierungsstile, um Jugend als unverbrauchten Möglichkeitsraum zu zeigen. Im Folgenden wird dies anhand ausgewählter Filmbeispiele veranschaulicht, die Teil eines breiteren Spektrums von Filmen sind, die sich mit Jugend und Erwachsenwerden auseinandersetzen, darunter Sonne im Netz (Slnko v Sieti, R: Štefan Uher, CS 1962) und Die Lieben einer Blondine (Lásky jedné Plavovlásky, R: Miloš Forman, CS 1965).

Generationenkonflikte als kommunikative Barriere in Der schwarze Peter

Filmplakat der DEFA zu Miloš Formans Der Schwarze Peter (© DEFA-Stiftung/Peter Klaus Segner)

Bereits das Plakat zu Der Schwarze Peter (Černý Petr, R: Miloš Forman, CS 1963) verdeutlicht den zentralen Generationenkonflikt des Films: Ein unsicher wirkender, gebückter Jugendlicher – der 16-jährige Protagonist Peter – wird von der übergroßen, karikaturartig autoritären Zeichnung seines Vaters überschattet und erscheint im Muster von dessen Anzug wie hinter Gitterstäben gefangen.

In einer tschechischen Kleinstadt der frühen 1960er-Jahre wird der frisch von der Schule kommende Peter mit der ernüchternden Realität der sozialistischen Erwachsenenwelt konfrontiert. Gerade erst hat er seine Lehre in einer Verkaufsstelle begonnen, als ihn der Leiter beauftragt, Kund:innen beim Einkaufen zu überwachen, um Diebstähle zu verhindern. Während Peter unsicher und ungeschickt agiert, kennt sein Vorgesetzter nur starre Routinen und Führungsprinzipien – die erste spürbare Barriere zwischen einer noch orientierungslosen Jugend und einer im sozialistischen Alltag festgefahrenen Elterngeneration.

Szenenbild aus Der Schwarze Peter(1963). Peter sieht sich wiederholt den Vorträgen seines Vaters ausgesetzt. (© Second Run)

Besonders deutlich wird dieser Konflikt in der Beziehung zwischen Vater und Sohn. Der Vater belehrt Peter mit Plattitüden über Verantwortung und Erwachsenwerden, bleibt jedoch kommunikativ unfähig, seine eigenen Erfahrungen tatsächlich zu vermitteln. Peter wiederum steht im Kontrast zum sozialistischen Idealbild des jungen, fortschrittlichen Menschen – stattdessen wirkt er apathisch und antriebslos, ein Sinnbild für die politisch resignierte tschechoslowakische Jugend der frühen 1960er-Jahre, die sich zunehmend ihrer Ohnmacht gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen bewusst wurde. Durch die dokumentarisch geprägte Inszenierung wirken die Figuren umso authentischer und tief in der damaligen Lebensrealität verankert.

Surrealistische Überhöhung jugendlicher Sexualität in Liebe nach Fahrplan

Szenenbild aus Liebe nach Fahrplan (1966): Die stolze Mutter krönt ihren Miloš mit seiner neuen Bahnwärtermütze. (© trigon-film)

Wie Peter steckt auch Miloš in Liebe nach Fahrplan (Ostře Sledované Vlaky, R: Jiří Menzel, CS 1966) in einer Übergangsphase zum Erwachsenwerden. Doch im Gegensatz zur realistischen Psychologisierung in Der Schwarze Peter wird dieser Prozess hier ironisch und mehrdeutig überhöht.

Als roter Faden des Films dient die Unterwanderung verschiedener Rituale des Erwachsenwerdens, moralischer Normen und ideologischer Überzeugungen, die durch Miloš’ naive Unschuld in ihrer Absurdität entlarvt werden. Schon die Eröffnungsszene spielt damit: In einer prunkvollen Uniform posierend, suggeriert ein vertikaler Kameraschwenk Miloš’ Autorität, während er im Voiceover erklärt, seine neue Stelle als Bahnwärter trete er nur an, um – wie es in seiner Familie Tradition sei – harter Arbeit zu entgehen.

Szenenbild aus Liebe nach Fahrplan (1966). Der junge Bahnwärter Miloš versteckt sich, um unbeobachtet einen Sprengsatz auf einen Munitionszug der Wehrmacht fallen zu lassen. (© trigon-film)

Der während der deutschen Besatzung spielende Film kontrastiert die historische Tragik des Zweiten Weltkriegs mit der Tragikomik erster sexueller Erfahrungen. Miloš’ treibende Motivation bleibt sein zunächst scheiternder Versuch, seine Jungfräulichkeit zu verlieren. Dabei lässt die übertrieben surreale Darstellung persönlicher Unsicherheit die von Tod und Gefahr geprägte Umwelt weniger bedrückend erscheinen – etwa wenn Miloš selbst nach einem Bombeneinschlag nur an sein sexuelles Scheitern denkt, sich aus Scham das Leben nehmen will und schließlich, nachdem er durch eine Widerstandskämpferin seine sexuelle Unschuld verloren hat, einen absurd überhöhten Märtyrertod stirbt.

Die anarchische Kraft jugendlicher Sexualität steht hier im Kontrast zur auch in der sozialistischen Tschechoslowakei propagierten nüchternen Aufklärung. Sie wird als ironisches, aber auch verheißungsvolles Motiv der Befreiung verstanden – sowohl historisch im Kontext des Zweiten Weltkriegs als auch übertragen auf die Lebensbedingungen zur Entstehungszeit des Films. Jiří Menzel betonte, sein Film solle vor allem eines ermöglichen: über die Tragik des Lebens aus vollem Herzen zu lachen.

Traumatisierte Jugend in Diamanten der Nacht

Von der Flucht gezeichnet: Szenenbild aus Diamanten der Nacht (1964) (© picture alliance/United Archives | United Archives / kpa Publicity)

Diamanten der Nacht (Démanty Noci, R: Jan Němec, CS 1964) spielt ebenfalls während des Zweiten Weltkriegs, widmet sich jedoch dem Motiv physischer sowie mentaler Versehrtheit. Abseits einer konventionellen Erzählweise wird die Flucht zweier jüdischer Heranwachsender, První („der Erste“) und Druhý („der Zweite“), von einem Nazi-Transportzug porträtiert.

In einer längeren Seitwärtsfahrt offenbart die Kamera die beiden Jungen zu Beginn des Films, die um ihr Überleben rennen, begleitet von den hörbaren Maschinengewehren im Hintergrund. In fragmentierten Detailaufnahmen ihrer Körper wird jugendliche Fragilität in der Auseinandersetzung mit traumatischen Ereignissen betont. Diese Zerbrechlichkeit wird im weiteren Verlauf ihrer Flucht, etwa durch die physischen Belastungen ihrer harschen Umgebung, immer stärker unterstrichen.

Szenenbild aus Diamanten der Nacht (1964): Surreale Motive versinnbildlichen die Strapazen der jüdischen Jungen. (© Second Run)

Mit der Zeit verschwimmen surreale Motive – etwa eine von Ameisen bedeckte Hand oder der imaginierte Mord an einer Frau – mit kurzen Rückblenden in die Erinnerungen der beiden Protagonisten, in denen Geträumtes und Erlebtes untrennbar miteinander verschmelzen. Dies lässt das Publikum am psychischen Zustand der Jungen teilhaben. Diese persönliche Perspektive kontrastiert die idealisierte Vorstellung vom Erwachsenwerden mit der harten Realität eines traumatischen Erlebnisses.






Anarchisches Spiel und weibliche Selbstfindung in den Filmen von Věra Chytilová


In Věra Chytilovás Filmen ist die weibliche Selbstfindung untrennbar mit der filmischen Machart selbst verknüpft. Bereits in ihrem Frühwerk Ein Sack voller Flöhe (Pytel Blech, CS 1962), worin der Alltag in einem Mädcheninternat porträtiert wird, kombiniert die Regisseurin bewusst Elemente des Dokumentar- und Spielfilms, um filmische Stereotype zu vermeiden und dabei die Lebenswirklichkeit junger Frauen authentisch darzustellen.

Ihr bekanntestes Werk, Tausendschönchen (Sedmikrásky, CS 1966), entwickelt diesen Ansatz konsequent weiter. Die beiden 17-jährigen Protagonistinnen Marie I und Marie II bewegen sich ziellos durch eine Handlung, die avantgardistischen Happenings ähnelt. Dabei reflektieren sie spielerisch über Körperlichkeit, Lebenssinn und gesellschaftliche Strukturen.

Farbspiele in "Tausendschönchen"

(© 1966 Filmove Studio Barrandov – Distributed under exclusive license from Státní fond ČR pro podporu a rozvoj české kinematografie through the mediation of Ateliéry Bonton Zlín a.s. – All rights reserved. / 2012 BILDSTÖRUNG) (© 1966 Filmove Studio Barrandov – Distributed under exclusive license from Státní fond ČR pro podporu a rozvoj české kinematografie through the mediation of Ateliéry Bonton Zlín a.s. – All rights reserved. / 2012 BILDSTÖRUNG)

Marie I und Marie II in ihrem Element: Szenenbild aus Věra Chytilovás Tausendschönchen (1966) (© Bildstörung)

Formalästhetische Experimente mit Kamera, Montage, Farbgebung und Musik spiegeln den jugendlichen Leichtsinn der Figuren wider: Beide Maries unterwandern normiertes Verhalten im Alltag, während Chytilová gleichzeitig mit gängigen Darstellungsmitteln des Kinos bricht. Auch nimmt der Film eine feministische Perspektive ein, indem er die Annäherungen älterer Männer kritisch darstellt und deren Machtverhältnisse von den Protagonistinnen subversiv unterlaufen lässt. Als einzige weibliche Regisseurin der Nová Vlna, findet Chytilová somit einen filmischen Zugang zu insbesondere weiblichen Lebensrealitäten.

Einen Höhepunkt bildet eine Szene lustvoller Zerstörungswut, in der die beiden jungen Frauen ein elitäres Bankett sabotieren und dabei unter anderem an einem Kronleuchter schwingen. Letztlich ist nicht das Chaos, sondern die drohende Wiedereingliederung in die Gesellschaft die eigentliche Gefahr, so die Aussage des Films.

Coming of Age zwischen Gesellschaftskritik und formalästhetischen Innovationen

Die Herausforderungen der Adoleszenz können als ein zentrales Thema in verschiedenen Werken der Nová Vlna betrachtet werden. Zum einen dienen persönliche Probleme und Sehnsüchte des Erwachsenwerdens als Motiv, um gesellschaftspolitische oder historische Probleme und Traumata – mal ironisch, mal tragisch – sichtbar zu machen, sei es im Kontext der tschechoslowakischen Lebensrealität der 1960er-Jahre oder in der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs. Gleichzeitig ermöglichen jugendliche Perspektiven den Regisseur:innen in einer Phase gelockerter staatlicher Vorgaben, neue formalästhetische Mittel auszuprobieren und filmische Entsprechungen für die existenzielle Sinnsuche Heranwachsender zu finden.

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Michael Brodski ist Film- und Medienwissenschaftler, freier Autor und Redakteur. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Kinder- und Jugendfilm und ost- und mitteleuropäisches Kino. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung (ZFF).