Bratislava, Beginn der 1960er-Jahre: Auf dem Flachdach eines Wohnblocks treffen sich der introvertierte Fajolo und die etwas oberflächliche Bela. Die beiden Jugendlichen necken sich, diskutieren, hören Musik. Und fiebern einer unmittelbar bevorstehenden Sonnenfinsternis entgegen - wie die meisten Bewohner der pulsierenden Metropole. Was zunächst wie der Ausgangspunkt für eine weitere Variante des ewigen Boy-meets-Girl-Themas wirkt, löst sich bald zugunsten eines weitaus komplexeren Ansatzes auf. Während Fajolo zu einem Ernteeinsatz ins Landesinnere aufbricht und dort in eine ganz andere Erlebniswelt eintaucht, verbleibt Bela in der Stadt bei ihrer Familie. Sie reflektiert über das komplizierte Verhältnis zum Vater und der bei einem Selbstmordversuch erblindeten Mutter, kümmert sich um den jüngeren Bruder. Sowohl Fajolo als auch Bela machen während ihrer Trennung neue Erfahrungen mit dem jeweils anderen Geschlecht. Gleichzeitig bleiben sie gedanklich und über Briefe miteinander verbunden. Bei ihrer Wiederbegegnung in Bratislava haben beide einen Reifungsprozess durchlaufen. Alle Perspektiven scheinen ihnen offenzustehen.
Die Sonne im Netz - Filmbesprechung
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Bela verbringt den Sommer bei ihrer Familie in Bratislava, Fajolo muss zum Ernteeinsatz in die slowakische Provinz. Der ästhetisch bemerkenswerte Film erzählt vom Leben junger Menschen in der ČSSR.
Bloße Inhaltsbeschreibungen werden diesem komplex angelegten Film nur andeutungsweise gerecht. Seine Wirkung entfaltet sich aus dem Zusammenspiel von dramaturgischen und cineastischen Gestaltungsmitteln. Die Erzählweise ist konsequent episodisch-skizzenhaft angelegt, das heißt einzelne Erzählstränge werden wechselseitig aufgenommen, scheinen sich zu verlieren, finden dann aber auf überraschende Weise wieder zusammen. Ganz anders als im klassischen Erzählkino führen diese Momente nicht geradlinig zu einem „Happy End“ - die obligatorische Erfüllung eines Glücksversprechens findet nicht statt. An keiner Stelle setzt sich ein dramaturgisches Getriebe in dem Sinne in Gang, dass sich Aktivitäten zwingend entwickeln würden. Die Gesetze von Aktion und Reaktion scheinen ausgehebelt.
Fanal des „Prager Frühlings“ aus Bratislava
Wie radikal dieser Entwurf vor mehr als 60 Jahren war, kann heute im Vergleich mit dem damaligen realsozialistischen Mainstream ermessen werden, welcher vor allem ideologisch geprägt war und entsprechenden holzschnittartigen Mustern folgte. Zum Zeitpunkt der Dreharbeiten lag Stalins Tod knapp zehn Jahre zurück. Nur langsam setzte im Einflussbereich des Kreml eine Liberalisierung ein. In der ČSSR kam mit der Personalie des an stalinistischen Doktrinen festhaltenden KP-Generalsekretärs Antonín Novotný ein spezielles, innenpolitisches Hemmnis hinzu. Vor diesem Hintergrund muss Štefan Uhers Die Sonne im Netz als eine politisch wie künstlerisch besonders mutige Leistung gewertet werden. Sie ist mit dem überraschenden Umstand verknüpft, dass der erste abendfüllende Spielfilm der „Tschechoslowakischen Neuen Welle“ im Jahr 1962 nicht in Prag produziert wurde, sondern in Bratislava. Zur Premiere kam der Film im Februar 1963. Die wenig später weltweit für Furore sorgenden Arbeiten unter anderem von Jaromil Jireš, Miloš Forman oder Věra Chytilová folgten erst später. Der Stellenwert von Die Sonne im Netz erscheint umso bedeutsamer, da es bis 1945 kaum ein eigenständiges slowakisches Filmschaffen gegeben hatte.
Dokumentarisch geschulter Blick auf den slowakischen Alltag
Dabei erschöpft sich die Qualität des Films keineswegs in diesem kulturgeschichtlichen Alleinstellungsmerkmal - es handelt sich um ein authentisches Kunstwerk, das auch mehr als 60 Jahre nach seiner Entstehung an Originalität nichts eingebüßt hat. Ein Schlüssel dafür liegt in der personellen Ausgangslage. Štefan Uher konnte 1962 bereits auf ein umfangreiches Schaffen als Dokumentarfilmer zurückgreifen. Sein komplexer Blick auf die Wirklichkeit und dessen künstlerische Transformation basierte dabei auf der engen Zusammenarbeit mit zwei wichtigen Künstlerpersönlichkeiten. Auch die Besonderheiten von Die Sonne im Netz resultieren zu wichtigen Teilen aus dieser Konstellation. Die Kenntnisse des dörflichen Lebens in der Slowakei basieren auf der Kooperation mit dem namhaften slowakischen Schriftsteller Alfonz Bednár (1914-1989). Bei der Bildgestaltung konnte der Regisseur auf die Erfahrungen seines Kameramann Stanislav Szomolányi (*1935) zurückgreifen, mit dem er vorher bereits mehrere Alltagsbeobachtungen gedreht hatte. Szomolányis Perspektive zeichnet sich durch eine starke Liebe zum Detail und ungewöhnliche Tableaus aus. Einzelne Gegenstände oder Strukturen (wie rurale Gebrauchsgegenstände oder fließendes Wasser, Felder, Architekturen und so weiter) werden aus dem Erzählfluss herausgehoben, erlangen eine ikonografische Kraft. Diese überraschenden Unterbrechungen der Narration lenken die Aufmerksamkeit auf die visuellen Besonderheiten um - eine „Schule des Sehens“ tritt in Kraft, wie sie auch in Filmen von Ingmar Bergman, Andrej Tarkowski oder Robert Bresson praktiziert wurde. Ähnlich innovativ fällt der Umgang mit dem Ton aus. Hier gibt es keinen „Soundtrack“ im üblichen, untermalenden Sinne - jeder Note und Dialogzeile, auch jedem Geräusch kommt eine präzise ästhetische Funktion zu. Während etwa in der Stadt unablässig aus Kofferradios westliche Hits tönen, wird die ländliche Bevölkerung mit Durchsagen und Marschmusik aus den Lautsprechern des „Dorffunks“ traktiert. Indem Uher seinen „Helden“ Fajolo einen dieser Lautsprecher durch Steinwurf zum Schweigen bringen lässt, formuliert er eine unmissverständliche programmatische Haltung.
Credits
"Die Sonne im Netz"
Tschechoslowakische Sozialistische Republik 1963
Drama
Regie: Štefan Uher
Drehbuch: Alfonz Bednár
Darsteller/innen: Marián Bielik, Jana Beláková, Olga Salagová, Pavel Chrobak, Adam Janco, u.a.
Kamera: Stanislav Szomolányi
Schnitt / Montage: Bedřich Vodeřka
Laufzeit: 90 Min.
Fassung: OmU
FSK: ungeprüft
Klassenstufe: ab 10. Klasse
Verfügbarkeit: VoD (LaCinetek), DVD
Filmhistoriker und Kurator