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Tausendschönchen - Filmbesprechung | Tschechoslowakische Neue Welle | bpb.de

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Tausendschönchen - Filmbesprechung

Cristina Moles Kaupp

/ 3 Minuten zu lesen

Marie 1 und Marie 2 rebellieren: gegen die Langeweile und die verlogene Welt der Erwachsenen! Ihr Aufbegehren entlädt sich in formalen Experimenten und feiert das Filmemachen als anarchischen Akt.

Szenenbild aus Tausendschönchen (1966) (© 1966 Filmove Studio Barrandov – Distributed under exclusive license from Státní fond ČR pro podporu a rozvoj české kinematografie through the mediation of Ateliéry Bonton Zlín a.s. – All rights reserved. / 2012 BILDSTÖRUNG)

Marie 1 (brünett) und Marie 2 (blond), beide Anfang 20, langweilen sich. Sie finden Gesellschaft und Welt so verkommen, dass sie für sich nur einen Weg sehen: Vergessen wir Moral und Mitgefühl und setzen der allgemeinen Verdorbenheit die Krone auf! In Folge verwerfen die jungen Frauen lustvoll alle Benimmregeln und gesellschaftlichen Normen. Wie Max und Moritz loten sie die Grenzen des Machbaren aus; jeder Streich verlangt nach perfider Steigerung. Sie verführen und nutzen ältere Männer aus, bestehlen eine Toilettenfrau, mischen volltrunken eine Kabarett-Vorstellung auf. Ihre hemmungslose Revolte gipfelt in der Verwüstung eines gigantischen Festbanketts. Als sie schließlich ausgelassen in einem Kronleuchter über dem angerichteten Chaos schaukeln, nehmen sie giggelnd ihr eigenes Ende in Kauf. Neben ihren Eskapaden stellen sich die Maries immer wieder philosophische Fragen – eine weitere Facette der schwarzhumorigen Komödie.

Tausendschönchen feiert die Rebellion zweier selbstbewusster Frauen als wilde Fantasie mit affektiver Erzählweise und originellen formalen Experimenten. Anfängliche Kriegsbilder zeigen unbarmherzige Zerstörungswut; sie wechseln sich ab mit Großaufnahmen einer Maschine. Zahlreiche Überblendungen und Überbelichtungen, mitunter schnelle Schnitte und eine kurze Trickfilmszene, in der sich die Freundinnen mit einer Schere „zerstückeln“, zelebrieren das Filmemachen als lustvollen anarchischen Akt. Schwarz-Weiß-Sequenzen und wechselnde Farbfilter, etwa bei einer simulierten Zugfahrt, sorgen für psychedelisch anmutende Eruptionen. Kichernd bewegen sich Marie 1 und 2 wie Slapstick-Figuren durch ein surreal wirkendes Prager Ambiente. Die Filmmusik befeuert ihre Aktionen: Mal klingt sie wie Zirkusmusik, mal geben verfremdete Geräusche ironische Kommentare zum Bild. So intonieren quietschende Scharniere zu Beginn die Bewegungen der jungen Frauen und verleihen ihnen etwas Marionettenhaftes. Ohne zwingende Analogie wirken die Szenen oft wie assoziative Collagen. Aus dem Off konstatiert am Ende ein Kommentar die Entwicklung der Geschichte.

Tausendschönchen ist der zweite Spielfilm von Věra Chytilová (1929-2014). Er bescherte ihr nicht nur internationale Aufmerksamkeit, sondern wurde zum Schlüsselwerk der „Tschechoslowakischen Neuen Welle“ (Nová Vlna). Diese äußert kreative Phase begann Anfang der 1960er-Jahre und fand mit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch den Einmarsch sowjetischer Truppen 1968 ihren Endpunkt. Neben der filmhistorischen Einordnung ist für den Kunstunterricht das Entdecken dadaistischer sowie weiterer künstlerischer Referenzen interessant. Die Frage, wie die Regisseurin in Tausendschönchen mit erzählenden und filmkünstlerischen Elementen spielt, kann zudem zu eigenen filmischen Experimenten im Unterricht animieren. Im Abspann widmet Chytilová ihren Film all jenen, „die sich nur über zertrampelten Salat aufregen“ – eine Anspielung auf die Zensur, die den Film rasch ereilte. So lief er in der ČSSR ab Mai 1967 nur noch in kleinen Kinos, bis er nach dem gewaltsamen Ende des politischen Reformprogramms verboten wurde. Der respektlose Umgang mit Nahrungsmitteln im Film brachte den Ausschlag. Exzess und Zerstörung waren nach sozialistischer Staatsideologie Ausdruck der Bourgeoisie. Tausendschönchen erlaubt jedoch mehrere Lesarten, die sich im Ethik- und Gesellschaftsunterricht erörtern lassen: Ist Gier oder Revolte die Antriebsfeder für Marie 1 und 2? Sind sie radikale Feministinnen, die gegen überkommene Moralvorstellungen kämpfen, oder kompromisslose Hedonistinnen, die auf Kosten ihrer Mitmenschen leben? Interessant für die Selbstbefragung der Schüler/-innen ist, wie sie den Film und das Verhalten der Protagonistinnen wahrnehmen. Welche Ideen und Fragen entdecken sie, die auch heute noch aktuell sind?

Credits

"Tausendschönchen"
Tschechoslowakische Sozialistische Republik 1966
Komödie, Satire

Kinostart: 27.04.2023
Verleih: trigon, Cinemalovers e.V.
Regie: Věra Chytilová
Drehbuch: Věra Chytilová, Ester Krumbachová, Pavel Juráček
Darsteller/innen: Jitka Cerhová, Ivana Karbanová, Julius Albert, Jan Klusák, Marie Cesková u.a.
Kamera: Jaroslav Kučera
Schnitt / Montage: Miroslav Hájek
Laufzeit: 74 Min.
Fassung: OmU

FSK: 16
Klassenstufe: Oberstufe

Dieser Artikel erschien erstmals am 20.04.2023 auf kinofenster.de, dem Onlineportal für Filmbildung der Bundeszentrale für politische Bildung.

Filmjournalistin und Publizistin