In diesem Adventure zum Thema Transidentität begleiten wir die Zwillinge Tyler und Alyson auf ihrer Reise durch ihre von Konflikten durchzogene Vergangenheit.
Zusammenfassung
Das Spiel "Tell Me Why" bietet einen Raum zur Auseinandersetzung mit den Themen Transidentität und Konfliktbewältigung. Durch seine realistisch geschriebenen Dialoge zeigt es uns, wie kompliziert die Identitätsfindung von Kindern und Jugendlichen sein kann und wie wichtig es ist, dass deren Umfeld diese Entwicklung sensibel begleitet.
"Tell Me Why" ist in drei Kapitel aufgeteilt und startet mit einer Cut-Szene in der die Spielenden Zeuginnen und Zeugen werden, wie der junge Tyler Ronan der Polizei berichtet, er habe seine Mutter Mary-Ann aus Notwehr getötet, als sie ihn mit einer Schrotflinte durch Haus und Garten verfolgte. Die Szene bricht abrupt ab und wir sehen, wie Tyler und seine Schwester Alyson als Erwachsene in unterschiedlichen Häusern Gegenstände zusammenpacken.
In der ersten spielbaren Szene befinden wir uns in Tylers Zimmer in einem Wohnzentrum für problembelastete Jugendliche. Dort ist es unsere Aufgabe, die letzten Dinge für das Wiedersehen mit seiner Schwester Alyson zu packen. Hier erfahren wir durch einen Klick auf den Kalender, dass Tyler jeden Dienstag eine Erinnerung an seine Testosteron-Präparate bekommt und es sich somit bei ihm um einen Transmann handelt. Nachdem Alyson, die nach dem Tod der Mutter von Gemeindesheriff Eddy adoptiert worden war, uns aus dem (Zitat) "Jugendknast" abgeholt hat, brechen wir gemeinsam auf in Richtung unseres Elternhauses. Unser Plan ist es, das Haus zu entrümpeln, um es zu verkaufen. Doch einige Gegenstände lösen Erinnerungen an unsere Kindheit sowie die schicksalshafte Nacht der Ermordung unserer Mutter aus. Diese widersprechen allerdings dem, was wir über den Vorfall zu wissen glaubten und somit beginnen wir eine Spurensuche durch unsere Vergangenheit, um die Wahrheit herauszufinden.
Neben ihrem Geburtshaus besuchen Tyler und Alyson auch alte Freunde und Bekannte in Delos Crossing, einer fiktiven Stadt im US-amerikanischen Alaska. Darunter befindet sich die Familie Vecchi, bestehend aus dem Ehepaar Tom und Tessa, die eng befreundet mit den Zwillingen und ihrer Mutter waren. Auch treffen sie auf ihren alten Nachbarn Samuel Kansky, der eine gute Beziehung zu unserer Mutter hatte. Im weiteren Spielverlauf lichten sich nach und nach die blinden Flecken der Familientragödie, indem wir die uns gestellten Aufgaben lösen.
Spielmechanik
Ziel des Spiels ist es, die geheimnisvolle Vergangenheit der jungen Erwachsenen Alison und Tyler aufzudecken. Gespielt werden die Zwillinge abwechselnd nach Kapiteln in der Third-Person-Perspektive. Die Steuerung ist simpel gehalten: Wir können mit festgelegten Personen und Gegenständen interagieren oder sie genauer unter die Lupe nehmen, indem wir sie per Mausklick oder Gamepad anwählen. Auf der Suche nach neuen Hinweisen führen wir Dialoge mit NPCs, lösen Rätsel oder versuchen uns an vergangene Ereignisse zu erinnern. Bei der Dialogfunktion ist es wie schon beim Vorgängerspiel des französischen Entwicklungsstudios Dontnod Entertainment so, dass sich die Entscheidungen der Spielenden auf den Spielverlauf auswirken und wir am Ende jedes Kapitels sehen, für welche Optionen sich andere Spielenden entschieden haben. Auch ist es uns in den Dialogen möglich, "die Stimme" einzusetzen, eine Fähigkeit, die sich Alyson und Tyler schon als Kinder angeeignet haben.
Wir haben die Option, die Gedanken des anderen Zwillings zu hören und so dessen Meinung in bestimmten Dialogen mit abzufragen, bevor wir uns für eine Antwortmöglichkeit entscheiden. Entscheidungen werden auch von uns abverlangt, wenn wir alte Erinnerungsstränge der Zwillinge entdecken und diese erneut abspielen. An bestimmten Orten im Spiel finden wir funkelnde Punkte, die, wenn wir mit ihnen interagieren, kurze Abschnitte aus dem Gedächtnis der Kinder abspielen. Sie können von den Spielenden durch den jeweiligen Raum verfolgt werden.
In bestimmten Erinnerungsszenen ist es möglich, sich zwischen der Erinnerung von Alyson und Tyler zu entscheiden, da die Geschwister unterschiedliche Erinnerungen an dieselben Geschehnisse haben. Die Rätsel werden zumeist mit dem "Buch der Goblins", einem von Mary-Ann für ihre Kinder gestalteten Märchenbuch gelöst, das versteckte Hinweise und Botschaften enthält. Beispielsweise müssen wir ein Puzzle an der Schlafzimmertür unserer verstorbenen Mutter lösen, indem wir die abgebildeten Tiere in der Reihenfolge einstellen, wie sie in einer der Geschichte des Buches vorkommen.
Tell Me Why eignet sich gut für die Anwendung im Schulunterricht, wobei es vor allem Potenziale für die Fächer bietet, die sich mit den Themenfeldern Familie, Identitätsfindung, Empathie und Einfühlungsvermögen, Geschlechterrollen oder Erwachsenwerden auseinandersetzen.
Das Spiel lebt neben der Musik und den detailliert gestalteten Orten und Räumen vor allem von seiner Geschichte und den gut ausgearbeiteten Dialogen. So gibt es unter anderem folgende beiden Dialoge zum Thema der Transidentität von Tyler:
Ihr Nachbar Sam erzählt unverblümt, dass er schon viele "Transvestiten" im Fernsehen gesehen hat. Dass es aber möglich sei, dass ein Mann so hübsch würde wie Tyler, sei ihm noch nicht untergekommen. Auf den Hinweis von Alyson, dass dies keine angemessene Bezeichnung ist, recherchiert Sam im weiteren Spielverlauf zu dem Thema und entschuldigt sich später für seine Reaktion. Es ist zudem möglich, Tessa zu fragen, ob sie trotz ihres christlichen Glaubens "gut mit dem ist, wie Tyler heute ist". Dabei gesteht sie ein, dass die Menschen nicht immer alles verstehen, was Gott ihnen sagen will und sie Tyler als den starken und intelligenten Mann sieht, der er heute ist. Gerade diese Beispiele lassen sich auch in pädagogischen Kontexten gut als Gesprächsstoff mit Jugendlichen vertiefen, da wir uns entscheiden können, wie wir mit den Aussagen der Figuren umgehen.
Bei der Suche nach den vergessenen Teilen ihrer Vergangenheit müssen die Spielenden mit den anderen Figuren interagieren und so zwingt uns das Spiel zum Voranschreiten in der Geschichte. Wir müssen uns entscheiden, wie wir mit den Aussagen und Handlungen der NPCs umgehen. Es ist möglich, Gespräche schnell eskalieren zu lassen, was zu einem schnellen Abbruch der Konversation führt und die Beziehung zwischen den Parteien das gesamte Spiel über beeinflusst. In den aufgeführten Beispielen mit Sam und Tessa müssen wir uns auch, klar darüber werden, ob wir ihre Entschuldigungen annehmen oder die Beziehung mit ihnen endgültig abbrechen. So werden die moralische Urteilsbildung und die empathischen Fähigkeiten der Spielenden auf die Probe gestellt und gefördert. Zudem ist es möglich, Konfliktbewältigungsstrategien, die das Spiel vorgibt, auszutesten oder Streitigkeiten eskalieren zu lassen und sich mit den Folgen auseinanderzusetzen. Dies alles lässt sich im Spiel als einem konsequenzverminderten Raum leichter austesten, da die Entscheidungen zwar Einfluss auf die emotionalen Zustände der Spielenden haben und somit Lern- und Bildungsprozesse möglich werden, aber es keinen Einfluss auf das direkte Leben des Spielenden gibt. Die dabei gelernten Strategien lassen sich wiederum durch pädagogische Reflexion auf das Alltagsleben der Spielenden übertragen.
Weiterhin macht das Spiel auf Probleme aufmerksam, mit denen ein Mensch mit Trans-Identität konfrontiert sein kann. Dies beginnt damit, dass sich Tyler schon im Alter von zehn Jahren mit seiner Sexualität auseinandersetzt und nicht weiß, wie er mit seiner Mutter darüber sprechen soll. Auch die dargestellten Gespräche mit Tessa und Sam zeigen auf, dass nicht alle Menschen ausreichend mit diesem Thema vertraut sind, um in der Lage zu sein, ein sensibles Gespräch zu führen, um kränkende Aussagen zu vermeiden. Hierbei wäre es sinnvoll, auch andere Formen von Identitätsfindungsprozessen, die Jugendliche potenziell durchlaufen, anzusprechen, um ein Bewusstsein im Klassenverband für Gespräche dieser Art zu schaffen. Die Spielenden können durch Tylers Situation erkennen, dass Identität ein gesellschaftliches Konstrukt ist, das nicht für immer festgelegt ist und erst durch eigenes Verhalten in Wechselwirkung mit deren Umwelt entsteht und sich verändert oder verändern lässt. Gerade solche Bildungsprozesse lassen sich durch Differenzerfahrungen im Rollenspiel herstellen, indem die Spielenden zwischen der eigenen Identität und der Identität der gespielten Figur gedanklich hin und her wechseln.
Es ist aus entwicklungspsychologischer Sicht nicht einfach zu beantworten, welche Voraussetzungen für all diese Bildungsprozesse und Kompetenzerweiterungen nötig sind. Kinder setzen sich in verschiedenen Altersstufen mit Identität, Selbstbild und Konfliktsituationen auseinander. Allerdings entwickeln sich abstrakte Reflexionen über diese Konstrukte erst ab einem Alter von circa zwölf Jahren. Somit sollten Spielende mindestens das zwölfte Lebensjahr erreicht haben, um sich mit den Themen des Spiels fruchtbar auseinandersetzen zu können.
Eine Implementierung in den Unterricht könnte wie folgt aussehen: Die Lehrkraft hat das Spiel im besten Fall selbst einmal vollständig gespielt, um die Situationen und den Aufbau der drei Kapitel zu kennen. Bestimmte Szenen, wie die gezeigten mit Sam und Tessa, können als Einstieg in die oben genannten Unterrichtsthemen verwendet werden, um den Raum für ein erstes Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern zu öffnen. In Erarbeitungsphasen können die Schülerinnen und Schüler ausgewählte Szenen, die in einer der genannten Entscheidungssituation enden, in Stillarbeit spielen. Im Anschluss wird gemeinsam mit der Lehrkraft über Konfliktbewältigungsstrategien reflektiert. Falls keine geeigneten technischen Geräte zur Verfügung stehen, kann auch auf Let’s Plays ohne Spielendenkommentar zurückgegriffen werden.
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Christian Gürtler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FAU Erlangen-Nürnberg und promoviert dort zum Thema „Bildungspotentiale von Spielen in pädagogischen Kontexten“ mit dem Fokus der Entwicklung eines sogenannten „Pen and Paper Exit Games“ für den Einsatz im Schulunterricht. Zuvor hat er das Staatsexamen für das Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Darstellendes Spiel erworben.