Big Brother is watching you: In Anlehnung an George Orwells Dystopie "1984" lässt uns dieses Spiel potenziell gefährliche Mitmenschen überwachen. Eine erschreckende Simulation, die für Diskussionsstoff sorgen kann.
Zusammenfassung
Das Spiel "Orwell: Keeping an Eye on You" bietet für diverse hoch aktuelle politische und gesellschaftliche Diskurse eine Diskussionsgrundlage. Durch seine realistisch geschriebenen Texte sorgt es dafür, dass man sich schon bald wie in der Schaltzentrale der fiktiven Regierung fühlt. Es führt uns vor Augen, wie wichtig der Schutz des Grundgesetzes ist, und wie viel Macht sich bei datensammelnden Institutionen konzentriert.
In "Orwell: Keeping an Eye on You" wurden wir aus tausenden Freiwilligen rund um den Globus ausgewählt, um das "Orwell“ System unter echten Einsatzbedingungen zu testen. Wir sollen ermitteln und haben mit dem Programm die Fähigkeit, alle digitalen Aktivitäten der Menschen überwachen zu können. So haben wir Zugriff auf E-Mail-Kontakte, soziale Medien, Telefonate, Bankdaten und Gesundheitsdaten. Wir arbeiten im Auftrag der Nation, einem fiktiven und scheinbar demokratischen Staat. Geführt wird dieser von "der Partei“, die ihren Wahlerfolg vor allem der Implementierung des "Sicherheitsgesetzes“ verdankt, nach dessen Einführung die Straftaten stark zurückgegangen sind.
Das Spiel beginnt mit dem Blick durch eine große Menge an Kameras auf den Freedom Plaza der Hauptstadt Bonton. Als eine Explosion den Raum erschüttert, werden die dort anwesenden Personen schon durch das Orwell-Programm gescannt. Die Filmsequenz endet und wir sitzen vor dem Überwachungstool Orwell und bekommen unsere Instruktionen von Symes, einem Mitarbeiter des Sicherheitsministeriums. Er erklärt, dass aus dem ursprünglich geplanten Testlauf nun ein Einsatz unter Realbedingungen wird und wir helfen müssen, die Attentäter zu stellen, um so weitere Anschläge zu verhindern.
So beginnt die Jagd nach Informationen, sogenannten Datachunks ("Datenbrocken“), die wir an jedem der fünf Spieltage zu "verdächtigen“ Personen sammeln. Verdächtig sind dabei nach dem neuen Sicherheitsgesetz alle Personen, die schon einmal im Konflikt mit dem Gesetz standen. Auch die herrschende Partei kann auf diese Informationen zuzugreifen; diese und weitere Hintergrundinformationen über die Welt erhalten wir durch Orwell selbst, da wir durch das Programm auch Zugriff auf das öffentliche Internet und damit auf die Datenbank der größten Zeitung der Nation oder die Website der Regierung haben. Das heißt aber auch, dass die Geschichte nicht auf dem Silbertablett präsentiert wird, sondern sie sich erst durch die Recherchearbeit erschließt. Unsere Hauptverdächtige ist "Cassandra Watergate“ – eine Künstlerin, die vom System beobachtet wird, da sie wegen eines Angriffs auf einen Polizisten vorbestraft ist. Wir haben Zugriff auf ihre Polizeiakte und ziehen wichtige Informationen per "Drag & Drop“ in ihre Akte bei Orwell. Die für das System wichtigen Informationen sind dabei blau hinterlegt und die Aufgabe ist es, zu entscheiden, ob diese Informationen wichtig zur Lösung des Falls sind und ob sie in Konflikt mit anderen schon hochgeladenen Informationen stehen. Wir entscheiden also über die Relevanz der gefundenen Informationen und können diese durch weitere Recherche versuchen zu überprüfen.
Einmal hochgeladene Datachunks sind allerdings nicht mehr zu löschen, und Symes leitet weitere exekutive Maßnahmen ein, je nachdem, was sie ihm für Informationen zur Verfügung stellen. Die einzelnen Entscheidungen haben auf diese Weise Einfluss auf die weitere Abfolge der Geschichte.
Vorteilhaft ist dabei, dass es möglich ist, jeden der fünf Spieltage erneut zu spielen, um zu versuchen, alle möglichen Handlungsstränge auszuprobieren, was bei etwa einer Stunde pro Spieltag auch problemlos möglich ist und einen hohen Wiederspielwert bietet.
Durch die Informationen über Frau Watergate gelangen wir zum Blog "The Thought“, dessen Mitglieder zum Zentrum ihrer Ermittlungen werden. Dabei tauchen wir immer tiefer in deren Privatsphäre ein, hören Telefonate mit, klinken uns in Dating-Plattformen und Social-Media-Kanäle ein, lesen die Krankenakten und versuchen so, Profile zu jeder Person anzulegen und diese in Orwell als Beziehungsnetzwerk darzustellen.
Die Spieloberfläche besteht dabei aus dem "Reader“, dem "Listener“ und dem "Insider“. Der Reader funktioniert ähnlich wie das heutige Internet. Wir klicken sich durch verschiedene Seiten wie der des "National Beholder“, der größten Zeitung der Nation, der "Stelligan Universität“ oder "Timelines“, der verbreitetsten Social-Media-Plattform. Mit dem Listener können wir E-Mails, Chatverläufe oder mitgeschnittene Telefonanrufe der Verdächtigen lesen. Der Insider gewährt uns Zugriff auf die Computer und Smartphones.
Orwell kreiert eine aufgeladene und zugleich gruselige Atmosphäre, da das Sammeln von Daten einen immensen Einfluss auf das Leben der Betroffenen hat. So ist es sogar möglich, dass ein Verdächtiger von den Einsatzkräften erschossen wird, wenn wir dem System die Information weitergeben, dass er bewaffnet ist. Die Tatsache, dass man sich nie sicher sein kann, ob die Observierten nun Anschläge vorbereiten oder nur friedlich demonstrieren, treibt nicht nur die Spannung in die Höhe, sondern führt einem die eigene Verantwortung für das Leben der Verdächtigen vor Augen. Die Verdächten beginnen sogar selbst gegen Orwell zu ermitteln, sodass eine Art "Katz und Maus Spiel“ entsteht und somit die Anspannung steigt.
Am fünften Tag endet das Spiel. Das System wird zum zweiten Mal gehackt und wir werden zu einer Entscheidung aufgefordert:
Wir erfahren, dass auch wir observiert wurden. Diese Information können wir öffentlich machen, um zu zeigen, dass jeder Mensch im System überwacht wird und um zu versuchen, es von innen zu zerstören.
Wir machen weiter wie zuvor und komplementieren die Profile der Verdächtigen und sorgen für deren Verhaftung.
Ein unbekannter Hacker spielt uns Informationen über die Sicherheitschefin der Nation, Catherine Delacroix, zu, und wir haben die Möglichkeit über diese ein Profil in Orwell anzulegen und eine Ermittlung gegen sie loszutreten.
Es folgt ein Abspann, in dem wir mit unserer Entscheidung konfrontiert werden, indem wir von den Konsequenzen im National Beholder lesen.
KurzinfosOrwell: Keeping an Eye on You
Genre: Simulation
Herausgeber: Osmotic Studios
Plattform: PC, iOS, Android, Mac, Linux
Erscheinungsdatum: 20. Oktober 2016
USK: nicht geprüft
bpb-Empfehlung: ab 16 Jahren
Pädagogische Einschätzung
Das Spiel "Orwell: Keeping an Eye on You" eignet sich gut für die Anwendung im Schulunterricht, wobei es vor allem Potentiale für die Fächer Geschichte, Politik und Gesellschaft, Ethik oder Deutsch bietet.
Das Spiel simuliert erschreckend präzise, wie in einem anfangs demokratischen Staat unter Zuhilfenahme von Sicherheits- und Notstandsgesetzen Menschenrechte ausgehebelt werden können, um der regierenden Partei zu mehr Macht zu verhelfen – alles unter dem Deckmantel des Schutzes der Bevölkerung. Die Lernenden müssen die wichtigen Hintergrundinformationen zu den Beweggründen der Regierung selbst recherchieren und bekommen es nicht einfach beispielweise als Lernvideo präsentiert, was nicht nur die Motivation steigert, sondern auch wichtige Kernkompetenzen der Recherche und des Auswertens und Reflektieren von komplexeren Texten fördert. Jede Weitergabe von Informationen an Orwell stellt die Lernenden vor ein potenziell ethisches Dilemma und hat durch die Informationsweitergabe direkten Einfluss auf das Leben der Figuren. Zu Anfang wird das noch leichter fallen, da das Voranschreiten in der Geschichte im Vordergrund steht und eine emotionale Involviertheit in Story und Figuren seine Zeit benötigt. Aber spätestens nach Ende des dritten Spieltags, als eine Figur aufgrund der gelieferten Informationen in eine Schießerei mit den Sicherheitskräften gerät, wird einem eine mögliche Reflexion des eigenen Tuns quasi vom Spiel aufgezwungen. So werden die moralische Urteilsbildung und die empathischen Fähigkeiten auf die Probe gestellt und gefördert.
Weiterhin macht das Spiel abseits der geschichtlichen, politischen und ethischen Zusammenhänge auf das Sammeln und Nutzen von Daten aufmerksam. Spielende erfahren dabei hautnah, welche Rück-, aber auch Fehlschlüsse aus Datensätzen gezogen werden können und welche Macht mit der Sammlung von Daten verbunden ist. Vor allem das Beispiel der Einsicht in Gesundheitsdaten von zwei der Spielfiguren zeigt nicht nur wie hochfraglich es ist, solche hochpersönlichen Daten in Masse zu speichern und einlesbar zu machen, sondern auch, welche Möglichkeiten der Einflussnahme diese Daten bieten: Im Spiel erhält eine Figur durch eine Hüftoperation einerseits ein Alibi, durch eine psychosomatische Erkrankung andererseits ein Unberechenbarkeitsmotiv. Hier wäre es möglich, die aktuelle Situation in der Volksrepublik China oder die Datensammlung durch private Konzerne in Westeuropa zu thematisieren. Weiterhin wäre eine Reflexion der Debatte um die Gesundheitsdatensammlung während der Corona-Pandemie denkbar.
Die Voraussetzungen für all diese möglichen Bildungsprozesse und Kompetenzerweiterungen sind allerdings, dass die Spielenden über eine hohe Textkompetenz verfügen, da die Texte in Orwell nicht nur sehr komplexe Zusammenhänge darstellen, sondern auch Vorwissen in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit und Demokratie voraussetzen. Historisch knüpft es an die Überwachungsmechanismen der Gestapo während des nationalsozialistischen Regimes und der Stasi in der Zeit der SED-Regierung an. Aus diesem Grund eignet es sich nur bedingt zum Einstieg in solche Thematiken, da sich die Schülerinnen und Schüler tiefergehend mit diesen Thematiken auseinandergesetzt haben müssen, um das volle Potential zu entfalten, das das Spielerlebnis von Orwell bietet. Das Wissen darüber erwerben Schülerinnen und Schüler häufig erst in der 9. und 10. Klasse. Aus diesem Grund empfehlen wir, dass die Spielenden mindestens 16 Jahre alt sein sollten.
Eine Implementierung in den Unterricht könnte wie folgt aussehen: Die Lehrkraft hat das Spiel im besten Fall selbst einmal vollständig gespielt, um die Stärken der jeweiligen fünf Spieltage zu erkennen und sie sinnvoll in die jeweiligen Lernziele der genannten Unterrichtsfächer einbauen zu können. Im Deutschunterricht ist das Spiel eine sinnvolle Ergänzung zur Klassenlektüre von 1984 von George Orwell. Das Spiel kann entweder parallel zur Lektüre oder am Ende als Vertiefung eingesetzt werden, indem mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet wird, wie die inhaltlichen Bausteine des Romans in das Spiel übernommen worden sind.
InfokastenGeorge Orwell: 1984
In seinem 1948 erschienenen Roman entwirft der britische Autor George Orwell (1903-1950) ein düsteres, zukunftspessimistisches Szenario einer durch Totalüberwachung beherrschten Gesellschaft. Für den Einzelnen gibt es keine Privatsphäre und keine eigene Meinung mehr. Wer gegen die Regeln verstößt und ein "Gedankenverbrechen" begeht, wird ausgelöscht. Zuständig für die permanente Manipulation ist das "Ministerium für Wahrheit".
Im Geschichtsunterricht kann am Ende der Sektion über das geteilte Deutschland das Spiel als Stundeneinstieg und Erarbeitungsphase gleichzeitig verwendet werden. Die Schülerinnen und Schüler spielen in Stillarbeit die ersten 15 Minuten des ersten Tages. Im Anschluss ziehen sie in Partnerarbeit Parallelen zwischen der fiktiven Regierung im Spiel und der SED-Regierung, über die sie in den letzten Wochen Wissen erworben haben. Dieser Prozess kann durch ein Arbeitsblatt, in dem wichtige Aspekte wie Machtergreifung, Legitimierung der Überwachung und Kennzeichen des Überwachungsapparates dargestellt werden. Abschließend werden die Zusammenhänge im Klassenplenum besprochen und ergänzt.
Autoritäre Regierungen überwachen ihre Bürger, um ihre Macht zu sichern. Doch auch in Demokratien überwacht der Staat, um Gefahren abzuwenden. Geeignete Games können den Blick dafür schärfen.
In dieser Simulation überwachen wir im Dienste des Inlandsgeheimdienstes unsere Mitmenschen. Wie weit gehen wir, um uns im Ministerium hochzuarbeiten und wer bleibt dabei auf der Strecke?
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Christian Gürtler ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FAU Erlangen-Nürnberg und promoviert dort zum Thema „Bildungspotentiale von Spielen in pädagogischen Kontexten“ mit dem Fokus der Entwicklung eines sogenannten „Pen and Paper Exit Games“ für den Einsatz im Schulunterricht. Zuvor hat er das Staatsexamen für das Gymnasiallehramt mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Darstellendes Spiel erworben.