Khan lebt nach den Regeln eines autoritären Regimes. Sein Punktekonto im Sozialkredit-System ist gut gefüllt. Doch Khans Schwester wird politisch aktiv – eine Gefahr für beide. Wem bleibt Khan treu?
Zusammenfassung
Das Serious Game „Join the Comfort Zone“ stellt Spielende vor moralische Dilemmata in einem autoritären Staat mit Sozialkredit-System. Die spannend erzählte Story vermittelt Spielenden ab 13 Jahren politische Bildung in puncto individuelle Verantwortung und lässt einen Blick auf die autoritäre Wirkmacht von Social Scoring werfen. Vertiefendes Begleitmaterial ist für den Ethik-, Deutsch- und Politikunterricht erhältlich.
Für Khan treffen wir im Laufe des Spiels eine Vielzahl schwieriger Entscheidungen, steuern ihn mit Klicks auf Entscheidungs- und Dialogoptionen. Entschluss für Entschluss statten wir Khan auf diese Weise mit Opportunismus oder Autonomie aus. Das wirkt sich maßgeblich auf den wendungsreichen Plot aus, bis dieser zu einem von mehreren möglichen, bitteren Enden kommt. Denn: Selbst für einen loyalen Khan gibt es im autoritären Staat keine Sicherheit vor willkürlicher Machtausübung.
Join the Comfortzone Screenshot3
Es gibt kein zurück: Khan steht vor der Kamera, Kiras Zukunft auf dem Spiel.
Es gibt kein zurück: Khan steht vor der Kamera, Kiras Zukunft auf dem Spiel.
„Join the Comfort Zone“ ist eine kostenfreie, browserbasierte und plattformunabhängige Visual Novel mit stilistischen Zitaten an den Film-Noir. Das Spiel richtet sich an Jugendliche ab 13 Jahren, in knapp 20 Minuten Spielzeit lässt es Khans persönliche Dilemmata in einer autoritär regierten Gesellschaft miterleben. Hintergrundwissen zu Autoritarismus sowie dem zentralen Spielelement Sozialkredit-System ist keine Voraussetzung für das Spielen, aber von großem Vorteil: Kenntnisse geschichtlicher Präzedenzfälle, etwa den Regierungsmethoden in der kommunistischen SED-Diktatur sowie Bewusstsein über existierende Sozialkredit-Systeme, etwa in der Volksrepublik China (s. Infoboxen), heben den Lerneffekt des Spielerlebens – in oder außerhalb des Schulunterrichts – auf ein höheres Niveau.
Im Auto hat Khan Zeit zum Nachdenken. Hat das Pflegen demokratischer Kultur Ähnlichkeiten mit dem Kochen von Milch?
Im Auto hat Khan Zeit zum Nachdenken. Hat das Pflegen demokratischer Kultur Ähnlichkeiten mit dem Kochen von Milch?
Gleich zu Beginn stellt das Serious Game via Texttafel die wichtigste Regel klar: „Khan muss so viele Sozialpunkte wie möglich sammeln… oder mit Konsequenzen rechnen, wenn er zu wenige hat.“ Oben links im Bild sind die Punkte abzulesen; mit 170 Sozialpunkten ist Khan Vorzeigebürger. Eine raue, schwarz-weiße Comiczeichnung zeigt den jungen Erwachsenen, mit Pferdeschwanz, adrett gekleidet. Ein Klopfen an der Tür. Ein Agent namens Klimt vom staatlichen Sicherheitsamt sucht nach Khans Schwester Kira. Sie soll in der Öffentlichkeit subversives Verhalten gezeigt haben. Khan muss schnell entscheiden: Gibt er Informationen zu seiner Schwester preis oder beteuert er Unwissenheit?
Khans Entscheidungen und seine Dialogbeiträge wählen ab jetzt wir. Zeit zum Abwägen bleibt dazu in bestimmten Situationen kaum. Schnell stellen wir fest: Es sind stets die Optionen für Widerspruch oder Widerstand. Der Agent zieht Khan aus Willkür einige Sozialpunkte ab, sein Sozialstatus sinkt prompt. Khan kann ihn abwimmeln und verspricht seiner aufgelösten Schwester, die Sache zu regeln. Zeit bleibt Khan keine; er wird zurück an die Arbeit ins Nachrichtenstudio gerufen.
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Der Staat will Schwarz-Weiß statt bunt: Das Tragen der Pride-Flagge gilt als Straftat, die Khan per App melden kann.
Der Staat will Schwarz-Weiß statt bunt: Das Tragen der Pride-Flagge gilt als Straftat, die Khan per App melden kann.
Khan steht vor laufender Kamera und liest Nachrichten ab. Die Propaganda geht ihm leicht über die Lippen, sportliche und kulturelle Höchstleistungen Staatsangehöriger. Wir stehen vor der nächsten Entscheidung: Eine Fahndungsmeldung in Kiras Fall – verkündet Kahn sie? Wenige Sekunden bleiben, um die Alternative, Stille, zu wählen. Ein Akt offenen Widerstands.
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Im Staat herrscht Unterdrückung. Können Khan und Kira sich zumindest selbst retten?
Im Staat herrscht Unterdrückung. Können Khan und Kira sich zumindest selbst retten?
Wählen wir stillen Widerstand, folgt eine drastische, sofortige Sanktion. Wählen wir Gefolgschaft, erhalten wir unsere Sozialkredit-Punkte und den Status vom Anfang zurück. Agent Klimt wird Khan unabhängig von seinem Entschluss dauerhaft beschatten. Auf der Suche nach Kira streift Khan durch einen Rock-Club, in dem er politisch Autonome der Staatsobrigkeit melden kann, um Sozialpunkte zu verdienen.
Beide Wege, die wir einschlagen können – systemtreuer oder unabhängiger Khan – führen zu einem Wiedersehen mit Kira. Wenige hektische Momententscheidungen später endet die Handlung für alle Pfade. Ein glückliches Ende gibt es weder für Staatsfeind Khan, der aufgrund der Summe unserer Entscheidungen auf 0 Sozialpunkte gefallen ist, noch für Vorzeigebürger Khan, der fast 400 Punkte anhäufen konnte. Für die Protagonisten endet „Join the Comfort Zone“ in Gefangennahme, Tod oder erfolgreicher, aber sehr verlustreicher Flucht – dargestellt in drastischen Illustrationen.
Mithilfe der umfang- und facettenreichen Unterrichtsmaterialien, die für „Join the Comfort Zone“ kostenfrei zum Download angeboten werden, liegen eine Reihe von gewinnbringenden Einsatzmöglichkeiten des Spiels u.a. im Kontext der Unterrichtsfächer Deutsch, Ethik, Politik bzw. Gesellschaftskunde in den Klassenstufen 7 bis 9 nahe. Orientiert am Bildungsplan des Landes Baden-Württemberg zielen die Unterrichtsmaterialien auf das Vermitteln von Kompetenzen in den Bereichen Grundrechte und Demokratiebildung, philosophisches sowie ethisch-moralisches Denken, literarische Analyse sowie kreative Textproduktion ab. Lehrkräfte finden hier wichtige Grundlagen, um gemeinsam mit Schülerinnen und Schülern ein Verständnis für die Erzählformen im Serious Game, demokratische Prinzipien und ihre Anwendung im Alltag zu entwickeln.
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Aktivistin Lucia kritisiert gekonnt Staatsapparat und Sozialpunkte.
Aktivistin Lucia kritisiert gekonnt Staatsapparat und Sozialpunkte.
Die in den pädagogischen Handreichungen angeleitete Betrachtung der politischen Umwelt in „Join the Comfort Zone“ und die Übungen zur Konstellation der Hauptfiguren eignen sich als vorbereitende Grundlage für Unterrichtseinheiten zur politischen Bildung. Auch ohne diese Grundlegung bietet das Spiel – etwa in außerschulischen Kontexten – Anreize zum gemeinsamen Debattieren moralischer Entscheidungsfindung und autoritärer Regierungsmethoden. Empfehlenswert ist in Settings angeleiteten Spielens jedoch stets das gemeinsame, spielbegleitende Recherchieren von Informationen zu historischen und aktuellen autoritären Staatsformen, Überwachung und Sozialkreditsystemen (siehe Info-Boxen).
Mögliches UnterrichtsthemaDDR
Die Staatsform von Khans Heimat erinnert an das politische System der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Welche Parallelen in der erzählten Welt des Spiels zu ihrer zeitgeschichtlichen Vorlage zu finden sind, könnten Lernende idealerweise im Geschichtsunterricht im Zusammenspiel von Quellenarbeit und Spielerfahrung herausfinden.
Das „staatliche Sicherheitsamt“ im Spiel und das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der ehemaligen DDR sind sich schon im Namen sehr nahe; auch die Methoden und Zielsetzung beider Behörden ähneln sich. Als Startpunkt für die gemeinsame Betrachtung der Systeme bietet sich die Wirkung des Auftretens des Agenten Klimt zu Anfang der Handlung an. Sein Erscheinen erfüllt Khan mit Angst, weil er um die Machtfülle des Beamten weiß. Augenblicklich können in der Spielwelt Agenten wie Klimt Bürger- und Menschenrechte außer Kraft setzen; etwa das Recht auf Bewegungsfreiheit, Gesundheitsversorgung und Kommunikationsmittel. Mit einer ähnlichen Machtfülle war auch das MfS in der ehemaligen DDR ausgestattet. Interner Link: Bürgerinnen und Bürger mussten grundsätzlich jederzeit mit der Willkür des SED-Regimes und seines Geheimdienstes rechnen. Die Spielerfahrung kann in Einklang mit der Betrachtung des MfS ein Bewusstsein schaffen für den Stellenwert einer demokratischen, transparenten Gewaltenteilung, die vor menschenrechtsverletzender Machtausübung schützt.
Die Methoden des staatlichen Sicherheitsamts im Spiel zielen auf das Zersetzen der (demokratischen) Solidarität in der Bevölkerung ab, indem u.a. Denunziation belohnt wird: In „Join the Comfort Zone“ können Spielende Punkte im Sozialkredit-System mit dem Bespitzeln und Anzeigen unangepasster Personen verdienen – allein der Versuch bringt Punkte auf das Konto. Das Denunzieren ergänzt – im Spiel wie in der ehemaligen DDR – die persönliche und technisch unterstützte Überwachung bestimmter Bürger, mittels derer dauerhaft die Privatsphäre verletzende Aufzeichnungen seitens der Behörden erstellt wurden. Die Kultur der Überwachung hatte in der DDR mit zuletzt über 100.000 „Inoffiziellen Mitarbeitern“ ein alltägliches Gesicht; in Kontrast dazu steht die Stilisierung Klimts als Spezialagenten.
Mögliches UnterrichtsthemaVolksrepublik China
In der VR China werden verschiedene Systeme, die „Vertrauenswürdigkeit“ messen, belohnen und sanktionieren sollen, seit Ende der 90er-Jahre mit Fokus auf digitale Datenanalyse erforscht, lokal getestet und implementiert. 2014 kündigte das Ein-Parteien-Regime unter Führung Xi Jinpings an, bis zum Ende des Jahrzehnts landesweit ein einheitliches Sozialkredit-System zu etablieren. Das ähnelt der Regierungsführung des Staats in „Join the Comfort Zone“ immens; für die politische Bildung im Unterricht bietet sich ein Verbund zwischen Spielerfahrung und Recherche zur VR China an.
So kann das Setting des Spiels, ein autoritäres Ein-Parteiensystem mit Social Scoring als dynamischem Herrschaftsmittel, seine Wirkung zugunsten des politischen Lernens entfalten. Das Sozialkredit-System und die in Teilen faschistische Parteiideologie im Spiel wird umgesetzt durch eine gewalttätige und willkürlich handelnde Geheimpolizei, dem staatlichen Sicherheitsamt: Passt die eigene Kultur, Weltanschauung oder Identität nicht zur staatlich verordneten Homogenität, sind Gewaltausübung, Überwachung durch staatliche Akteure sowie Bespitzelung auch durch Privatleute und Ausschluss von Möglichkeiten sozialen Aufstiegs an der Tagesordnung.
Join the Comfortzone Screenshot7
Hotelier und Aktivist Alex trägt seit einer Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt eine Narbe, sein Partner Peter verlor wegen seiner Homosexualität sämtliche Sozialpunkte.
Hotelier und Aktivist Alex trägt seit einer Auseinandersetzung mit der Staatsgewalt eine Narbe, sein Partner Peter verlor wegen seiner Homosexualität sämtliche Sozialpunkte.
Spannend macht den Spielverlauf die spürbaren Auswirkungen unseres Handelns. Denn im dargestellten fiktiven Staat sind noch kleine Reste demokratischer Freiheiten vorhanden. Der Staat übersieht bisher offenbar Soziale Medien und Privaträume, es existieren noch Bewegungsfreiheit und Überbleibsel kritischen Denkens. „Join the Comfort Zone“ stärkt, idealerweise eingebettet in ein passendes Unterrichts- oder Vermittlungskonzept, ein Bewusstsein für den Wert dieser bedrohten demokratischen Freiheiten. Insbesondere, wenn wir das Spiel als politisches Gedankenexperiment spielen, was passiert, wenn wir uns am Abbau demokratischer Nischen und Artefakte beteiligen und die ernüchternden Konsequenzen erleben: Wenn wir die Fahndung nach unserer Schwester selbst im TV verkünden, den Agenten unterstützen und nonkonforme Personen im Rock-Club anzeigen, werden die Folgen unserer Handlungen spätestens im Abspann des Spiels sichtbar.
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Bleibt Khan loyal zur Staatsführung, bekommt er Unterstützung vom Agenten Klimt und einer Kollegin.
Bleibt Khan loyal zur Staatsführung, bekommt er Unterstützung vom Agenten Klimt und einer Kollegin.
Der opportunistisch gespielte Khan vertritt die Haltung, dass dieses Verhalten nur vernünftig ist. Ihm zufolge kann man sich das System taktisch aneignen, es ist zum individuellen Vorteil spielbar. Auf diesem Pfad kennt er keine Skrupel, erkennt rationale Regeln als Substitut von Gerechtigkeit an. Perfide aber: Die Statusstufen, die Khan durch konformes Verhalten erreichen kann, entpuppen sich als leere Versprechungen. Selbst mit fast sehr vielen Sozialpunkten verliert Khan im Nachgang der Handlung seinen Job – allein durch seine Verwandtschaft zu einer Systemkritikerin. Entgegen dem Verständnis der Bürger garantiert das Sozialkreditsystem in „Join the Comfort Zone“ keinen bürgerrechtlich abgesicherten Status und eine Freiheit vor staatlichen Übergriffen und Fremdbestimmung. Wegen der faschistischen Ideologie der Staatspartei sind die Chancen, an die Punkte im System zu gelangen, zudem von Anfang an ungleich verteilt.
Fazit
Im Serious Game „Join the Comfort Zone“ treffen Spielende für den jungen Erwachsenen Khan Jankowsky Entscheidungen in schwierigen Situationen, die sich günstig oder negativ auf seinen Status im Sozialpunkte-System seiner autoritär regierten Heimat auswirken. Fast immer ist dabei die moralisch integre Wahl diejenige, die vom System sanktioniert wird. Belohnt werden stets Handlungen, die die faschistische Staatspartei gutheißen würde. Wann ist Khan, wann sind wir bereit, Status gegen Moral aufzuwiegen? Die mitreißende Handlung zeigt diese Konsequenzen mal augenblicklich, mal erst am Ende eines Entscheidungspfades. Das motiviert zum mehrmaligen Durchspielen, Durchdenken und gemeinsam Diskutieren.
Für den Einsatz in der politischen Bildung ist das Spiel von großem Wert, da es schonungslos die Konsequenzen unserer Entscheidungen für Khan und seine Mitmenschen, aber auch für die Reste demokratischer Kultur im zunehmend autoritären Staat des Spiels aufzeigt. Die Vermittlung weiterführenden Wissens um politische Systeme, die historisch oder aktuell ähnliche Regierungsformen und Tendenzen zum „Messen“ von Verhalten zeigten bzw. aufweisen, kann die Lerneffekte für junge Menschen deutlich vertiefen.
Wilke Bitter (M.A. Medien- und Filmwissenschaften) arbeitet als Medien- und Filmpädagoge, Projektmanager, Journalist & Autor bei der Stiftung Lesen und entwickelt dort unter anderem film- und medienpädagogische Unterrichtsmaterialien.