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Info 04.09 Nadia (Kopftuchdebatte) | Jugendliche zwischen Ausgrenzung und Integration | bpb.de

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Info 04.09 Nadia (Kopftuchdebatte)

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Nadia Mourad Osman ist 25 Jahre alt und Referendarin in Hessen - und trägt als gläubige Muslimin ein Kopftuch. Sie versucht zwischen den Kulturen zu vermitteln - auch wenn sie nach ihrem zweiten Staatsexamen aufgrund des Kopftuchs - zumindest in Hessen - vielleicht nie eine Stelle bekommen wird.

"Sie brauchen die Schuhe nicht auszuziehen. Wir sind da nicht so..." Nadia Mourad Osman spricht den Satz nicht zu Ende. So was? So orientalisch? So muslimisch? Nadia gibt sich alle Mühe, nach außen den Anschein zu vermitteln, ganz normal zu sein. Normal heißt in diesem Fall, nichtmuslimisch und nichtorientalisch.

Die 25-Jährige, deren Vater aus dem Libanon und deren Mutter aus Berlin stammt, winkt ihren Besuch ins Wohnzimmer. Auf dem niedrigen Couchtisch steht liebevoll arrangiert ein Weihnachtsgesteck. Es duftet nach Zimtsternen. Dazu gibt es Filterkaffee. Sie erzählt als Allererstes, dass sie gerade mit den Schülern ihrer Englischklasse Weihnachten durchnimmt. "Wieso ich das mache?" fragt sie, "na, ganz klar: wegen der Jahreszeit". Sie grinst. Nadia ist eine ganz normale Referendarin an einer ganz normalen Hauptschule im Odenwald.

Das Einzige, was sie heraushebt: Sie braucht gar nicht darüber nachzudenken, ob sie nach ihrem zweiten Staatsexamen einen Job als Lehrerin bekommt. Nadia trägt Kopftuch, und das dürfen Lehrerinnen in Hessen nicht. Da helfen auch die verschiedenen Sorten selbstgebackener Plätzchen auf dem Weihnachtsteller nicht und nicht die entwaffnende Fröhlichkeit, mit der sie anderen Menschen begegnet. Nadia erzählt ihre Geschichte und grinst dabei, lacht, als wäre es alles ein großer Witz.

"Wenn ich fertig bin, dann brauche ich mich in Hessen gar nicht erst zu bewerben. Ich probiere es in Rheinland-Pfalz, wo es ja im Moment noch erlaubt ist. Dann muss man mal schauen. Einerseits ist die ganze Situation sehr traurig, auf der anderen Seite ist es auch so lächerlich. Die Begründung für das Verbot ist, dass ich durch mein Kopftuch zeige, dass ich Muslima bin, und dann nicht mehr neutral sein kann. Aber die Schüler sind nicht so dumm. Die merken doch ganz schnell, wie jemand ist, egal was der Lehrer anhat. Da geht es darum, ob der Lehrer gerecht ist, ob er einem hilft, ob man im Lehrer eine Bezugsperson hat.

Ein wichtiger Wert, den wir vermitteln wollen, ich sage einmal wir, der deutsche Staat, ist doch Toleranz bei den Kindern. Ein anderer Aspekt ist die Integration. Das sind zwei Punkte, die man als Lehrerin mit Kopftuch sehr viel besser repräsentieren kann, als wenn man - ich sag' mal - Prototyp deutsche Lehrerin ist. Die Schüler lernen Toleranz, denn sie müssen die Lehrerin als anders Aussehende respektieren. Genauso wie sie feststellen, dass die Lehrerin mit ihnen ganz normal Themen wie Weihnachten behandelt, ohne immer herauszustellen: Ich glaube aber nicht daran. Das gehört zu den Fähigkeiten eines Lehrers, seine eigene Position zurückzunehmen. Das ist doch eine gute Chance zu vermitteln: Ein Lehrer ist ein Lehrer, egal, wie er aussieht. Ich könnte ja als muslimische Mutter auch etwas dagegen haben, wenn meine Kinder von einer Lehrerin unterrichtet werden, die einen Ausschnitt trägt, bei dem man das Gefühl hat, da fliegt gleich alles heraus. Jetzt mal krass ausgedrückt. Und dann zu der Sache mit der Integration: Wie will denn der Staat glaubhaft machen, dass er die Menschen integrieren will, wenn er gleichzeitig den Frauen mit Kopftuch jegliche Chance nimmt?

Es ist schon ein Druck auf mir, normal zu sein, aber ich bemühe mich lustig damit umzugehen. Ich versuche oft, den Leuten zu zeigen, wie lächerlich diese ganzen Ideen sind. Früher war das Kopftuch was Fremdes, aber nicht unbedingt etwas Schlechtes.

Das hat sich geändert, dadurch, dass in den Medien so viel darüber geschrieben wird. Jetzt ist es das Symbol der Unterdrückung. Das merkt man schon im täglichen Umgang. Viele denken, wenn sie eine Frau mit Kopftuch sehen, die muss irgendwie unterdrückt und geduckt sein. Ich wurde häufiger gefragt, ob ich nicht das Kopftuch abnehmen will. Das war mit dem Angebot verbunden, fest eingestellt zu werden, was ich sehr nett fand. Ich habe es in diesem Fall, da ich wusste, von wem es kam, nicht als Ködern empfunden, sondern positiv: Die Person hat mir das mit gutem Herzen gesagt.

Ich achte immer darauf zu lächeln. Und ich denke, wenn man provokativ Leute anlächelt, dann können die gar nicht anders, dann müssen die zurücklächeln. Es gibt ein bestimmtes Denken bei den bewusst muslimischen Mädchen: Wenn man stark ist, dann schafft man es, das Kopftuch zu tragen. Wenn man es nicht schafft, dann ist man nicht so stark.

An anderen Schulen sehe ich das schon, dass Mädchen durch ihre Familien gezwungen werden, das Kopftuch zu tragen. Sie ziehen es aus, bevor sie die Schule betreten, und legen es wieder um, bevor sie nach Hause gehen. Dieser Zwang ist ganz falsch, denn das Kopftuch ist im Islam eine ganz kleine Pflicht. Es gibt viel, viel wichtigere Sachen. Nur, das Kopftuch ist die einzige Pflicht, die man sieht. Das Gebet und den Glauben an Gott sieht man nicht von außen. Deswegen sollten die Eltern ihre Kinder doch erst einmal dazu erziehen, gute gläubige Menschen zu sein, bevor sie anfangen, das Kopftuch zu tragen.

Eine islamische Schule wäre nicht die Lösung für mein Jobproblem. Das ist nicht der Job, den ich will. Es könnte nur eine Übergangslösung sein, dass die Muslime eine eigene Schule gründen, um der Gesellschaft zu zeigen, dass sie etwas falsch gemacht hat, weil sie die Muslime eben nicht richtig integriert hat. Das wäre nur eine Zeichensetzung der Muslime, um zu zeigen: Schaut her, die Muslime hätten genauso wie alle anderen auch in Schulen unterrichten können, weil das nicht geklappt hat, sind wir gezwungen, in unseren eigenen Schulen zu unterrichten.

In den letzten Jahren sind die Muslime stärker in die Öffentlichkeit getreten. Sie zeigen: Es gibt Muslime in der deutschen Gesellschaft, und sie wollen teilhaben, sie wollen - wie die Deutschen auch - die Gesellschaft zum Positiven hin beeinflussen. Die Einsicht ist gekommen, dass auch die Muslime diese Aufgabe, jadie Pflicht haben, das Umfeld zum Besseren zu verändern. Wir sind da, wenn Bäume in der Stadt gepflanzt werden, wir sind da, wenn ein Kindergarten eingeweiht wird. Sicherlich hat der 11. September dabei auch eine gewisse Rolle gespielt: Die Leute wollen zeigen, dass der Islam mit dem Terror nichts zu tun hat.

Ich kann überhaupt nicht nachvollziehen, wieso jemand zum Selbstmordattentäter wird. Vielleicht ist es die absolute Verzweiflung, dass man da keinen anderen Ausweg mehr sieht. Da machtman etwas mit einer solchen Wucht, vielleicht weil man hofft, dass sich die Leute fragen: Was war denn da so schlimm, dass er so was macht?

Eine meiner Meinung nach bessere Lösung in diesem Fall wäre eine friedliche. Was wäre, wenn die Muslime aus der ganzen Welt loslaufen würden Richtung Palästina. Wenn sie einfach immer weiterlaufen würden und so mit diesem Massenmarsch ein Zeichen setzen würden, was dort für ein Unrecht geschieht. Man würde vielleicht anfangs versuchen, sie aufzuhalten. Man könnte aber gegen Tausende von Menschen nichts unternehmen. Und man müsste einsehen, dass etwas geschehen muss. Hierzu müssten die vielen Muslime aber erst einmal von solch einer Lösung überzeugt werden.

Bei dem alten Problem des Sport- und Schwimmunterrichts, da verstehe ich nicht, wieso das nicht schon längst durchgesetzt ist. Das soll man doch einfach getrennt nach Jungen und Mädchen machen. Oder Klassenfahrten - da ist es bei muslimischen Eltern oft so, dass sie die Mädchen nicht mitfahren lassen. Bei den Vernünftigeren dürfen Mädchen und Jungen nicht mitfahren. Das war bei uns zu Hause auch so. Da durften meine Brüder auch nicht am Schwimmunterricht teilnehmen, weil sie da ebenso wenig islamisch korrekt gekleidet wären wie ich. Auch durften wir beide mit dem Hinweis: Ist nicht gut für dich, aber entscheide selbst - zu den Klassenfahrten mitfahren. Wir haben uns dann dagegen entschieden. Wenn die Jungs Sixpacks organisieren und abends bei den Mädchen aufs Zimmer kommen: Das war nicht die Gesellschaft, in der ich sein wollte.

Es wäre nicht mein Lösungsvorschlag, dass man nicht mitfährt, sondern dass die Schule anbietet, noch mehr Eltern mitzunehmen. Denn je mehr Erwachsene dabei sind, desto weniger trauen sich die Jugendlichen, etwas Falsches zu machen, und um so weniger wirkt ein gewisser Gruppenzwang, der das eigentliche Problem darstellt. Wäre dieser Gruppenzwang nämlich nicht vorhanden, müssten muslimische Eltern nicht Angst haben, dass ihre Kinder etwas tun, was nicht in ihrem Sinne ist und was sie selbst ungern tun, nur um dabei zu sein und sich nicht als Außenseiter zu fühlen.

Wenn der Islam als Körperschaft anerkannt wäre, dann gäbe es viele der Probleme nicht. Wenn man allerdings sieht, welche Hürden den Muslimen in den Weg gelegt werden, bekommt manden Eindruck, dass die Politik verhindern will, dass sich die islamischen Organisationen einigen und eine einheitliche Vereinigung gründen, die dann als Ansprechpartner anerkannt werden kann. In Hessen wird beispielsweise verlangt, dass die Ahma-diya48 im Verband mitmacht. Die Ahmadiya wird aber von vielen Muslimen als Sekte angesehen. Da kann man doch vermuten, dass da eine Absicht dahinter steht. Wie heißt der römische Grundsatz: Teile und regiere.

Ich mache gerade Projektunterricht zum Thema Weihnachten. Nächste Woche ist Weihnachten, und außerdem fand ich das Thema für den Englischunterricht interessant, weil in England Weihnachten ganz anders gefeiert wird als in Deutschland. Da machen wir einen Vergleich. Manche muslimischen Kinder haben ein Problem, die Weihnachtslieder zu singen. Ich singe auch nicht gern, dass Jesus als Gottessohn geboren wurde. Ich singe dann das Lied und lasse den einen Satz aus." [...]

Aus: Gerlach, Julia: Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jungendliche in Deutschland, bpb, Bonn 2006, S.172-177

Fussnoten