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1986: Reaktorkatastrophe von Tschernobyl | Hintergrund aktuell | bpb.de

1986: Reaktorkatastrophe von Tschernobyl

Redaktion

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Am 26. April 1986 kam es im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl zur Reaktorexplosion. Die Katastrophe offenbarte die Gefahren der Atomenergie, die seit dem Reaktorunglück im japanischen Fukushima 2011 erneut diskutiert werden.

Ursache für den Unfall war ein Test, ob das Atomkraftwerk einen Stromausfall aushalten würde. Der Reaktor aber expoldierte. Sicherheitskräfte versuchten das Gelände noch am 26. April zu dekontaminieren. Die Bevölkerung in den naheliegenden Städten wurde erst nach Tagen informiert. (© picture-alliance / RIA Nowosti)

Die Explosion in einem Kernkraftwerk in der Nähe der Stadt Tschernobyl (damals Sowjetunion, heute Ukraine) in der Nacht zum 26. April 1986 war der bisher größte Unfall in einer Atomanlage. Während der Reaktor in Block 4 zu Instandhaltungs- und Prüfarbeiten abgeschaltet werden sollte, kam es zu einem technischen Fehler und der Reaktor explodierte. Gemäß der "International Nuclear and Radiological Event Scale" (INES), einer internationalen Bewertungsskala zur Einordnung von nuklearen und radiologischen Ereignissen, wird das Unglück mit der höchsten Stufe 7 und damit als katastrophaler Unfall bewertet.

Der Unfall passierte während eines Tests

Ursache für den Unfall war ein planmäßiger Test. Es sollte überprüft werden, ob der Reaktor auch bei einem allgemeinen Stromausfall noch genügend eigenen Strom produzieren könnte, um sicher abgeschaltet zu werden. Doch das Experiment schlug fehl, der Reaktorblock explodierte, große Mengen radioaktiven Materials drangen durch den von der Explosion abgehobenen Reaktorkerndeckel und das zerstörte Dach des Reaktorgebäudes in die Umwelt. Schwedische Messstationen registrierten bereits am Morgen der Katastrophe radioaktiven Niederschlag. Die Regierung in Moskau reagierte mit einer Informationssperre. Die Bevölkerung wurde erst Mitte Mai über das tatsächliche Ausmaß des Unfalls informiert.

Die Folgen des Unfalls waren fatal: Die Bevölkerung in unmittelbarer Umgebung des Reaktorgeländes war der Radioaktivität schutzlos ausgesetzt. Die Evakuierung aller Wohngebiete in einer 30-Kilometer-Zone um das Atomkraftwerk lief erst nach einer Woche an. Insgesamt wurden bis zu 350.000 Menschen evakuiert, umgesiedelt oder verließen das Gebiet auf eigene Initiative. Die sowjetische Führung schickte Hunderttausende so genannter Liquidatoren, also Helfer – unter anderem Feuerwehrleute, Busfahrer, Ärzte, Wehrpflichtige – in das Reaktorgebiet, um die Katastrophe einzudämmen.

Folgen der Katastrophe für Mensch und Umwelt

Durch Wind und Regen gingen in den Tagen nach der Katastrophe radioaktive Isotope auch über weiten Teilen Europas nieder. In Deutschland war insbesondere der Süden des Landes betroffen, wo heftige lokale Niederschläge zu einer Ablagerung des Radionuklids Cäsium-137 in den Böden führte. In einigen Gegenden Bayerns sind zum Teil Pilze, Wildschweine und Waldbeeren noch immer belastet.

Über die Zahl der Opfer und die Spätfolgen herrscht bis heute Uneinigkeit. Nach einem Bericht des "Tschernobyl Forums" der Internationalen Atomenergie-Behörde (IAEA), der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und anderen UN-Organisationen sowie den Regierungen von Russland, Belarus und der Ukraine von 2005 seien im Jahr des Unglücks lediglich 28 Bergungsarbeiter an akutem Strahlungssyndrom gestorben; drei weitere Kraftwerksangestellte waren demnach direkt bei der Explosion umgekommen. In Belarus, der Ukraine und in den vier am stärksten kontaminierten Gebieten Russlands wurden zwischen 1991 und 2005 rund 6.900 Schilddrüsenkrebserkrankungen festgestellt. Wie hoch die Todesrate an Krebserkrankungen, die unmittelbar auf die radioaktive Strahlung zurückgeht, insgesamt war, ist laut Bericht des Tschernobyl Forums unmöglich festzustellen. Die Internationale Agentur für Krebsforschung, eine Einrichtung der Weltgesundheitsorganisation, gab 2006 eine Studie heraus, die sich mit Krebserkrankungen in Europa in Folge der Tschernobyl-Katastrophe auseinandersetzt: Sie schätzt, dass bis 2065 16.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs sowie weitere 25.000 Krebserkrankungen infolge des Tschernobyl-Unglücks in Europa auftreten können. Dabei liegt der Unsicherheitsbereich bei 11.000 bis 59.000 Fällen. Laut Angaben des Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung (UNSCEAR) gebe es neben den Schilddrüsenkrebserkrankungen von Kindern und Jugendlichen, die der Strahlung ausgesetzt waren, keinen Hinweis auf einen größeren Einfluss auf die öffentliche Gesundheit. So gebe es keine wissenschaftlichen Belege für einen Anstieg der allgemeinen Krebs- oder Sterblichkeitsrate.

Umweltschutzorganisationen wie Greenpeace oder die Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) sehen darin eine massive Verharmlosung und gehen von wesentlich mehr Toten aus. Laut eines Berichts der IPPNW vom Januar 2016 kämen zu den Krebsfällen andere gesundheitliche Folgen, z.B. gutartige Tumore, kardiovaskuläre, respiratorische und psychische Krankheiten, sowie Störungen des Erbguts hinzu. Insbesondere zu den Folgen für die Liquidatoren gehen die Zahlen auseinander. Die IPPNW beziehen sich auf eine Studie Alexey Yablokovs aus dem Jahr 2009 und gehen von 112.000 bis 125.000 Menschen aus, die bis 2005 verstorben seien. Nach Angaben von UNSCEAR habe es 530.000 registrierte Bergungsarbeiter gegeben, von denen 28 unmittelbar nach der Katastrophe und 19 weitere bis zum Jahr 2004 verstorben seien, wobei es dafür verschiedene Gründe geben könne. Allerdings sei anzunehmen, dass es bei den übrigen "potenzielle Risiken für späte Konsequenzen wie etwa Krebs und andere Krankheiten" gebe, so der UNSCEAR.

Zivile Nutzung der Atomkraft nach Fukushima

25 Jahre nach Tschernobyl ereignete sich im März 2011 im japanischen Fukushima erneut ein schwerer atomarer Unfall. Daraufhin beschloss der Deutsche Bundestag im Juni desselben Jahres den Interner Link: Ausstieg aus der Atomenergie und die Wende zu erneuerbaren Energien. Bereits Mitte März 2011 hatte die Bundesregierung zunächst die Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke vorübergehend ausgesetzt. 2022 soll das letzte Atomkraftwerk vom Netz gehen.

Laut der Nuclear Energy Agency, einer Institution der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), waren in den OECD-Mitgliedstaaten Ende 2014 324 Atomreaktoren mit dem Netz verbunden, 18 weitere befanden sich im Bau. Im Vergleich zu 2013 ist die Energiegewinnung durch Kernkraftwerke in den OECD-Mitgliedstaaten 2014 um 1,4 Prozent gestiegen, während die Energiegewinnung insgesamt in diesem Zeitraum leicht zurückgegangen ist (0,3 Prozent). Laut der internationalen Nichtregierungsorganisation World Nuclear Association sind Interner Link: weltweit derzeit 440 kommerzielle Atomreaktoren in 31 Ländern in Betrieb, 65 weitere Anlagen würden derzeit gebaut (Stand: Januar 2016).

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