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Proteste nach Präsidentschaftswahl in Belarus | Hintergrund aktuell | bpb.de

Proteste nach Präsidentschaftswahl in Belarus

Redaktion

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Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus am 9. August haben die Behörden den Wahlsieg des autoritär regierenden Amtsinhabers Lukaschenka verkündet. Das hat die Proteste im ganzen Land verschärft.

Nach der Präsidentschaftswahl demonstrieren in Belarus Tausende Menschen gegen den autoritären Präsidenten Lukaschenka. Am 13. August 2020 gingen Frauen in Minsk aus Solidarität mit verhafteten und verletzten Aktivisten auf die Straßen und protestierten gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei: "Mein Bruder ist kein Krimineller“ steht auf dem Plakat. (© picture-alliance/AP)

In Belarus waren bis zum 9. August etwa 6,8 Millionen Menschen zur sechsten Präsidentschaftswahl seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 aufgerufen. Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka (russisch: Alexander Lukaschenko), der Belarus seit 1994 autoritär regiert, stellte sich erneut zur Wahl. In diesem Jahr wurden vier weitere Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl zugelassen: Andrej Dsmitryjeu, Hanna Kanapazkaja, Sjarhej Tscheratschen und Swjatlana Zichanouskaja (russisch: Swetlana Tichanowskaja).

Internationale Expertinnen und Experten bewerten Wahlen in Belarus regelmäßig als weder frei noch fair. Auch das nach der Wahl verkündete Ergebnis halten Beobachterinnen und Beobachter für gefälscht: Nach offiziellen Angaben der belarussischen Wahlkommission hat Lukaschenka die Wahl mit 80,2 Prozent der Stimmen für sich entschieden, seine Rivalin Swjatlana Zichanouskaja komme auf 9,9 Prozent der Stimmen, die übrigen rund 10 Prozent teilten sich die weiteren Oppositionskandidatinnen und -kandidaten. Die Wahlbeteiligung wurde mit 84 Prozent angegeben.

Proteste gegen Lukaschenka

Umfragen deuteten jedoch auf ein anders gelagertes Meinungsbild in Belarus hin, so etwa eine Studie des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) oder Nachwahlbefragungen verschiedener Organisationen, die allerdings nicht repräsentativ sind. Eine neutrale Wahlbeobachtung war wegen staatlicher Repressionen in Belarus nicht möglich. Bereits Wochen vor der Wahl hatten Tausende in der Hauptstadt Minsk und weiteren belarussischen Städten gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten protestiert oder sich bei Wahlkampfveranstaltungen der Präsidentschaftskandidatin Swjatlana Zichanouskaja versammelt.

Nach der Verkündung der Wahlergebnisse nahmen die Proteste im ganzen Land zu. Die Opposition erkannte das Wahlergebnis nicht an, sondern forderte eine Neuauszählung der Stimmen. Tausende Menschen demonstrieren seit dem Wahltag auf den Straßen. Auch Arbeitskollektive in wichtigen Staatsbetrieben wie den Belarussischen Eisenbahnen streikten. Die belarussische Regierung reagierte mit Wasserwerfern und Tränengas, Lukaschenka bezeichnete die Proteste als vom Ausland gesteuert. Mindestens 6.700 Demonstrierende wurden offiziellen Angaben zufolge festgenommen, viele von ihnen einige Tage später wieder freigelassen. Mindestens zwei Aktivisten kamen ums Leben. Swjatlana Zichanouskaja floh ins Nachbarland Litauen.

Herausforderin Swjatlana Zichanouskaja bei einer Wahlkampfveranstaltung in der Stadt Brest (Belarus). (© picture-alliance/AP, Sergei Grits)

Welche Bedeutung hat die Wahl in Belarus?

In den vergangenen Jahrzehnten galten Wahlen für Amtsinhaber Lukaschenka oft nur als formaler Akt der Bestätigung seiner Macht. Die Präsidentschaftswahl in diesem Jahr stand jedoch unter anderen Vorzeichen. In Teilen der Bevölkerung herrscht große Unzufriedenheit über die Politik Lukaschenkas. Im Frühjahr lehnte er strenge Eindämmungsmaßnahmen gegen die Interner Link: Covid-19-Pandemie ab und bezeichnete das Coronavirus als "Psychose". Folglich ließ Lukaschenka auch weiterhin Massenveranstaltungen zu. Zum 75. Jahrestag des Sieges der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg ließ er am 9. Mai eine Parade abhalten, bei der Tausende Soldatinnen und Soldaten ohne Mundschutz durch Minsk marschierten. Strenge Kontaktbeschränkungen wie in anderen Ländern gab es in Belarus bisher nicht.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation gab es in Belarus bisher etwa 7.200 Covid-19-Infektionen pro eine Million Einwohnerinnen und Einwohner. Das sind auf die Gesamtbevölkerung gerechnet weit mehr als beispielsweise in Russland, Großbritannien oder Italien. Es spricht einiges dafür, dass Lukaschenkas Kurs in Teilen der Bevölkerung für Unmut gesorgt hat. In einer internationalen Studie gaben 86,4 Prozent der belarussischen Befragten an, die Regierung habe unzureichend auf die Pandemie reagiert (Deutschland: 37,4 Prozent). Zur Unzufriedenheit trägt auch die wirtschaftliche Lage bei: Die Einschätzung der persönlichen wirtschaftlichen Lage als "schlecht" hat seit dem Beginn der Pandemie deutlich zugenommen. Kritikerinnen und Kritikern zufolge entschied sich Lukaschenka gegen einen Lockdown, weil dem Land die die nötigen Finanzreserven fehlten, um anschließend eine Öffnung der Wirtschaft zu finanzieren.

Wie wird in Belarus gewählt?

Der belarussische Präsident wird laut Verfassung direkt vom Volk gewählt. Bekommt kein Kandidat im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen, findet ein zweiter Wahlgang statt. Sowohl im ersten als auch im zweiten Wahlgang muss die Wahlbeteiligung mindestens 50 Prozent betragen, damit das Ergebnis gültig ist. Wahlberechtigte können ihre Stimme schon mehrere Tage vor der Auszählung abgeben. Diese Regelung wurde bereits bei der letzten Präsidentschaftswahl kritisiert, weil es bei der vorzeitigen Stimmabgabe und Auszählung an Transparenz fehle.

Eine Kandidatin oder ein Kandidat für das Präsidentenamt muss mindestens 35 Jahre alt sein und 100.000 Unterschriften sammeln, um antreten zu können. Eine Amtszeit dauert fünf Jahre. Ursprünglich war es nicht möglich, länger als zwei Wahlperioden zu amtieren. Im Jahr 2004 stimmten jedoch nach offiziellen Angaben 77 Prozent der belarussischen Wahlberechtigten in einem Referendum für eine Verfassungsänderung, die weitere Amtszeiten von Lukaschenka möglich machte. Das Gallup-Institut vermutete damals, dass die Wahlbeteiligung in Wahrheit unter 50 Prozent lag.

Externer Link: Wahlen in Belarus werden von internationalen Missionen immer wieder als nicht frei und nicht fair bewertet. Die Interner Link: OSZE schrieb in ihrem Bericht über die Präsidentschaftswahl von 2015, dass es zu Problemen bei der Stimmauszählung gekommen sei. Generell bemängelte die OSZE unter anderem auch die Zusammensetzung der Wahlkommission, die Zulassung von nur einer regierungskritischen Kandidatin oder einem regierungskritischen Kandidaten und die Tatsache, dass auch der Wahlkampf unter unfairen Bedingungen stattgefunden hätte, beispielsweise bei der Wahlkampffinanzierung und beim Zugang zu Massenmedien. In diesem Jahr hat die OSZE keine Wahlbeobachtungsmission nach Belarus entsendet, da die Organisation keine formale Einladung erhalten habe.

Wer stand zur Wahl?

Der 65-jährige Aljaksandr Lukaschenka trat zum sechsten Mal zu einer Präsidentschaftswahl an. Proteste gegen seine Herrschaft wurden wiederholt gewaltsam niedergeschlagen. Lukaschenka hatte bereits in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) Karriere gemacht und war zum Zeitpunkt der belarussischen Unabhängigkeit im Jahr 1991 mit 36 Jahren Abgeordneter des Obersten Sowjets der Teilrepublik.

Präsident seit 26 Jahren: Aljaksandr Lukaschenka wendet sich wenige Tage vor der Wahl in seiner Rede zur Lage der Nation an die Öffentlichkeit. (© picture-alliance/dpa, BelTA | Andrey Pokumeiko)

Swjatlana Zichanouskaja wurde 1982 geboren. Sie studierte Pädagogik, danach arbeitete sie unter anderem als Übersetzerin. Ihr Mann Sjarhej ist ein bekannter Videoblogger, der auf seinem Youtube-Kanal unter anderem die Korruption in Belarus thematisierte. Er wurde am 29. Mai verhaftet. Zichanouskaja wurde jedoch zur Wahl zugelassen. Um sie herum entstand binnen weniger Wochen eine sehr erfolgreiche Kampagne. Das Programm der politisch Unerfahrenen beinhaltete drei Kernforderungen: die Freilassung von politischen Gefangenen, ein Referendum über die Rückkehr zur Verfassung von 1994 und freie Wahlen binnen sechs Monaten.

Ursprünglich galt Wiktar Babaryka als aussichtsreichster Oppositionskandidat. Er wurde jedoch nicht zur Wahl zugelassen und sitzt seit Juni unter dem Vorwand, er habe kriminelle Finanzgeschäfte betrieben, in Haft. Der ebenfalls aussichtsreiche Kandidat Waleryj Zapkala reichte 160.000 Unterschriften ein, von denen jedoch 75.000 für ungültig erklärt wurden, weshalb er nicht zur Wahl zugelassen wurde.

Drei weitere Kandidatinnen und Kandidaten kandidierten wie alle Oppositionellen nahezu chancenlos um das höchste Amt in der Republik Belarus: Andrej Dsmitryjeu (Leiter der Bewegung "Sag die Wahrheit"), die ehemalige Parlamentsabgeordnete Hanna Kanapazkaja sowie Sjarhej Tscheratschen, Vorsitzender der Partei "Belarussische Sozialdemokratische Gesellschaft".

Wie reagiert die EU auf die Entwicklungen in Belarus?

Bereits vor der Wahl hatte sich die Europäische Union besorgt über Repressionen in Belarus geäußert und die Regierung von Lukaschenka aufgerufen, alle politischen Aktivistinnen und Aktivisten freizulassen, die in den vergangenen Monaten "willkürlich verhaftet" worden seien.

Angesichts der Proteste verurteilten EU-Ratspräsident Charles Michel und Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Gewalt gegen Demonstrierende und forderten Belarus zu einer Überprüfung des Wahlergebnisses auf.

Auch die deutsche Bundesregierung reagierte mit Kritik auf die Wahlergebnisse und das gewaltsame Vorgehen der belarussischen Sicherheitskräfte. Außenminister Heiko Maas kündigte an, Sanktionen gegen Belarus zu prüfen. Der litauische Präsident Gitanas Nausėda und Polens Präsident Andrzej Duda schlugen einen Vermittlungsplan vor, um die Gewalt in Belarus zu beenden.

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